Mönchengladbach. Per Mertesacker war einer der Protagonisten des Sommermärchens 2006. Im Interview vor der EM zieht er Parallelen zu damals.

An diesem Wochenende wird das Sommermärchen volljährig. Viele hoffen bei der am kommenden Freitag beginnenden Europameisterschaft in Deutschland auf eine Fortsetzung. Per Mertesacker, 39, war 2006 als Innenverteidiger dabei, die EM begleitet er als ZDF-Experte. Im Interview sucht er nach Parallen zwischen damals und heute.

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Herr Mertesacker, woran erinnern Sie sich beim Sommermärchen zuerst?

Per Mertesacker: Ich verbinde das Sommermärchen vor allem mit einem erfolgreichen Sommer, empfinde ein positives Gefühl, Genugtuung – auch wenn wir in dem Sommer keinen Titel geholt haben. Wir haben aber die Herzen der Menschen gewonnen. Das Halbfinale ging verloren, dann haben wir noch den dritten Platz geholt – und so hat man sich am Ende doch gefühlt, als hätte man etwas gewonnen.

Was genau?

Das Gefühl, Menschen von Deutschland überzeugt zu haben. Einerseits die Leute im Ausland, andererseits auch uns Deutsche, die nun sagen konnten: Wir sind ein tolles Land, wir können stolz auf uns sein. Das war auch die größte Message. Zusammengefasst: Es war ein richtig toller Sommer, der aus meinem Blickwinkel auf vielen Ebenen erfolgreich war.

DFB-Team: Per Mertesacker über die Stimmung in der Nationalmannschaft

Was ist mit den besonderen Momenten, dem späten Tor gegen Polen, dem Elfmeterschießen gegen Argentinien? Werden diese tatsächlich vom großen Ganzen überlagert?

Ja, total. Natürlich waren diese Momente, etwa als wir das Spiel gegen Polen in der letzten Minute gewonnen haben, emotional sehr aufgeladen. Das lag auch daran, dass viel Druck abgefallen ist, weil es im Vorfeld des Turnieres ja extrem viele Zweifler gegeben hatte. Wir sind nicht mit dem größten Vertrauen in die Weltmeisterschaft gegangen, die Freundschaftsspiele waren nicht gut. Und dann gibt dir das Polen-Spiel natürlich die Sicherheit, die Gruppenphase überstanden zu haben. Es war aber mehr das Gefühl: Jetzt haben wir es euch gezeigt. Das große Ganze dieses Sommers allerdings ist stärker, als das Gefühl, zuvor gekränkt gewesen zu sein.

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Ziehen wir den Vergleich zur Gegenwart. Bis in den März war die Stimmung rund um die Nationalmannschaft ähnlich depressiv wie 2006. Glauben Sie ans Sommermärchen 2.0?

Ich glaube, dass das nicht so einfach ist. Die Grundvoraussetzung ist erstmal, dass wir lange im Turnier dabei sind. Wir brauchen erfolgreiche Spiele und damit die Gewissheit, als Mannschaft auch Momente zu überstehen, die nicht einfach sind. In der Gruppenphase ausscheiden, aber trotzdem einen schönen Sommer haben? Das wäre naiv, das geht nicht. Kommen wir als Sportnation weit, würde das die Euphorie noch mal multiplizieren. Wir müssen wieder eine Turnier-Mannschaft werden und in den Momenten, in denen es darauf ankommt, wirklich abliefern. Diese Qualität ist uns in den letzten großen Turnieren abhandengekommen.

Per Mertesacker grätscht im Spiel gegen Ecuador.
Per Mertesacker grätscht im Spiel gegen Ecuador. © firo | firo

2006 überzeugte Deutschland als eben genau diese Turnier-Mannschaft. Jürgen Klinsmann war ein Meister darin, die DFB-Elf stark zu reden. Darüber hinaus hat er mit seiner revolutionierenden Herangehensweise den Verband durchgerüttelt. Auch Julian Nagelsmann hat nach 17 Jahren Joachim Löw und Hansi Flick frischen Wind hereingebracht, im März schon einen zarten Hauch von Euphorie entfacht. Welche Rolle spielt der Bundestrainer?

Ich glaube, für ihn war es eine unglaublich lehrreiche Phase zwischen dem Österreich-Länderspiel und dem März, weil er erlebt hat, wie die Nation, wie die Presse reagiert – nicht aus Sicht eines Klub-, sondern aus der eines Bundestrainers. Wir dürfen nicht vergessen: Im November lag wirklich alles brach und ein paar Monate später dann zeigte die Mannschaft zwei Länderspiele, die zur Vertragsverlängerung mit ihm geführt haben. Das ist bemerkenswert. Julian Nagelsmanns Kaderzusammenstellung mit einer klaren Rollenverteilung und dem eindeutigen Bekenntnis zu dieser Mannschaft, das war ein sehr mutiger Schritt. Vor allem, weil er nicht täglich mit der Mannschaft arbeiten konnte, sondern überlegen musste, welche Kniffe er jetzt brauche, an welchen Stellen er drehen muss, die dann eine so große Auswirkung haben. Das war eine sehr spannende Zeit für ihn, die ihn, glaube ich, auf das nächste Level gehoben hat. Und dann ist er noch eloquent, taktisch versiert. Wenn er dieses Grundgerüst gefunden hat, kann alles passieren.

DFB-Team: Wer wird diesmal zum überraschenden Helden?

Ein Turnier ist immer dafür gut, dass unscheinbare Typen zu Helden werden. David Odonkor kannten vorher bloß die Fans von Borussia Dortmund. Wer wird diesmal zu Überraschung?

Diese Überraschungseffekte sind ja schon im März vorweggenommen worden durch die Nominierungen von Maximilian Mittelstädt oder Robert Andrich und die Rückholaktion von Toni Kroos. Unsere jungen Spieler wie Florian Wirtz und Jamal Musiala sind längst keine unbeschriebenen Blätter mehr, aber für sie bietet das Turnier natürlich die Bühne, auf die nächste Ebene zu kommen. Ich hoffe, dass sich unsere Top-Individualisten gut in unser Team einbringen, dass sie sich wohlfühlen und Top-Leistungen bringen können.

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Können diese Einzelkönner für Euphorie sorgen? Ein guter Auftakt gegen Schottland, schönes Wetter, die Grills werden angeworfen…

… dann kann es ganz schnell gehen, manchmal geht es sogar zu schnell. Aber die Mannschaft hat die Euphorie mitgenommen, das ist das Wichtigste. Gefühlt sind viele Zweifel einfach verschwunden, das ist sowohl für Mannschaft als auch Trainer ein tolles Gefühl. Doch die Mannschaft muss noch weiter zusammenwachsen, einzelne Ereignisse können einen Schub geben. Ich hoffe, dass wir das im Turnier merken werden.

Per Mertesacker (re.) jubelt über das 4:2 von Torsten Frings im WM-Eröffnungsspiel gegen Costa Rica mit.
Per Mertesacker (re.) jubelt über das 4:2 von Torsten Frings im WM-Eröffnungsspiel gegen Costa Rica mit. © firo | firo

Inwiefern?

Dass man einfach das Gefühl hat, sich auf seinen Nebenmann verlassen und sich auf das eigene Spiel konzentrieren zu können. Im Turnier musst du konstant abliefern. Auch wenn du mal schlecht spielst, musst du das Vertrauen schnell wieder aufbauen. Das hat die Mannschaft bisher noch nicht bewiesen. Gelingt dies, hat sie wirklich den nächsten Schritt genommen.

DFB-Team: Per Mertesacker lobt eine klare Rollenverteilung

Sehen Sie Parallelen zu 2006?

Ich versuche immer, Parallelen zu ziehen. Selbstverständlich weiß ich, dass die Dinge, die damals funktioniert haben, nicht identisch klappen werden. Aber sie geben ein gutes Gefühl. Ein Beispiel: 2006 gab es natürlich auch mal die Frage, wer spielt, wer gerade vielleicht ein bisschen hinten dran ist, wer trotzdem Gas im Training gibt. Dieses Rollenverständnis ist sehr wichtig. Christoph Metzelder und ich waren in der Innenverteidigung vorne, dahinter der sehr erfahrene Jens Nowotny. Im Mittelfeld hatten wir Michael Ballack und Torsten Frings mit Sebastian Kehl und Thomas Hitzlsperger als Herausforderer. Vorne waren es Miroslav Klose und Lukas Podolski, mit Mike Hanke als Ersatz. Es gab diese Klarheit, das Vertrauen. Niemand hat gedacht: Du hast eigentlich nicht verdient zu spielen. Das war sehr homogen. Wenn ich sehe, wie Julian Nagelsmann das in letzter Zeit angegangen ist, gibt mir das ein ähnliches, gutes Gefühl.

Feines Zusammenspiel: Jamal Musiala und Florian Wirtz.
Feines Zusammenspiel: Jamal Musiala und Florian Wirtz. © DPA Images | Christian Charisius

Wer würde im Spiel zwischen der 2006er- und 2024er-Mannschaft gewinnen? Oder anders gefragt: Wie würden Sie Jamal Musiala und Florian Wirtz stoppen, Herr Mertesacker?

(überlegt länger) Arne Friedrich auf rechts, Philipp Lahm auf links – unsere Abwehr war nicht so schlecht (lacht). Dazu Michael Ballack im Mittelfeld, auf den Außenposition Bernd Schneider und Bastian Schweinsteiger. Klose und Podolski vorne. Wir hatten eine ganz junge Truppe mit Alt-Internationalen, auf die man sich verlassen konnte. Also: Im Elfmeterschießen würden wir wahrscheinlich gewinnen. Über 90 Minuten glaube ich, dass die 2024er-Mannschaft einfach zu viel Spielwitz vorne drin hat. Poldi und Schweini sind heute Musiala und Wirtz. Wir brauchen diese neuen Geschichten, und die können nur von der aktuellen Generation geschrieben werden. Sie müssen sich wohlfühlen, um ihre Top-Leistung zu bringen, Und wenn mal irgendetwas nicht so gut läuft, sollte jemand ihnen sagen: Kein Problem, wir gehen diesen Weg trotzdem weiter.

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