Die Seleção startet heute gegen Kroatien in das WM-Turnier und will die Skepsis vieler Landsleute einfach wegspielen. Sieben Jahre hatte Brasilien Zeit zur Vorbereitung.
Sao Paulo. Auf zur „Hexacampeão“, also dem sechsten Titelgewinn: Mit einer Gala will Gastgeber Brasilien Milliarden Fußball-Fans an den Fernsehschirmen im WM-Eröffnungsspiel gegen Kroatien (22 Uhr/ZDF) verzaubern und den ersten Schritt zum sechsten Titel machen. Die Favoritenrolle hat der fünffache Weltmeister längst angenommen, die riesige Erwartungshaltung im eigenen Land soll die Samba-Kicker eher beflügeln als lähmen. „Auch wenn es weitere Anwärter auf den Titel gibt wie Spanien, Deutschland oder Argentinien. Unter Felipe Scolari hat das Team eine Identität gewonnen. Unsere Fans können sicher sein: 23 Krieger werden sich für die Seleção zerreißen und wollen den Titel holen“, versicherte Stürmerstar Neymar.
Damit das gelingt, wurde in der Vorbereitung in den Hügeln von Teresopolis nichts dem Zufall überlassen. Auf der Anhöhe über dem Trainingsgelände bildeten Blumen die brasilianische Flagge und das Wappen des Fußballverbandes, das Städtchen wurde mit gelb-grünen Devotionalien geschmückt, die Grußschilder mit Porträts von Neymar, David Luiz oder einem der anderen Stars verzierten. Am Rande eines Nationalparks, gut eine Stunde von Rio de Janeiro entfernt, hat sich das Team von Luiz Felipe Scolari auf seine historische Mission vorbereitet. Bestaunt und nicht weiter belästigt von ein paar gut situierten Hausbesitzern, deren Grundstücke ebenfalls auf dem Gelände liegen.
Am Donnerstag wird Brasiliens Nationalelf auf eine andere Realität ihres großen Landes treffen, ein bisschen jedenfalls. Natürlich werden in Sao Paulo Kohorten von Polizei- und Militäreinheiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft dafür sorgen, dass der Mannschaftsbus sanft durch den infarktösen Verkehr der 20-Millionen-Einwohner-Metropole geleitet wird, in der wegen eines Streiks der Metro-Bediensteten dieser Tage bis zu 239 Kilometer Stau gemessen wurden.
Und natürlich werden ihnen in der gerade noch zurechtgeflickschusterten Arena Itaquerao die zumeist privilegierten Fans zujubeln, die also, die sich solche Tickets leisten können. Aber vielleicht wird es dahinter dennoch in dem einen oder anderen Moment durchschimmern: dieses Gefühl zwischen Wut und Resignation, das so erstaunlich viele Brasilianer bewegt, wenn es dieser Tage um die WM geht.
Sieben Jahre hatte Brasilien Zeit zur Vorbereitung. Brasilien, das Land des Fußballs. Brasilien, der aufsteigende Riese. Die Menschen haben große Hoffnungen gehabt, dann kam der Zorn über die gigantischen Kosten, über Korruption, über gebrochene Versprechen, und voriges Jahr beim Konföderationen-Pokal kamen die Massendemonstrationen. Da gab es wenigstens die Hoffnung, dass anlässlich des Fußballs ein neues Gemeinschaftsgefühl erwachsen würde, eines, das nicht bloß Tore bejubelt, sondern die Politik zu einem Reformprozess zwingt, der endlich die Probleme in Infrastruktur, Gesundheitswesen, Erziehung und Sicherheit angehen würde. Doch seither ist wenig passiert. Die Staus sind noch länger, die Bahnstrecken immer noch nicht fertig, die Probleme die alten, die Demonstrationen kleiner, die Konfrontationen gewalttätiger. Was dieser Monat jetzt bringen wird, vermag noch niemand vorherzusagen.
Womöglich ja: einen Weltmeistertitel. In Teresopolis äußerte sich Luiz Gustavo, der Nationalspieler vom VfL Wolfsburg, zur Stimmung im Land. Er trägt einen Schnauzbart und Ohrringe, aber auch das ändert nichts daran, dass er für die Brasilianer der größte Nobody unter den Stammspielern ist. Ohne einmal in der Ersten Liga aufgelaufen zu sein, wechselte er mit 19 nach Europa, zu Hoffenheim. Ähnliche Biografien gibt es immer häufiger im Nationalteam. Am Stammtisch heißt es, das habe das Volk vom Team entfremdet.
Wir müssen die Leute mitnehmen, sagt Wolfburgs Luiz Gustavo
Luiz Gustavo sagt, er könnte nicht glücklicher sein. Er gehöre zu der Gruppe, die den Traum von Millionen Brasilianern wahr machen könne, den WM-Sieg auf eigenem Boden. Aber Luiz Gustavo sagt auch, es werde nötig sein, dass die Mannschaft die Leute mitnehme, sie infiziere. Darauf hoffen auch die Organisatoren, der Weltverband Fifa, die brasilianische Politik. Es ist so etwas wie die letzte Chance. Und es wäre ja nicht das erste Mal, dass alle Kritik vor einem Großereignis im patriotischen Taumel ertrinkt.
Natürlich werden heute auch Brasilianer zu sehen sein, die sich freuen, die trennen zwischen dem Fußball und seinen ungeliebten Begleitumständen. Die bereit sind, sich verführen zu lassen, etwa von Neymar. Geleitet der 22-Jährige die Elf zum Titel, dann wird er der große Held sein, als den ihn seine Dutzenden Werbepartner oder die Fernsehsender und Zeitungen des omnipräsenten Globo-Konzerns schon jetzt in der Endlosschleife präsentieren. Nationaltrainer Felipe Scolari ficht die ganze Kritik jetzt ohnehin nicht mehr an. Er setzt auf die Unterstützung von 200 Millionen Brasilianern und auf jene Mannschaft, die im vergangenen Jahr im Endspiel des Confederations Cups Weltmeister Spanien mit 3:0 aus dem Maracanã jagte. Die immensen Erwartungen an sein Team sind dadurch weiter gestiegen. Aber, so weiß Scolari: „Es werden etwas mehr als 30 Tage sein, wo man Opfer bringen muss. Aber wenn wir Weltmeister werden, genießen wir es 1430 Tage – bis zur nächsten Weltmeisterschaft.“
Versagt das Team, werden er und Neymar für Hype ohne Substanz stehen – wie eines dieser überteuerten, danach unbrauchbaren Stadien –, für alles, was schiefläuft in dem Spiel, das viele Brasilianer nicht mehr als das ihre betrachten und dessen wichtigste Messe sie noch nie mit so wenig Begeisterung angegangen sind wie diesmal zu Hause.
Brasilien, Land des Fußballs. Brasilien, Anti-WM-Land. Ein paradoxes Turnier steht bevor, eines mit offenem Ende. Für die Nationalelf und für eine ganze Nation. Die fraglos gute Nachricht: Endlich geht es los!
Brasilien: César – Alves, Luiz, Silva, Marcelo – Luiz Gustavo, Paulinho – Hulk, Oscar, Neymar – Fred. Kroatien: Pletikosa – Srna, Corluka, Schildenfeld, Vrsaljko – Modric, Rakitic, Kovacic, Perisic, Eduardo – Olic. Schiedsrichter: Nishimura (Japan).