Hamburg. Auf welches Konzept die beiden Städte setzen, welcher Standort die Favoritenrolle hat und wie der Status quo ist. Eine Analyse.

Am Nachmittag des 12. April 2003, einem Sonnabend, warten 50.000 Menschen hoffnungsvoll auf dem Rathausmarkt vor einer riesigen Videowall auf die Entscheidung aus München. Die Enttäuschung ist schließlich riesengroß, sie mündet in einem Aufschrei des Entsetzens, als nicht Hamburg, sondern Leipzig, vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Zuge des Aufbaus Ost politisch favorisiert, vom Nationalen Olympischen Komitee (NOK) den Zuschlag erhält, sich um die Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2012 bewerben zu dürfen.

Die wohl für Jahrzehnte größte Chance, Olympia nach Deutschland zu holen, war damit wider besseres Wissen vergeben. Die Sachsen fielen, wie befürchtet und vorab kommuniziert, ein Jahr später schon bei der technischen Vorauswahl der Kandidaten durch. Die Stadt habe mit ihren rund 600.000 Einwohnern nicht die Größe, damit auch nicht die notwendige Infrastruktur für die Spiele, hieß es vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC).

Hamburg, mehr als dreimal so groß, hätte alle Kriterien erfüllt und wäre mit seinem Konzept der Spiele der kurzen Wege ein ernsthafter Konkurrent für Paris und London gewesen. Die Briten setzten sich am Ende knapp gegen die Franzosen durch.

Deutschland startet den nächsten Versuch der Olympia-Bewerbung – mit Hamburg

Jetzt startet der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), in den im Jahr 2006 das NOK aufging, den nächsten Versuch. Es ist der achte nach den Spielen 1972 in München, die vergangenen sieben gingen schief. Zuletzt scheiterte die erneute Kampagne Hamburgs am 29. November 2015 mit 48,4 zu 51,6 Prozent am Votum der Bevölkerung. An diesem Sonnabend nun will die DOSB-Mitgliderversammlung in Saarbrücken beschließen, dass der Sportbund in einen „kontinuierlichen Dialog“ mit dem IOC und dessen Experten über die Olympiavergabe eintreten soll, um sich nach einem ausgiebigen Prüfverfahren im nächsten Schritt als offizieller Kandidat für die Spiele 2036, 2040 oder 2044 der Entscheidung der IOC-Exekutive zu stellen. Die Zustimmung der Spitzen- und Landesverbände gilt als sicher.

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München gilt mit seiner Infrastruktur aktuell als aussichtsreichster Bewerber für Deutschland. © Imago

Bis Mitte nächsten Jahres will der DOSB dann mit seinen Gremien beschließen, welches Bewerbungskonzept er seiner Mitgliederversammlung voraussichtlich im Dezember 2025 zur finalen Abstimmung stellt. Vier Optionen scheint es derzeit zu geben, mit dem Deutschland in die internationale Ausscheidung gehen könnte: Berlin plus eine weitere Stadt (Leipzig oder Hamburg), München plus Umgebung, Rhein-Ruhr (NRW) und Berlin mit Hamburg. Die größten Aussichten werden momentan München attestiert. Dort sind die meisten Sportstätten vorhanden, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) trommelt bereits kräftig für seine Landeshauptstadt.

Doppelbewerbung von Hamburg und Berlin gegen München

Hamburg und Berlin wäre die gemeinsame Bewerbung der beiden größten Städte Deutschlands. Als chancenlos gilt Rhein-Ruhr. „Die Welt kennt die Weltstädte München und Berlin. Aber ob einzelne Städte im Ruhrgebiet und am Rhein international vergleichbar sind und eine Faszination wie Paris und London haben, ist doch fraglich“, sagte Söder kürzlich.

Der DOSB hat jetzt beschlossen, dass der ehemalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) den Prozess begleitet. Er ersetzt den bisherigen Vorstandsvorsitzenden Torsten Burmester (SPD), der nach seiner Bürgermeisterkandidatur in Köln vom DOSB-Präsidium in dieser Woche wegen möglicher Interessenkonflikte freigestellt wurde.

Hans-Jürgen Schulke: „Die Welt wartet nicht auf eine deutsche Bewerbung“

Ob Berlin, München oder Hamburg – die Welt wartet allerdings nicht auf eine deutsche Olympiabewerbung. „Geopolitisch erleben wir gerade tektonische Verschiebungen, die in den Sport hineinwirken“, sagt Prof. Hans-Jürgen Schulke (79), der 2003 als Sportdirektor in Hamburg die hiesige Kampagne mit initiierte. „Indien hat als aufstrebende Macht eine Bewerbung für 2036 beschlossen, arabische Staaten bieten sich auch zu Winterspielen als bereichernde Veranstalter an, Ägypten oder Nordafrika könnten einen Versuch über die neue Seidenstraße wagen.“ Deutschland habe nicht nur Freunde in einer zunehmend machtpolitisch geprägten olympischen Familie – Ukraine, Israel und USA forcierten fragile Allianzen von der EU bis in die Uno. „Und im Bundeshaushalt soll die ohnehin minimale Förderung des Sports in Entwicklungsländern weiter gekürzt werden.“

Olympia
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke (79) leitete 2003 als Sportdirektor in Hamburg die Olympia-Kampagne. © Witters | Valeria Witters

Vor diesem Hintergrund, sagt Schulke, sei ein provinziell geprägtes Wünschen für ein deutsches Olympia verfrüht. Die Klärung des international geeigneten Standorts, breite Zustimmung in der Politik, Vereinen und Bevölkerung, eine überzeugende sportpolitische Botschaft für die Stärkung der olympischen Bewegung – sorgfältige Analysen, durchdachte Strategien, stabile Allianzen und eine begeisternde Inszenierung sind geboten. Das alles fehle im Moment. „Gelingt dies aber kompetent und beharrlich, muss die großartige Idee vom Weltfest Olympia in Deutschland kein Wunsch bleiben.“

Kritik an Thomas Bach und moralische Inszenierungen schaden einer deutschen Bewerbung

Skepsis bleibt angebracht. Olympische Sommerspiele waren weltweit noch nie so begehrt wie in diesen Jahren. Aufstrebende Staaten wie Malaysia, Polen, Ungarn, Türkei, Indonesien, Chile und Katar haben ebenfalls bereits ihr Interesse an der Ausrichtung Olympias in den nächsten zwei Jahrzehnten bekundet. In den internationalen Sportverbänden hat Deutschland jedoch an Einfluss verloren.

„Anerkannte Persönlichkeiten wie Walther Tröger und Willi Lemke sind verstorben, der in der internationalen Sportwelt hochgeschätzte Thomas Bach wird im Frühjahr nicht wieder als IOC-Präsident antreten. In wichtigen Sportarten ist Deutschland personalpolitisch nicht mehr in der ersten Reihe vertreten“, sagt Prof. Schulke. Hinzu käme der diplomatische Offenbarungseid während der Fußball-WM 2022 in Katar, als sich Politik und DFB als letzte moralische Instanz zu inszenieren versuchten. Das sei bis heute nicht vergessen. Zudem, sagte jetzt IOC-Präsident Bach, sei Deutschland momentan kein Kandidat, weil russische und weißrussische Sportlerinnen und Sportler von Veranstaltungen hierzulande ausgeschlossen seien, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vergangenes Jahr dekretierte. Die Bundesregierung habe „die politische Neutralität des Sports zuletzt im Vorwege der Spiele von Paris verletzt“, sagte Bach. „Man kann die Spiele aber nur an ein Land vergeben, in dem die gastgebende Regierung nicht bestimmt, welche Athleten an den Spielen unter welchen Voraussetzungen teilnehmen dürfen.“

Hamburg arbeitet bereits an einem Konzept

Für Deutschland wiederum spräche seine international geschätzte Organisationskompetenz, die Sportbegeisterung im Land, zuletzt nachgewiesen bei der Fußball-Europameisterschaft in diesem Sommer (trotz Pannen bei der Bahn) und bei den Special Olympics World Games im Juni 2023 in Berlin. Und im Gegensatz zur gescheiterten Hamburger Bewerbung für die Spiele 2024 und 2028 hat die Bundesregierung diesmal ein klares Bekenntnis für Olympia abgegeben und finanzielle Zusagen gemacht, auch CDU/CSU unterstützen eine Kandidatur. Und: Nach einer jüngsten Umfrage befürworten 71 Prozent der Bevölkerung Spiele hierzulande. In Hamburg sind es immer noch rund 60 Prozent, 2003 waren es 90 Prozent.

Sitzung der Exekutive des IOCs
Der Deutsche Thomas Bach (70) ist seit 2013 Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Kommendes Jahr endet seine Amtszeit. © DPA Images | Jean-Christophe Bott

Die Stadt tritt bereits in inhaltliche Vorleistung. Vom DOSB gab es widersprüchliche Signale, welches Bewerbungskonzept das IOC befürworte – was ohnehin auch davon abhängen dürfte, wer kommendes Jahr in Bachs Nachfolge an der Spitze stehen wird. Zu den sieben Kandidaten soll es aus Deutschland bislang nicht zu nennenswerten Kontaktaufnahmen gekommen sein, um Präferenzen auszuloten. Andere Nationalverbände haben bereits fleißig Lobbyarbeit betrieben. Eben drum will sich Hamburg weitgehend unabhängig davon machen und hat ein eigenständiges Konzept in Arbeit, um sich gemeinsam mit Berlin durchzusetzen.

Olympisches Dorf soll im Landkreis Prignitz aufgebaut werden

Die Pläne sollen vorsehen, möglichst viel bestehende Infrastruktur zu nutzen, nachhaltige sowie effiziente Spiele zu veranstalten, und als Herzstück ein olympisches Dorf im Landkreis Prignitz auf halber Strecke beider Metropolen. Mit der dann modernisierten ICE-Trasse soll die Strecke in 30 bis 45 Minuten in beide Richtungen zu bewältigen sein. Mit Landrat Christian Müller gab es Gespräche dazu, der SPD-Politiker war Feuer und Flamme für Olympia, da sich sein Landkreis perspektivisch an beide Metropolregionen andocken will.

Handball
Sport- und Innensenator Andy Grote (56/l.) und Sportstaatsrat Christoph Holstein (61/beide SPD) arbeiten an einem Hamburger Bewerbungskonzept. © Witters | Tim Groothuis

Auf Ebene der Innen- und Sportbehörden ist der Austausch zwischen Hamburg und Berlin ebenfalls rege. Da die finanziellen Ressourcen der Hauptstadt derzeit beschränkt sind, ließe es sich gut argumentieren, dass die Hansestadt einen Teil der Last schultert, um mit ihrer vorhandenen Sportinfrastruktur Olympische Spiele zu ermöglichen.

100-Meter-Finale auf dem Jungfernstieg? Theoretisch vorstellbar

Vor allem die in Hamburg geförderten und etablierten Sportarten wie Beachvolleyball und Hockey könnten hier stattfinden; Triathlon und Radsport durch die Expertise bei singulären Großereignissen; Handball oder Basketball in einem dann existierenden Elbdome. Beim Rudern dürfte die Entscheidung zwischen Allermöhe und den Revieren in Brandenburg fallen. Das IOC regt zudem an – siehe Paris –, nicht in Normen zu denken. Theoretisch wäre das 100-Meter-Finale auf dem Jungfernstieg möglich.

Volksparkstadion
Im Volksparkstadion könnten in einem mobilen Becken die olympischen Schwimmwettbewerbe ausgetragen werden. © dpa | Christian Charisius

Doch zuvor müssen sich Hamburg und Berlin kommendes Jahr national durchsetzen, wenn der deutsche Bewerber gekürt werden soll. Dass Hamburg bei den Olympischen und Paralympischen Spielen in Paris keinen „Hamburger Abend“ im Deutschen Haus ausrichtete, verstimmte manche DOSB-Granden. Die zwei „Berliner Abende“ dagegen waren voll allem eines: teuer. 168.000 Euro ließ sich das Land Berlin die repräsentative Veranstaltung kosten, die inhaltlich wenig Substanzielles liefert.

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Hamburgs Sport- und Innensenator Andy Grote und Sportstaatsrat Christoph Holstein (beide SPD) nutzen ihren Aufenthalt in Frankreich stattdessen dafür, sich international zu vernetzen. Sie trafen sich mit den Chefs von sieben Sportweltverbänden. Die dabei gewonnenen Informationen fließen in das Bewerbungskonzept ein. Alles mit der Hoffnung, an einem Nachmittag in nahender Zukunft auf dem Rathausmarkt die Rückkehr von Olympia nach Deutschland zu feiern.