Hamburg. DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Christian Okun (HFV) über die Video-Doku über den Eimsbütteler TV und die Sorgen des „kleinen“ Fußballs.

In dieser Woche steht der Amateurfußball im Blickpunkt: Das Hamburger Abendblatt hat am Dienstagabend die Premiere der siebenteiligen Video-Dokumentation „Wolfsrudel – Eimsbüttel in der Regionalliga“ gefeiert. Grund genug, mit dem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf (63) und Christian Okun (45), dem Vorsitzenden des Hamburger Fußball-Verbands, über den Sport an der Basis zu sprechen: über die Sorgen und Nöte und die Herausforderungen für die Zukunft.

Herr Neuendorf, Herr Okun, Video-Dokumentationen über Profimannschaften gibt es inzwischen eine Menge, aber kaum eine über den Amateurfußball. Das hat das Abendblatt mit der neuen Serie über die 1. Herren des Eimsbütteler TV nun geändert…

Bernd Neuendorf: …und das finde ich sehr lobenswert, diesen Bereich einmal ins Rampenlicht zu stellen. In der Tat liegt der Fokus ja häufig auf der deutschen Nationalmannschaft der Männer sowie den ersten drei Profiligen. Aber der DFB und seine Landesverbände repräsentieren insgesamt mehr als 24.000 Vereine. Insofern hilft uns Ihre Doku bei der Arbeit und beim Erklären, warum wir uns sehr stark im Amateurbereich engagieren und engagieren müssen. Das ist und bleibt die Basis und das Rückgrat des Fußballs in Deutschland.

Okun: Die Dokumentation finde ich großartig. Sie zeigt eindrucksvoll welche Besonderheit im Fußball steckt und welche Leistung eine Mannschaft zusammen erbringen kann. Auch einem Nicht-Fußballer wird deutlich, wie der ambitionierte Amateur- und Breitensport funktioniert und welche Wirkung erzeugt wird.

Was bedeutet Amateurfußball für Sie persönlich?

Neuendorf: In ländlichen Gebieten, in unseren Dörfern, gab und gibt es auch heute noch vielfach zwei Dinge: eine Kirche und einen Fußballverein. Genauso war es auch bei mir. Viele unterschätzen, wie groß die Bedeutung für Kinder, Jugendliche und Familien ist, solch einen Ort zu haben, wo man Fußball spielt, sich regelmäßig trifft, sich austauschen und Gemeinschaft erleben kann. Das ist enorm wichtig für unser Zusammenleben im Land. Das muss unbedingt weiter gefördert werden.

Schaffen Sie es ab und zu noch, ein Amateurspiel zu schauen?

Neuendorf: Ich bin weiterhin stolzes Mitglied des FC Grenzwacht Hürtgen in der Eifel. Wenn ich dort bin, ist fast alles so wie früher: Die Leute kennen meine Familie, wir reden dann eigentlich auch gar nicht über den DFB, sondern über das, was die Menschen vor Ort umtreibt, welche Probleme sie haben. Ich bin – auch wenn ich längst an einem anderen Ort lebe – gefühlt immer noch mittendrin in dieser Gemeinschaft. Und das empfinde ich als etwas überaus Kostbares.

Herr Okun, wie ist es in Hamburg um den Nachwuchs bestellt? Wachsen genug Manuel Neuers und Thomas Müllers nach?

Okun: In Hamburg spielen 65.000 Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungs, in Vereinen Fußball. Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Jahre finde ich die Zahlen sehr beachtlich. Das ist die höchste Zahl, die wir je hatten. Gerade im Mädchenfußball haben wir prozentual zweistellige Zuwachsraten. Die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten Jahren wieder ein Nationalspieler oder eine Nationalspielerin aus Hamburg kommt, erachte ich als hoch. In den Vereinen wird tolle Arbeit geleistet. Darauf kann unser Auswahlwesen gut aufbauen. Es gibt das Ziel pro Jahrgang mindestens ein junges Nachwuchstalent in einen DFB-Kader zu bringen. Das gelingt uns ganz gut.

Wie groß ist das Interesse am Job des Schiedsrichters? Gerade in den unteren Ligen werden die Unparteiischen ja auch mal Opfer nicht nur verbaler Attacken. 

Neuendorf: Das Jahr der Schiris, das der DFB und die Landesverbände 2023 gemeinsam ausgerufen hatten, hat hier viel bewegt. Wir haben erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder steigende Zahlen im Schiri-Bereich. Wir haben in der abgelaufenen Saison mehr Neulinge gewonnen, gleichzeitig weniger Schiris verloren. Bei den aktiven Schiris verzeichnen wir ein Plus von acht Prozent. Das aktuelle Lagebild Amateurfußball, das der DFB jährlich erhebt, zeigt außerdem einen leichten Rückgang an Gewalt- und Diskriminierungsvorfällen auf den Sportplätzen. Die Tendenz zeigt also in die richtige Richtung. Aber wir müssen hier wach und aktiv bleiben, dürfen uns keinesfalls zurücklehnen. Die Herausforderungen sind weiterhin groß. Daher wurde das DFB-Stopp-Konzept zur neuen Saison bundesweit eingeführt, das bundesweit einheitliche „Beruhigungsphasen“ vorsieht, wenn es auf dem Platz zu hitzig wird. Außerdem wurde die bei der EURO erprobte Kapitänsregelung direkt für alle Spielklassen in Deutschland eingeführt. Davon erhoffen wir uns weitere positive Effekte. Wir können die Notwendigkeit von Respekt, Wertschätzung und sportlichem Miteinander auf unseren Plätzen gar nicht genug betonen. 

Okun: Erfreulicherweise konnten wir den zwischenzeitlichen Rückgang in Hamburg ins Gegenteil umkehren. Der DFB unterstützt uns dabei mit den genannten Maßnahmen. Dafür bin ich sehr dankbar. Die Arbeit in den Vereinen und in den Bezirken ist richtige Kärrnerarbeit. Junge Menschen für ein Ehrenamt zu begeistern ist insgesamt schwieriger geworden. Dazu kommt eine gewisse Erwartungshaltung von jungen Menschen, die dem Gemeinwesen nicht immer zuträglich ist. Dennoch erlebe ich viele engagierte neue Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen, die dank einer aktiven Begleitung von erfahrenen Schiedsrichterrinnen und Schiedsrichtern gut in das ehrenvolle Amt finden und die vielen tollen Seiten kennenlernen können.

Und gibt es genügend ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer?

Okun: Es könnte immer mehr sein, ist aber auch keine Katastrophe. Gerade bei den Mädchen zahlt sich aber aus, dass wir für Ehrenamtliche spezielle Lehrgänge anbieten und Aktionen durchführen wie den Tag des Mädchenfußballs. Der DFB tut hier ja auch viel wie zum Beispiel mit dem Club 100 (der DFB ehrt 100 Menschen für ihr Ehrenamt, d. Red.), da bekomme ich immer viel positive Resonanz und Dankbarkeit. Worin wir aber noch besser werden können, ist die Anerkennungskultur.

Wie meinen Sie das?

Okun: Natürlich geht es in erster Linie darum, Menschen für das Ehrenamt zu begeistern, durch Vorbilder, Aktionen und auch Werbung, um sie dann für die Aufgabe gut zu qualifizieren. Aber: Es geht genauso darum, Menschen vernünftig zu verabschieden, wenn sie aus unterschiedlichen Gründen mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit aufhören müssen. Dieses Dankeschön führt womöglich dazu, dass sie wiederkommen, woanders tätig werden oder ihre Erfahrungen weitertragen. Das müssen wir noch weiter ausbauen und auch als Idee in die Vereine tragen.

Müssten nicht auch mehr finanzielle Anreize geschaffen werden für Ehrenamtliche, auch steuerliche? Derzeit sind nur 804 Euro einer Aufwandsentschädigung steuer- und sozialabgabenfrei.

Neuendorf: Ihre Frage ist für mich zweigeteilt. Wir als Verband haben schon aus rechtlichen Gründen – Stichwort Gemeinnützigkeit – keine Möglichkeit, Vereine direkt finanziell zu unterstützen. Was wir aber tun können, ist Hilfe zur Selbsthilfe leisten, indem wir Vereinen ermöglichen, Lehrgänge durchzuführen, Trainerinnen und Trainer sowie Schiris auszubilden, den Jugend- und Nachwuchsfußball zu fördern. Was politische Lobbyarbeit betrifft, und darauf zielt ihre Frage sicher auch, sind wir ebenfalls sehr aktiv, beim DFB und den Landesverbänden gleichermaßen. Es bedarf einer starken Stimme, um den politischen Vertretern in Bund und Ländern zu verdeutlichen, weshalb sich eine stärkere Förderung des Ehrenamtes unbedingt lohnt.  

Es stehen ja diverse Wahlen an…

Neuendorf: Wir müssen versuchen, unsere Interessen bei den einzelnen Parteien zu platzieren, wir müssen mit Regierungen und der Verwaltung im Austausch bleiben und für unsere Anliegen werben. Denn sie dienen nach meiner festen Überzeugung dem Gemeinwesen insgesamt.

Worum geht es Ihnen vor allem?

Neuendorf: Voraussetzungen zu schaffen, um Fußball überhaupt erst zu ermöglichen!  Gerade in einem urbanen Umfeld wie in Hamburg. Wir haben noch keine belastbaren Zahlen, aber natürlich hat die EM im eigenen Land einen Schub ausgelöst. Viele Kinder und Jugendliche werden sich in unseren Vereinen anmelden und kicken wollen. Das ist natürlich wunderbar. Aber wir sind auf diesen Zustrom – insbesondere was die Sportinfrastruktur betrifft – nicht wirklich vorbereitet.  Leider gibt es in Städten wie München, Berlin, Köln und natürlich auch Hamburg etliche Vereine, die Kinder abweisen müssen, weil es nicht genügend Plätze für den Spiel- und Trainingsbetrieb gibt. Im schlimmsten Fall verabschieden sie sich dann ganz vom Sport. Das kann aus einer Vielzahl von Gründen nicht im gesellschaftlichen Interesse sein. 

Okun: Was wir brauchen, ist eine gute Infrastruktur. Es ist bekannt, dass die Stadt Hamburg in den letzten Jahren viele Grandplätze in Kunstrasenplätze umgewandelt hat. Rund 400 Anlagen waren das. Bei einem angenommenen Preis von rd. 750.000 Euro pro Anlage waren das Investitionen von 300 Millionen Euro. Das ist eine stolze Summe. Und dennoch ist es insgesamt zu wenig, wenn wir das im Vergleich zu anderen Ausgaben in den letzten 10 Jahren sehen. Die Netto-Sportflächen sind in Hamburg in den vergangenen Jahren gesunken. Einen Kunstrasenplatz kann ich zwar vermeintlich das ganze Jahr und zu jeder Uhrzeit nutzen. Das ist aber leider nicht ganz korrekt. Mittlerweile gibt es viele Nutzungseinschränkungen. Diese sind begründet durch geschaffene Vorschriften, die die Verwaltung bei der Genehmigung und dem Betrieb eines Sportplatzes sehr einschränken. Hinzukommen völlig veraltete Arbeitszeitkonzepte und unzureichende Betriebsbudgets in den Bezirken zum Betrieb der Anlagen. Platzwarte sind Mangelware und die Eigenverwaltung von Plätzen von Vereinen sind insbesondere bei Anlagen mit mehr als einem Verein vielfach nicht umsetzbar.  

Der positive EM-Effekt könnte also verpuffen, fürchten Sie?

Neuendorf: Wir wollen das Momentum nutzen! Und das sollte auch die Politik tun. Gerade, was die Sanierung von Sportstätten betrifft, gibt es riesigen Bedarf. Wir hatten vor der EM einen Fonds mit sieben Millionen Euro aufgelegt, um Sportstätten nachhaltig zu sanieren.  Das Geld war wie auf Knopfdruck vergriffen.  Das sollte der Bundesregierung ein Ansporn sein, ein adäquates Programm aufzulegen. Und bitte mit möglichst wenig bürokratischem Aufwand.  Ich bin sicher, dass es sehr, sehr gut angenommen würde. Das Thema Sportstätten ist für die Zukunft des Breitensports maßgeblich.

Okun: Ich muss gerade an meine Frau denken, die Finanzvorstand in einem kleinen Sportverein ist, der die Flutlichtanlage modernisieren möchte. Dafür musste ein 15-seitiges Dokument ausgefüllt werden.

Sie sprechen von zu viel Bürokratie im System?

Okun: Versuchen Sie in Deutschland mal, einen Platz umzurüsten. Dann brauchen Sie ein statisches Gutachten, ein Lichtemissonsgutachten, eventuell ein Vogel- oder sogar Fledermausgutachten. Das bedeutet vier- oder sogar fünfstellige Ausgaben, bevor überhaupt die Bauanfrage gestellt werden kann. Dann lasse ich das als kleiner Verein oft lieber, erhöhe den Beitrag für Energiekosten um zwei Euro. Ja, das Thema Bürokratie müssen wir ganz dringend angehen, weil wir uns hohe Hürden aufgebaut haben.

Wie soll das funktionieren?

Okun: Wir brauchen bei Sportanlagen ein privilegiertes Baurecht, wie bei Windkraftanlagen. Wenn Sie einen Grand- in einen Kunstrasenplatz umwandeln wollen, ist das baurechtlich derzeit wie ein Neubau. Und die Person, die auf der anderen Seite einer zwei- oder vierspurigen Hauptstraße lebt, ist aus Lärmschutzgründen dann dagegen. Alles erlebt, da fasst du dir doch an den Kopf! Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen im Sportverein zueinander finden. Aber wenn wir Flächen aufgeben und sogar brachliegen lassen, ist Feierabend.

Sportflächen sind rar in Gebieten wie Hamburg, wo auch Wohnraum knapp wird. Wird der Sport nach Ihrem Empfinden zu selten mitgedacht, wenn Flächen planerisch entwickelt werden?

Neuendorf: Es liegt nahe, dies zu bejahen. Und es geht auch darum, bestehende Sportstätten so zu gestalten, dass es Menschen Freude macht, zum Sport zu gehen. Leider ist hier – ähnlich wie in anderen Bereichen auch – in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig investiert worden. Deshalb sind mancherorts die vorhandenen Plätze, Vereinsheime, Umkleiden und Sanitärbereiche in einem bedauernswerten Zustand. Ich würde gerne eine Zahl einwerfen, die verdeutlicht, welche Wucht das Thema hat. Ich habe ja von mehr als 24.000 Vereinen gesprochen in Deutschland, die jedes Wochenende bis zu 65.000 Spiele durchführen. Insgesamt haben wir in der vergangenen Saison 1,4 Millionen Fußballspiele mit 139.000 Mannschaften in Deutschland organisiert! Und jetzt überlegen Sie einmal, wie viele Spielerinnen und Spieler, Betreuerinnen und Betreuer, Schiris und Ehrenamtliche dahinterstehen, die im Fußball jede Woche unterwegs sind. Das ist ein echter Schatz. Dies nicht mitzudenken, wäre hochproblematisch.

Okun: Und es geht nicht nur um die Menschen, die miteinander spielen, sondern auch um die Zuschauer. Der Begriff ist schon etwas strapaziert, aber er stimmt: Der Fußball an der Basis ist für mich das moderne Lagerfeuer.

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Aber bleibt das auch so? Die Gesellschaft scheint sich immer rasanter zu verändern.

Neuendorf: Zu vermuten, dass Menschen heute 60, 70 Jahre im gleichen Dorf oder Stadtteil leben, wäre realitätsfern. Deshalb stellt sich für alle, auch für den DFB, die Frage: Wie können Vereine in ihrem Umfeld trotzdem gut existieren und bestehen? Das treibt auch die Landesverbände permanent um, deshalb haben wir das Instrument der Club-Berater und -beraterinnen geschaffen, die vor Ort und ganz konkret Hilfestellung geben können. Warum machen wir das? Weil der Amateurfußball für mich mit seinen vielen Mannschaften ein immaterielles Kulturgut ist, das wir hochhalten und nach Kräften stützen müssen.

Okun: Was den Fußball betrifft, sehe ich keinen Abrieb. Fußball ist nach wie vor sehr niedrigschwellig und immer noch Elf gegen Elf auf dem Platz, trotzdem facettenreich. Das ist das, was die Faszination am Fußball ausmacht.

Schlussrunde: Was treibt Sie um, wenn Sie an die Zukunft des Amateurfußballs denken? Welche Herausforderung sticht hervor?

Neuendorf: Das Thema Infrastruktur haben wir angesprochen. Aber es gibt auch viele andere Themen, die nur gemeinsam mit der Politik gelöst werden können. Nehmen Sie den bereits beschlossenen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen. Was bedeutet das für die Vereine, für die Vereinskultur, wenn Kinder plötzlich bis weit in den Nachmittag Unterricht haben? Darüber muss gesprochen werden.

Okun: Wir brauchen neue Sportflächen! Nicht nur alte, die wir umbauen. Unsere Netto-Sportfläche in Hamburg geht zurück. Die Menschen strömen in Vereine mit neuen Sportanlagen, aber nicht in Clubs mit Grandplätzen.