Herzogenaurach. Ilkay Gündogan liefert einen starken Auftakt gegen Schottland ab, weil er herausgefunden hat, wie er das Team besser machen kann.

Florian Wirtz kniff die Augen zusammen, sodass er kaum noch etwas sehen konnte, oder eher: musste. „Poah“, brachte der Leverkusener erschrocken heraus und schob kurz darauf hinterher: „Ich dachte, er wäre leichter getroffen worden, aber sein Bein biegt sich ja schon ein bisschen.“ Seinem Gesichtsausdruck zufolge hat Wirtz allein schon beim Zuschauen auf dem iPad ähnlichen Schmerz gefühlt wie Ilkay Gündogan am Abend zuvor.

Am Tag nach dem furiosen Auftaktsieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Schottland (5:1) saß Wirtz für ein DFB-Videoformat neben seinem Kumpel Jamal Musiala. Es ging darum, die wichtigsten Szenen der Partie zu rekapitulieren, und dazu gehörte nun mal auch die Entstehung des 3:0 durch Kai Havertz per Foulelfmeter. Ein Tor, für das Gündogan leiden musste. Schottlands Ryan Porteous flog mit offener Sohle durch den Strafraum, er erwischte den deutschen Kapitän am Knöchel. Den Kopf in der Armbeuge vergruben, lag Gündogan schließlich auf dem Rasen des Münchner Stadions. Porteous sah Rot, Gündogan humpelte.

DFB-Team: Gündogan erlebt gegen Schottland eine Schrecksekunde

Viel, genau genommen ein Tritt etwas weiter oben gegen das Schien- und Wadenbein, und dieser Text hätte einen anderen Ton gehabt. Er hätte womöglich vom dramatischen EM-Aus Gündogans erzählt, von seinem traurigen Abgang von der Länderspiel-Bühne. 33 Jahre ist er ja schon alt, viele Turniere wird er nicht mehr bestreiten, das weiß auch er selbst. Und ganz zu schweigen von den erheblich gesunkenen Aussichten der deutschen Mannschaft, eine besondere Reise durch das eigene Land zu starten, die mit dem Titel in Berlin enden könnte.

Schrecksekunde: Schottlands Ryan Porteous foult Ilkay Gündogan im Strafraum.
Schrecksekunde: Schottlands Ryan Porteous foult Ilkay Gündogan im Strafraum. © Jürgen Fromme / firo Sportphoto | Jürgen Fromme

Doch der Mittelfeldspieler hatte Glück, oder wie er selbst sagte, „schon Schlimmeres“ gehabt. Also handelt diese Geschichte von einem Spieler, der sich am Freitagabend gegen Schottland aller Kritik an seiner Person widersetzt hat und sich nun spät in der Karriere in neuer Rolle mit der Nationalmannschaft versöhnen könnte.

„Ich bin froh, dass ich heute vielleicht der Bessermacher für meine Mitspieler sein durfte und konnte“, sagte Gündogan. Wie vor dem 2:0 durch Musiala, als Gündogan in einer Bewegung den Ball verarbeitete und ihn perfekt in die Schnittstelle auf Havertz spielte. Gündogan ist ein Künstler mit dem Ball – und ein Meister des Understatements. Das überschwängliche Lob verteilte daher Thomas Müller. „Eine Weltklasse-Leistung, aus meiner Sicht, mit dem Druck, der immer auch von außen auf ihm lastet“, meinte der Münchener.

Daumen hoch: Ilkay Gündogan ist mit der DFB-Elf auf dem richtigen Weg.
Daumen hoch: Ilkay Gündogan ist mit der DFB-Elf auf dem richtigen Weg. © Sebastian El-Saqqa / firo Sportphoto | Sebastian El-Saqqa

„Wenn man sich die ersten drei Tore anschaut, hatte er seinen Fuß überall mit drin. Auch beim ersten mit dem Laufweg, da macht er die Tür auf. Das sieht am Ende nur keiner.“ Thomas Müller, noch immer der Mann mit dem Gespür für die Räume, aber inzwischen mindestens genauso wichtig: mit dem für die richtigen, warmen Worte.

DFB-Team: Viel Kritik an Ilkay Gündogan

Auf Gündogan prasselte jüngst ja noch mal viel mehr ein als in den vergangenen Jahren. Es wurde darüber diskutiert, ob der eher zurückhaltende Charakter der richtige Kapitän sei. Und ob er überhaupt in der Startelf bei der Heim-EM stehen solle, ob er nicht eher den beiden Hoffnungsträgern Wirtz und Musiala im Weg stünde. Ob nicht doch besser Leroy Sané an ihrer Seite antreiben sollte.

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Eine auf den ersten Blick nicht nachvollziehbare Debatte. Denn seit Jahren spielt Ilkay Gündogan für seine Klubs auf höchstem Niveau, führte etwa Manchester City als Kapitän zum Champions-League-Sieg und ist heute einer der Schlüsselspieler beim FC Barcelona. Pep Guardiola, Gündogans Trainer in England, schwärmte zuletzt in einem Interview mit dem Stern: „Ein Spieler kann schnell sein, er kann einen guten Schuss haben, aber was ihn heraushebt aus der Masse und zu einem Spitzenspieler macht, ist seine Intelligenz. Unter Druck die richtigen Entscheidungen zu fällen, zu wissen, was die Mannschaft gerade braucht, das ist der Typ Spieler, den ich suche. Ich liebe intelligente Spieler. Ilkay musste ich alles nur ein einziges Mal erklären. Er hat es verstanden und sofort umgesetzt. Das ist außergewöhnlich.“

Ilkay Gündogan nach Abpfiff mit seinem Sohn.
Ilkay Gündogan nach Abpfiff mit seinem Sohn. © DPA Images | Christian Charisius

Nur in der DFB-Elf fremdelte er mit dem Spiel, mal als Sechser, mal als Achter, mal als Zehner – aber er spielte selten so recht überzeugend, was auch daran lag, dass Joachim Löw und Hansi Flick Probleme hatten, die richtige Rolle für Gündogan zu finden. Die erhebliche Divergenz von Klub- zu Nationalmannschaftsleistungen frustrierte viele, besonders Gündogan selbst. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich gar nicht beschäftigt“, hatte er in der vergangenen Woche gesagt. „Ich bin generell ein sehr nachdenklicher Mensch, ein sehr reflektierender Mensch und einer, der sich hinterfragt und überlegt, wie er sich verbessern kann.“

Bundestrainer Nagelsmann findet die richtige Rolle für Gündogan

Der aktuelle Bundestrainer Julian Nagelsmann ist dieser Rollensuche offenbar ein gutes Stück näher gekommen. Gündogan muss für das perfekte deutsche Spiel nicht herausragen, er muss andere herausragen lassen. Das ist eine erste große Lehre aus dem EM-Start.

„Ich freue mich extrem über Ilkays Leistung“, sagte Nagelsmann. Sein Kapitän sollte sich gegen die Schotten zwischen den Linien bewegen, so Räume für seine Mitspieler öffnen, vor allem für die Freigeister Musiala und Wirtz. „Ich versuche, die Balance zu schaffen, indem ich auf meine Mitspieler schaue: Wie bewegen die sich, wie verhalten sie sich? So möchte ich meine eigenen Bewegungen ergänzend hinzufügen“, erklärte Gündogan. Am Mittwoch in Stuttgart gegen Ungarn (18 Uhr/ARD) muss die These der Überprüfung erneut standhalten.

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