Hamburg. Vor einem Jahr steckte der deutsche Fußball in der Krise. Nun haben Trainer und Team die Wende geschafft und verbreiten Optimismus.
Es ist nicht zu beweisen, aber auch nicht unwahrscheinlich, dass Olaf Scholz in diesen Wochen ein wenig neidisch auf Julian Nagelsmann blickt, also so von Bundeskanzler auf Bundestrainer. Wir erinnern uns: In den Umfragen rangierten die Werte von Deutschlands Fußballern Ende 2023 nach den Niederlagen gegen die Türkei und in Österreich noch auf ähnlich niedrigem Niveau wie die der genauso herumrumpelnden Ampelkoalition. „Der DFB ist so im Arsch“, überzogen die Fans der Alpenrepublik die Nationalelf genüsslich mit derben Schmähgesängen.
„Wir waren am Boden“, gab Nagelsmann selbst nach dem 1:1 in Ungarn, dem letzten Länderspiel des Jahres, zu. Waren. Denn ein Jahr später haben er und sein Team die Stimmung komplett gedreht. Längst haben die Deutschen ihre Mannschaft, die 2024 nur einmal (im EM-Viertelfinale gegen Spanien) als Verlierer vom Platz ging, wieder in ihr Herz geschlossen. Nagelsmann genießt das uneingeschränkte Vertrauen der DFB-Führung und hat der Basis unverhofften Optimismus auf eine goldene Zukunft geschenkt.
Nagelsmann: Anfangszeit von vielen Problemen geprägt
„Wenn solch eine Wende im Sport möglich ist, dann sicher auch in der Politik“, könnte sich der Kanzler trotzig einreden. In der Theorie. In der Praxis erscheint das Ziel, ein ähnlich schnelles Comeback zu feiern wie Nagelsmann und seine Spieler, aber eher wie eine unlösbare Aufgabe.
Was der Bundestrainer innerhalb kürzester Zeit erreicht hat, wirkt rückblickend so naheliegend, fast einfach – war es aber nicht. Der damals 36-Jährige musste sich als Nachfolger von Hansi Flick anfangs mit einer ganzen Horde an Problemjungs herumschlagen, angefangen bei Joshua Kimmich, für den es bei den Bayern gar nicht lief. Sogar ein Wechsel zu Paris St. Germain stand im Raum. Und heute? Als Kapitän unantastbar, absolvierte der 29-Jährige in Budapest sein 97. Länderspiel. Wann verlängert er? Knackt Kimmich den Rekord von Lothar Matthäus? Das sind die aktuellen Fragen. Auch so eine Entwicklung, die niemand vorherzusagen wagte.
Der größte Erfolg Nagelsmanns ist es sicher, ein neues Wir-Gefühl initiiert zu haben. Dabei schreckte er vor unbequemen Entscheidungen nicht zurück und sortierte (weitgehend geräuschlos) altgedientes Personal aus. Der öde Verwaltungsfußball, die Angst vor dem Handeln, fehlender Mut – wie verflogen. Im Vordergrund von Analysen stehen die Zauberstücke des Duos Jamal Musiala und Florian Wirtz, die erfrischende Gier der ganzen Mannschaft nach Toren, nach Dominanz, nach Erfolg.
Nationalmannschaft: nicht nur Zauberfußball, sondern Arbeit
Mindestens genauso wichtig ist jedoch ein anderer Aspekt: Anders als noch vor einem Jahr wird Fußball wieder gemeinsam gearbeitet, wie es nicht nur ein Robert Andrich exzellent vorlebt. Die Rückkehr einer lange vermissten deutschen Fußballkultur, die auch der deutschen Politik so guttäte.
Und damit doch noch einmal ein Querpass zur Politik: Wenn die Hauptprotagonisten angesichts trotz des verpassten Titels bei der Heim-EM sehr erfolgreichen Fußballjahres nicht abheben, sondern demütig auch Fehler benennen und von Weiterentwicklung sprechen, um im Wettbewerb mit den Besten bestehen zu können, tut das nicht nur gut, sondern regt zum Nachmachen an. Ein selbstbewusstes Auftreten UND Selbstkritik schließen sich eben nicht aus, liebe Politikerinnen und Politiker.
Überhaupt: Mit dem Verteilen des Prädikats Weltklasse sollten wir trotz aller Euphorie vorsichtig sein, das trifft nicht den aktuellen Leistungsstand und wäre auch kontraproduktiv hinsichtlich der WM 2026. Um dort große Ziele zu erreichen, braucht es keine Lobeshymnen wie nach einem 7:0 gegen verhuschte Bosnier. Sondern realistische Einschätzungen und planvolles, gemeinsames Handeln.
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Und noch etwas Erstaunliches hat die Nationalelf geschafft: Die Lust an der anfangs verachteten Nations League zu wecken. Fast unter geht dabei die Belastung der Spieler durch die Flut an aufgeblähten Wettbewerben. Sollte die deutsche Mannschaft im Juni in das Final Four der Nations League einziehen, droht den Spielern von Bayern München und Borussia Dortmund eine Mammutsaison, schließlich folgt fast direkt danach noch die Club-WM in den USA.
Ein Kimmich beispielsweise könnte am Ende auf rund 60 Pflichtspieleinsätze innerhalb einer Saison kommen. Ein Wahnsinn. Aber sich freiwillig auswechseln zu lassen, das mag der DFB-Kapitän gar nicht. Zumindest das eint ihn mit dem Bundeskanzler.