In der Erfolgsbilanz des Bundestrainers fehlen die Titel. Will er wieder Liebling der Nation werden, bleibt ihm nur eine Möglichkeit: Weltmeister werden.
Santo André. Joachim Löw ist abergläubisch. Zumindest ein bisschen. Immer muss er in Reihe 1, Platz A sitzen. Auch die Seitenwahl vor den Spielen verfolgt der Bundestrainer sehr angespannt. Und sogar sein glücksbringender Kaschmirpullover brachte es bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Südafrika zu nationaler Berühmtheit. In Brasilien hofft Löw nun auf ein Ungeheuer. Natürlich kein echtes. Ein aus Holz geschnitztes Biest, das am Eingang seines Bungalows in Santo Andrés Campo Bahia neben der Fußmatte aufpasst und all das Böse und Unglück dieser Welt vertreiben soll.
Ganz schön viel Arbeit für so ein kleines Holzungeheuer.
Denn ausgerechnet der Mann, der es noch vor der letzten Weltmeisterschaft 2010 bei einer „Spiegel“-Suche nach den vorbildlichsten Deutschen auf den dritten Rang schaffte und der zwei Jahre davor bei einer Umfrage der „Bild am Sonntag“ auf der Liste der vertrauenswürdigsten Persönlichkeiten Deutschlands auf Platz zwei gelandet war – geschlagen nur von Moderator Günther Jauch –, hatte zuletzt so gar kein Glück mehr. Ein allgemeines Vorbild ist Löw spätestens seit dem Verlust seines Führerscheins wegen Raserei nicht mehr. Und Vertrauen in seine sportlichen Entscheidungen haben die Deutschen in den Bundestrainer mit dem besten Punkteschnitt aller Zeiten auch nicht mehr. Schuld daran ist allerdings nicht sein zu offensiver Fahrstil, sondern seine zu defensive Taktik beim letzten großen Turnier. Und besonders seine Reaktion danach.
Taktik-Guru Löw hatte an diesem milden Juniabend vor zwei Jahren im EM-Halbfinale gegen Italien in Warschau hoch gepokert – und dabei alles verloren. Kroos, Podolski und Gomez rein, die zuvor so starken Reus, Schürrle und Klose raus. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Deutschland verlor 1:2 gegen die Squadra Azzurra – und „Bild“ fragte am Tag danach in großen Buchstaben: „Werfen Sie hin, Herr Löw?“
Es ist nicht so gekommen, 710 Tage später ist Herr Löw noch immer da. Die Welt im Allgemeinen dreht sich weiter, aber die Welt der Deutschen bleibt konstant. Angela Merkel regiert das Land seit 2005, Joachim Löw ist sogar schon seit 2004 Deutschlands Fußball-Staatsoberhaupt. Zunächst zwei Jahre lang als Jürgen Klinsmanns Taktikhirn, dann, von 2006 an, als Alleinherrscher. Die WM in Brasilien ist das fünfte Turnier des Badeners, sein viertes als Cheftrainer der Nationalmannschaft. Nur diesmal fragt sich ganz Deutschland schon vor dem ersten Anstoß: Wird es sein letztes Turnier?
Ungeachtet aller Diskussionen in der Heimat scheint Löw den abenteuerlichen Trip ans andere Ende der Welt zu genießen. Auf dem Sonderflug LH2014 von Frankfurt nach Salvador genehmigte sich der 54 Jahre alte Fußballlehrer ein Glas Champagner. Und nach der Ankunft mit der Fähre am Anleger von Santo André zückte der sonst zurückhaltende Espresso-Liebhaber sein Handy und filmte begeistert den herzlichen Empfang der Dorfgemeinschaft.
Auf einen ähnlich freundlichen Empfang in der Heimat darf Löw wohl nur dann hoffen, wenn er in Brasilien das scheinbar Unmögliche möglich macht: Er muss das wichtigste Turnier der Welt gewinnen. Wenn die deutsche Auswahl wider Erwarten bereits in der Vorrunde ausscheiden würde, sagte Löw vor einigen Tagen, „dann wäre eine Veränderung nötig“.
Was er nicht sagte: Auch bei einer Niederlage im Achtel-, Viertel- oder Halbfinale und möglicherweise gar im Endspiel wäre eine Trennung trotz seines vor einem Jahr verlängerten Vertrags bis 2016 wahrscheinlich.
Nur: Warum eigentlich?
Vielleicht weil Löw die geballte und teils auch brutale Kritik nach dem EM-Aus vor zwei Jahren nie so richtig verstehen und schon gar nicht überwinden konnte. Doch als er zwei Monate nach der Pleite bei seinem ersten öffentlichen Auftritt mit einem 25-Minuten-Monolog in Frankfurt zum Gegenschlag ausholte, schüttelten nicht nur Medienvertreter und Fans den Kopf. Auch der eine oder andere Funktionär von Deutschem Fußball-Bund (DFB) und Deutscher Fußball-Liga (DFL) hätte sich durchaus ein bisschen mehr Reue gewünscht.
Von echter Demut war aber auch nach dem geschichtsträchtigen 4:4-Unentschieden in der WM-Qualifikation gegen Schweden nicht viel zu sehen, als Löw im Oktober 2012 am Spielfeldrand hilflos mit den Armen rudernd mit ansehen musste, wie sein Team binnen Minuten auseinanderfiel und eine 4:0-Führung verspielte.
Fortan stand Löw unter Beobachtung. Bei den Medien. Bei den Fans. Und bei den Funktionären. Letztere tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass der Wahl-Freiburger zwar gern über den großen Fußball philosophiere, sich aber an den Wochenenden überwiegend in den für ihn bequem zu erreichenden Arenen von Stuttgart, Hoffenheim und dem heimischen SC Freiburg herumtreibe.
Auch der Zeitpunkt, an dem Löws Führerscheinverlust bekannt wurde, sorgte intern für mächtig Ärger. „Wenn jemand meint, es sei moralisch verwerflich: gut“, sagte Löw lakonisch im Interview mit dem „Spiegel“. Dass er doch besser Monate vor der WM-Vorbereitung den Fauxpas von sich aus hätte öffentlich gemacht, sagte er nicht.