Hamburg. Das Abendblatt hat in der Szene recherchiert. Hamburgs Fußballboss Okun: „Anfälligkeit für Spielmanipulationen ist nationales Problem“
Am Sonnabendnachmittag fand auf der altehrwürdigen Adolf-Jäger-Kampfbahn ein Krimi statt. Eine Reihe eingeweihter Fans unter den 1100 Anhängern schaute nicht mehr auf den Rasen, auf dem der amtierende Meister Altona 93 im Oberligaspiel gegen Aufsteiger SC Vorwärts-Wacker-Billstedt (4:0) seine Tabellenführung verteidigte. Altonas Anhänger beobachteten stattdessen einen Mann, der als Datenscout die Spielgeschehnisse in Echtzeit weitergab, damit bei Wettanbietern im Internet Live-Wetten auf die Begegnung abgeschlossen werden konnten.
Wettskandal: Anzeige für Datenscout durch Altona 93
Der Vorstand von Altona 93 rief die Polizei. „Die Polizei sagte uns, sie habe gerade zu viel zu tun“, so Altonas stellvertretender Vorsitzender Ragnar Törber. Also verwies Altona 93 den Mann Anfang der zweiten Hälfte selbst aus dem Stadion.
„Er bekommt eine Anzeige und ein Hausverbot“, erklärte Törber. Als der Mann weg war, traf Altona ins Tor. Bei 22bets.me/de und 20bets.com/de – zwei Anbietern mit deutscher Domain und deutschsprachigen Webseiten – wurden die Glücksspieler über Altonas Tore nicht mehr informiert. Ohne den Datenscout im Stadion war jeglicher Datenstrom zu Altonas Spiel abgebrochen.
Datenscout? Datenstrom? Live-Wetten in Echtzeit? Aufgrund der Erkenntnisse der letzten Tage ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, was dem guten, alten Amateurfußball gerade angetan wird? Dem Gegenentwurf zum fast komplett durchkommerzialisierten Profifußball.
Bier, Bratwurst, ein Schnack mit dem Nachbarn beim Spiel – und auf dem Rasen jagen durchaus ambitionierte Amateurspieler, die man meist sogar persönlich kennt, dem Ball hinterher. Das ist die Idylle. Doch sie hat mächtige Risse bekommen.
17 Fußballspiele stehen unter Manipulationsverdacht
Die Geschehnisse in Altona sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Am Freitag hatte die „Hamburger Morgenpost“ mit einer starken und intensiven Recherche aufgedeckt, dass 17 deutsche Fußballspiele, darunter auch Partien der Oberliga Hamburg, im Verdacht der Wettmanipulation stehen.
Zwar sind auch Begegnungen aus der 3. Liga darunter, hauptsächlich handelt es sich jedoch um Partien aus viertklassigen Regionalligen und fünftklassigen Oberligen – und damit um Amateurfußballspiele.
Die Ergebnisse der Spiele sollen dem Bericht der „Hamburger Morgenpost“ zufolge in einem verborgenen Bereich des Internets (Darknet) vorab verkauft worden sein. Spieler sollen Begegnungen ihrer Teams absichtlich manipuliert haben, damit die gewünschten Ergebnisse eintrafen. Zur Freude der im Voraus informierten Glücksritter im Internet, die auf diese Weise mit ihren Wetten bei den Wettanbietern abkassieren konnten.
Polizei hat Ermittlungen aufgenommen
Die Polizei im Saarland hat im Auftrag der Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen, das Hessische Landeskriminalamt ebenso. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat das Bundeskriminalamt eingeschaltet. In Hamburg laufen bislang noch keine Ermittlungen.
„Bei den genannten 17 Spielen schauen wir zusammen mit dem DFB auf die Details. Daraus wird es möglicherweise weitere Handlungsbedarfe geben. Anschließend werden wir die Ergebnisse mit den Vereinen besprechen.“
„Noch ist die Analyse aber nicht abgeschlossen. Das erwarte ich in etwa zwei Wochen, da unterschiedliche Ligen betroffen sind und die Datenlage kompliziert ist“, sagt der Präsident des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV) Christian Okun. Und: „Wir haben es bei der Anfälligkeit für Spielmanipulationen durch Wetten mit einem nationalen Problem zu tun.“
HFV will das Gespräch mit den Amateurvereinen suchen
Erst kürzlich hatte Okun illegalen Sportwetten öffentlich den Kampf angesagt und betont nun, der HFV wolle in Zusammenarbeit mit dem DFB konsequent allen vorliegenden Fällen nachgehen. Doch Okun will im Bereich des HFV noch mehr.
„Der Verband wird mit Vereinen sprechen und dafür sensibilisieren, das bestehende Wettverbot für ihre Amateurfußballer weiterhin unmissverständlich zu kommunizieren. Schon wer dieses Verbot bricht, sollte angezeigt werden und nicht mehr für seinen Club auflaufen dürfen. Die Gefahren von Spielmanipulationen sind viel zu groß. Zu einem Gespräch werden wir zeitnah einladen.“
Kicken für ein paar Hundert Euro
Die Zeit eilt, weil es im Amateurfußball eben nicht das ganz große Geld zu verdienen gibt. Viele Amateurfußballspieler in ganz Deutschland kicken für ein paar Hundert Euro im Monat. Oder sie bekommen gar nichts dafür.
Da mittlerweile auf fast alles gewettet werden kann, sind schon 1000 Euro für eine gezielt manipulative Aktion auf dem Rasen – zum Beispiel das Verursachen eines Elfmeters in der Nachspielzeit – ein lockender Lohn.
Wetten auf Amateurfußballspiele sind verboten
Doch warum sind Wetten auf Amateurfußballspiele überhaupt möglich? Immerhin sind sie laut dem aktuell gültigen Glücksspielstaatsvertrag in Deutschland verboten. Eine vorläufige Antwort: Das deutsche Recht ist national, das World Wide Web international.
Der DFB führt dies in seiner Antwort auf eine Anfrage des Abendblatts am Beispiel seiner Partnerschaft zum Wettanbieter „Interwetten“ wie folgt aus: „Der DFB möchte klarstellen, dass sein offizieller Partner ,Interwetten‘ keine Wetten auf Spiele im deutschen Amateurfußball anbietet.“
In Spanien kann man wetten
In einer ARD-Dokumentation „Angriff auf den Amateurfußball“ wurde jedoch aufgedeckt, dass es durch die Nutzung eines illegal installierten Virtual Private Networks (VPNs) möglich ist, über die spanische Firma „Interwetten Malta“ Wetten auf den deutschen Amateurfußball abzuschließen, weil in Spanien die Platzierung von Wetten auf deutsche Amateurspiele nicht verboten ist.
Eine europaweit harmonisierte Regelung der nationalen Wettmärkte gibt es nicht. Gemäß dem Glücksspielstaatsvertrag sind Wetten auf den Amateurfußball in Deutschland verboten, und die Aufsicht darüber obliegt der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder (GGL) in Halle.
„Internetwetten Malta“ hat Sitz nicht in Deutschland
Da zum Beispiel die Firma „Interwetten Malta“ ihren Sitz und ihre Server nicht in Deutschland hat und der Zugriff aus Deutschland nur über einen VPN erfolgen kann, sind die zuständigen deutschen Aufsichtsbehörden rechtlich nicht befugt und auch praktisch häufig nicht in der Lage, gegen solche Anbieter auf der Basis des deutschen Rechts vorzugehen.
Hier besteht eine Vollzugslücke, die nur der Gesetzgeber schließen kann. Der DFB arbeitet mit allen zuständigen staatlichen Stellen zusammen, um sicherzustellen, dass die Integrität des sportlichen Wettbewerbs gewahrt bleibt und illegales Glücksspiel nicht stattfindet.“
Sponsor hält Antwort des DFB für wenig überzeugend
Für wenig überzeugend hält Hannes Beuck diese Antwort. Der Rechtsanwalt und Mitgründer der Firma Gamesright, die sich um die Rückzahlung von Einsätzen an Geschädigte kümmert, die bei illegalen Sportwetten oder Online-Casinos Geld verloren haben, sponsert seit dieser Saison als Namensgeber mit seinem Unternehmen die nun so benannte Gamesright Oberliga Hamburg.
„Alle Wettanbieter sind verpflichtet, sich den Wohnort ihrer Spieler nachweisen zu lassen. Wettet jemand mit Wohnort in Deutschland, muss der Anbieter deutsches Glücksspielrecht einhalten. Er darf ihm insbesondere keine Wetten auf den deutschen Amateurfußball anbieten, da dieser leicht zu manipulieren ist“, sagt Beuck.
Wohnort des Spielers zählt
Und weiter: „Dieses Verbot gilt auch dann, wenn sich der Spieler vorübergehend im Ausland aufhält, beispielsweise im Urlaub, oder wenn er ein VPN nutzt. Für Wettanbieter hat die Internetadresse ebenso wenig Bedeutung wie ihr eigener Unternehmenssitz. Was zählt, ist allein der Wohnort des Spielers.“
Der Anwalt erklärt: „Gamesright unterstützt seit Jahren betroffene Verbraucher, denen von Anbietern verbotene Wetten angeboten wurden, wozu auch Interwetten gehört. Dies gilt jetzt umso mehr, wenn Verbraucher dadurch Opfer von Wettbetrug geworden sein sollten. Der HFV hat bereits ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt für mehr Fairness im Amateursport.“
Anwalt fordert DFB zum Handeln auf
Beuck hat eine klare Meinung: „Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass jetzt auch der DFB und die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder handeln müssen, denn der Sport lebt von Fairness auf und neben dem Platz.“
Auch der früher spielsüchtige Thomas Melchior, mittlerweile als Tippgeber Helfer für Amateurfußballvereine in ganz Deutschland bei der Enttarnung von Datenscouts auf Sportplätzen, um Live-Wetten zu unterbinden (Abendblatt berichtete), ist enttäuscht von der Antwort des DFB.
Tippgeber kritisiert den DFB
„Ich verstehe nicht, wie der DFB schreiben kann, die Integrität des Wettbewerbs solle gewahrt bleiben. Die Integrität des Wettbewerbs ist aktuell gar nicht mehr gegeben und muss erst mal wiederhergestellt werden. Und da muss der DFB mehr tun, als nur auf die Behörden zu verweisen.“
Melchior hat HFV-Präsident Christian Okun für den Hamburger Amateurfußball seine Hilfe öffentlich angeboten. Okun wollte dieses Angebot auf Abendblatt-Nachfrage unkommentiert lassen.
Live-Wetten versprechen hohe Quoten
Melchior beobachtet den internationalen Markt der Wettanbieter und sieht die Live-Wetten, die oft für ungewöhnliche Spielereignisse hohe Quoten versprechen, als das schlimmste Übel und die größte Gefahr für Spielmanipulationen an. Zu unterscheiden sind bei den Live-Wetten nach Abendblatt-Recherchen zwei Arten von Firmen.
Da sind zum einen die Datenscouts, die die Grundlage für die Live-Wetten liefern, in denen sie auf den Sportplätzen die Spielereignisse in Echtzeit weitergeben. Und zwar an Firmen wie Real Time Sportscast (Webseite-Slogan: „Premium Data for Unique Sports“) oder Stats Perform („There‘s Magic in the Detail of Sport“).
Wird gegen deutsches Recht verstoßen?
Die von den Firmen gesammelten Daten werden den Wettanbietern zur Verfügung gestellt. Nur: Wie stellen sowohl die Datensammler als auch die Wettanbieter sicher, dass mit ihren Daten beziehungsweise ihren Wettangeboten nicht gegen geltendes deutsches Recht verstoßen wird?
Wettanbieter beantworten Anfrage nicht
Das Abendblatt wollte es genau wissen und fragte Real Time Sportscast und Stats Perform, wie sie dafür sorgen, dass die von ihnen zur Verfügung gestellten Daten ordnungsgemäß verwendet werden. Reaktionen: keine.
Außerdem recherchierten wir mit 22bets.me und 20bets.com zwei Wettanbieter, die nur vordergründig keine deutsche Domain im Titel aufweisen. Sobald die Seite aufgerufen wird, befinden sich die Benutzer auf 22bets.me/de und 20bet.com/de.
Anbieter ohne Reaktion
Wir konfrontierten die beiden Anbieter mit unseren Rechercheergebnissen, nach denen Partien der Oberliga Hamburg sich bei ihnen mit Live-Wetten im Angebot befanden, und baten um eine Stellungnahme dazu. Zusätzlich fragten wir die beiden Anbieter, warum ihre Seiten deutschsprachig seien und sich damit auch an deutsche Nutzer wendeten. Reaktionen: ebenfalls keine.
Das ist der Punkt, an dem die deutsche Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder (GGL) in Halle tätig werden müsste. Immerhin geht es bei den Wetten auf Amateurfußballspiele um einen Teil eines riesigen Milliardenmarktes.
7,72 Milliarden Euro durch Wetten
Der Deutsche Sportwettenverband bezifferte die Höhe der Einsätze auf Sportwetten insgesamt im Jahr 2023 auf 7,72 Milliarden Euro. Die GGL wirkte in der aufrüttelnden ARD-Dokumentation „Angriff auf den Amateurfußball“ vor wenigen Wochen mit der Thematik allerdings inhaltlich recht überfordert.
Obwohl diese durchaus nicht nur außerhalb ihres Zugriffsbereichs liegt, wie die Recherchen beweisen. Die Perspektive, dass die Glücksspielbehörde sich Expertise beschafft, intensiv ins Thema einsteigt und dort sanktioniert, wo es geboten ist, notfalls eben mit Lizenzentzügen, ist hoffentlich nicht vergebens.
Der Kampf gegen die Datenscouts
Tippgeber Melchior sieht jedoch einen anderen Weg als noch entscheidender an: die Bekämpfung der Live-Wetten durch Enttarnung der Datenscouts. Auch der DFB, der seit 2019 mit der Firma Genius Sports zusammenarbeitet, um die Überwachung der Wettmärkte zu verbessern, sieht hier einen wichtigen Hebel für die Amateurfußballvereine, um sich zu wehren.
„Intern prüft der DFB zudem, wie Vereine durch niedrigschwellige Maßnahmen unterstützt werden können. Beispielsweise können Vereine jederzeit von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und Personen, die im Verdacht stehen, unerlaubte Wetten zu platzieren bzw. Live-Daten des jeweiligen Spiels für Wettanbieter bereitzustellen, vom Gelände verweisen“, schreibt der Verband.
Auch Hamburgs Fußballboss Okun pflichtet bei, ist für eine klare Kante: „Datenscouts haben auf Hamburger Sportanlagen nichts zu suchen. Ich rate jedem Verein, weiter wachsam zu sein und die Personen konsequent von den Sportanlagen zu verweisen.“
Oberligameister Altona 93 beispielsweise hat laut dem stellvertretenden Vorsitzenden Törber ein entsprechendes Verbot für das Sammeln von Live-Daten schon länger in seiner Hausordnung stehen. Jeder Verein, bei dem dies ebenso ist, besitzt zunächst einmal eine rechtliche Grundlage für die Ausübung des Hausrechts in der Form, wie Altona 93 es nun getan hat.
Dabei genügt laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe aus dem Jahr 2018 – in dem Fall ging es um die Rechtmäßigkeit eines bundesweiten Stadionverbots – für das Aussprechen eines Stadionverbots bereits die Besorgnis künftiger Störungen.
Ausübung des Hausrechts möglich
Somit liegt die rechtliche Messlatte recht niedrigschwellig. Dem Datenscout müssen keine Straftaten für die Ausübung des Hausrechts nachgewiesen werden. Wer gerade was mit den Daten anstellt, die er weitergibt, könnten die Vereine in so kurzer Zeit während ihrer Partien sowieso nicht feststellen. Das jedoch müssen sie, legt man die entsprechende Rechtsprechung zugrunde, für die Ausübung ihres Hausrechts auch nicht.
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Wie die Polizei auf entsprechende Meldungen der Amateurfußballvereine reagieren wird, muss sich erst noch herausstellen. Ebenso, was passiert, wenn ein Datenscout klagen würde. Wobei durch eine solche Klage der Graubereich der Wettszene ans helle Tageslicht gezerrt würde, was den Anbietern, die bisher von der breiten Öffentlichkeit so gut wie unbeobachtet agierten, eigentlich nicht recht sein kann.
Eine kleine Auseinandersetzung mit einem Datenscout entschied Marcus Scholz, Manager des Oberligisten Niendorfer TSV, bereits für sich, als er ihn im Spiel gegen den SC Victoria von der Anlage verwies. „Der Mann“, so Scholz, „wollte sein Eintrittsgeld zurück. Das hat er von uns aber nicht wiederbekommen. Er hat unser Spiel ja eine Weile sehen dürfen und durch sein Verhalten dabei sein Recht verwirkt, es weiterhin genießen zu dürfen.“