Paris. Steven van de Velde wurde einst wegen sexuellen Missbrauchs einer Zwölfjährigen verurteilt. Seine Olympia-Teilnahme sorgt für Debatten.
Die orangefarbene Armee hat sich formiert. Der Einlauf von Matthew Immers und Steven van de Velde in das sensationelle Eiffel Tower Stadium zu Fuße des Pariser Wahrzeichens zu ihrem Auftaktmatch ins olympische Beachvolleyball-Turnier wird von einem Jubelsturm der niederländischen Fans begleitet. Einige Buhrufe mischten sich unter, sie gelten van de Velde. Kaum hörbar, scheinbar nichts Besonderes.
Aber die am Sonntagvormittag wenige Minuten später beginnende Partie ist alles andere als eine normale, auch wenn sie das auf juristischer Ebene zweifelsfrei ist. Steven van de Velde ist ein verurteilter Straftäter. Vor acht Jahren war er in England wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen inhaftiert worden.
Beachvolleyball: Die Kontroverse um Steven van de Velde bei Olympia
2014 hatte er im Internet eine zwölfjährige Engländerin kennengelernt, besuchte und vergewaltigte sie. Die erlassene Strafe: vier Jahre Gefängnis. Nachdem er einen Teil seiner Strafe abgesessen hatte, kehrt van de Velde in seine Heimat zurück, wo das Urteil an gängiges Recht angepasst wird. Nach 13 Monaten ist er auf freiem Fuß und fängt auch wieder an, Beachvolleyball zu spielen.
Und zwar ziemlich gut. So gut, dass ihn das Niederländische Olympische Komitee (NOK) für die Spiele in Paris nominiert. Unter Bauchschmerzen nickte das Internationale Olympische Komitee (IOC) ab. Das NOK habe in einer ausführlichen Erklärung die Nominierung van de Veldes begründet, lautete das Statement dazu. Thema gegessen. Oder nicht?
Van de Velde schweigt, sein Partner Matthew Immers spricht
Vielleicht war es ein bewusster Versuch der Spielplangestalter, van de Velde um 10 Uhr in der Morgensession zu verstecken. Sollte dem so sein, ging das gründlich schief. Mehr als 50 Reporter sind zum Spiel des 1,99-Meter-Manns und seines Partners Immers gegen die Italiener Adrian Carambula/Alex Ranghieri gekommen. Carambula ist übrigens der mit dem berühmten Skyball als Aufschlag, aber das nur am Rande.
Zurück zum Mittelpunkt – und damit erstmal zu Immers. Während van de Velde nicht durch die Mixed Zone geleitet wird, aus Schutz auch nicht im olympischen Dorf wohnt, muss sein 23 Jahre alter Teamkamerad Rede und Antwort stehen.
Niederländischer Beachvolleyballer „Wir sind enttäuscht“
Immers hat ein sonniges Gemüt und kann einem beinahe etwas leid dabei tun, wie er auf teils bissige Fragen, die eigentlich nicht ihm gelten, reagieren muss. Ursprünglich soll wohl geplant gewesen sein, dass sich der Abwehrspezialist nicht über seinen Blockpartner äußert. Anscheinend revidierte der niederländische Verband diesen Plan.
„Wir sind enttäuscht“, das sagt Immers immer wieder. Enttäuscht, weil er seit drei Jahren mit van de Velde zusammenspielt, „wir so hart für Olympia gekämpft haben, und jetzt macht ihr plötzlich eine große Sache daraus“. Natürlich verstehe er, weswegen es ein Thema ist, er habe aber seinen Frieden damit gemacht.
Inzwischen gilt van de Velde als resozialisiert
„Ich kenne Steven seit drei Jahren und habe auch mit ihm über den Vorfall gesprochen. Er ist kein schlechter Mensch“, sagt Immers. In der Tat gilt van de Velde als resozialisiert, sein Verhalten wird als vorbildlich beschrieben. Er suchte sich nach Haftentlassung professionelle Hilfe, bezeichnete die Vergewaltigung in einem Interview einst als „größten Fehler meines Lebens“ und gilt laut Experten als nicht gefährdet dafür, rückfällig zu werden.
Inzwischen ist der Mann aus Den Haag mit der deutschen Beachvolleyballerin Kim Behrens (31), Schwester des Fußballprofis Kevin Behrens (33/VfL Wolfsburg), verheiratet und bekam mit ihr vor zwei Jahren ein Kind. Auf der Beachvolleyball-Tour wird nicht mehr groß darüber gesprochen.
Deutsche Spielerinnen Müller/Tillmann: „Äußern uns nicht dazu“
„Dazu äußern wir uns nicht“, lautet das knappe Statement von Cinja Tillmann (33/TuSa Düsseldorf), die gemeinsam mit Svenja Müller (23/Eimsbütteler TV), zwei Stunden nach van de Velde spielte und die Französinnen Aline Chamereau/Clemence Vieira mit 2:0 (21:14, 21:12) besiegte.
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Auch Carambula und Ranghieri winken direkt ab. „Ihr seid nur wegen dieser Sache hier“, sagt Ranghieri sichtlich genervt, als er an der Journalistentraube am für das niederländische Team bereitgestellte Mikrofon vorbei zu drei italienischen Medienvertretern geht. „Wir sprechen nur über den Ball, damit das klar ist.“
Vierfache Olympionikin fordert Ausschluss von van de Velde
Ist es. Nur nicht für Joanna Maranhão (37). Die viermalige Olympia-Teilnehmerin im Schwimmen wurde selbst Opfer sexueller Gewalt, arbeitet inzwischen für die „Sport and Rights Alliance“ für besseren Schutz vor Übergriffen im Sport. „Es tut weh. Wir kämpfen schon so lange dafür, Täter aus dem Sport auszuschließen und scheitern so oft. Er bekommt eine zweite Chance. Wir werden nur als Nestbeschmutzer gesehen, die dem Ansehen des Sports schaden“, sagt die Brasilianerin.
Hinter ihr und den Opfern steht keine orange oder sonst wie gefärbte Armee. Immerhin kamen in einer Petition, die den Ausschluss van de Veldes von Olympia fordert, mehr als 100.000 Stimmen zusammen. Eine Auswirkung hat dies nicht. Es fehlt die Rechtsgrundlage, die van de Velde wiederum recht gibt.
Niederländischer Fan: „Nun ist auch mal gut“
Dafür droht sportlich das frühe Aus. Gegen die Italiener verlieren Immers/van de Velde mit 1:2 (20:22, 21:19, 13:15). Von den Tribünen des derzeit schönsten Stadions der Welt gibt es aufmunternden Applaus.
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„Ich bin selbst Vater, und mir gefällt das nicht wirklich. Aber Steven hat dafür bezahlt, dann muss es auch mal gut sein“, sagt Jos, der mit Fischerhut in Holland-Farben auf der Tribüne sitzt. Die orangefarbene Armee steht hinter van Velde, und, wie es scheint, auch die Beachvolleyball-Welt.