Abendblatt-Sportchef Peter Wenig beschäftigt sich mit Schalkes Kevin Kuranyi, der in der Liga Top-Torschütze ist, aber kein Nationalspieler.
Hamburg. Mitunter ist ein Blick in die Statistik doch hilfreich. Etwa in der Frage der Nominierung der WM-Stürmer. Das Zahlenwerk der aktuellen Saison zeigt, dass Kevin Kuranyi für Schalke bis dato mehr Treffer (17) erzielt hat als die gesetzten Nationalstürmer Mario Gomez (10), Klose (2/beide FC Bayern) und Lukas Podolski (2/1. FC Köln) zusammen.
Als Fußballexperte wird Löw zugestehen müssen, dass Kuranyi derzeit der beste deutsche Stürmer ist, zumal er auch noch sechs Tore vorbereitete. Als Bundestrainer verweigert Löw dem Schalker dennoch jede Comeback-Chance.
Nur zur Erinnerung: Kuranyi hat kein Spiel verschoben, keine Fans beleidigt, keine Schiedsrichter bepöbelt. Mit seinem Vergehen hat er sich letztlich nur selbst geschadet. Eigenmächtig, zutiefst frustriert über die Verbannung auf die Tribüne, hatte er im Oktober 2008 beim Länderspiel gegen Russland vorzeitig sein Team verlassen. Löw verhängte spontan die Höchststrafe, schloss eine Nominierung Kuranyis während seiner Amtszeit als Bundestrainer definitiv aus.
Wer über diesen Fall urteilt, sollte auch die Vorgeschichte kennen. Bereits vor der WM 2006 erlebte Kuranyi unter Löw, damals Assistent von Jürgen Klinsmann, den bittersten sportlichen Moment seiner Karriere. Auf der Zielgeraden wurde er noch ausgebootet - beim Sommermärchen blieb ihm nur die Zuschauerrolle.
Das Déjà-vu-Erlebnis gegen Russland führte zu einer Kurzschlussreaktion, für die sich Kuranyi inzwischen fast im Wochentakt öffentlich entschuldigt. Dennoch bleibt Löw weiter hart, wohl auch aus Furcht, sein Gesicht zu verlieren, wenn er diese Entscheidung revidieren sollte. Dabei ist das Gegenteil richtig: Es wäre eine beeindruckende Geste, wenn Löw die Entschuldigung annehmen und die Suspendierung zurücknehmen würde. Kuranyi hat schließlich lange genug gebüßt.
Die Begnadigung wäre auch in Löws Interesse. Die Leistungen von Miroslav Klose und Lukas Podolski reichen derzeit kaum für die Bundesliga. Mario Gomez laboriert noch an den Folgen eines Muskelfaserrisses. Sollte der deutsche WM-Sturm in Südafrika versagen, würde sich Löw die Frage gefallen müssen, warum er den besten Torjäger daheim ließ. Nur dann wäre es zu spät.