Hamburg. Joachim Löw hatte depressive Phase, Thomas Müller zog den Telefonjoker, Panik in der Kabine: Eine ARD-Doku zeigt die Schatten der WM 2014.
„Warum ich?“ Fußball ist Mannschaftssport. Elfmal ich. Wie wird man da Weltmeister bei so viel Ego? Und dann auch noch in Brasilien, obwohl es in Südamerika noch keine europäische Mannschaft geschafft hat, den Titel zu holen. Die WM 2014 hat aus der deutschen Nationalmannschaft Helden produziert. Sie heißen Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Manuel Neuer. Aber heißen sie auch Mario Götze, Thomas Müller und Benedikt Höwedes? Zehn Jahre nach dem – vorerst letzten – Titel ist klar: In Rio gab es auch Anti-Helden im schwarz-rot-goldenen Rausch. Sie haben einen Titel geholt, auf dem Schatten liegen, die nur sie sehen konnten. Bislang.
„Warum ich?“ Per Mertesacker (heute 39), dieser eleganzbefreite Schlacks in der Innenverteidigung, erzählt neben weiteren Protagonisten von damals in einer neuen, tiefschürfenden ARD-Dokumentation inklusive Podcast den NDR-Autoren Sven Kaulbars und Martin Roschitz aus dem Innenleben eines vermeintlichen Helden. Als er aus der Startelf flog, konnte er eine Nacht nicht schlafen. Die Frage quälte ihn: „Warum ich?“
Finale der WM 2014 in ARD-Doku: Neuer Blick auf vermeintliche Helden von Rio
Einen Schritt weiter ist mittlerweile Benedikt Höwedes, heute 36. Er kennt die Antwort. Jedes Spiel hat er von Minute eins bis zum finalen Abpfiff nach 120 Minuten Leidenschaft in Rio bestritten. Im Abendblatt-Gespräch zur Doku sagt er: „Jeder wollte spielen und seine Aufmerksamkeit. Trotzdem ging es allen immer um die WM. Ich wusste nicht, dass ich die Weltmeisterschaft komplett spielen darf. Ich kam aus einer Verletzung und war Platz vier auf der Innenverteidiger-Position und gar nicht gesetzt als Startelf-Spieler.“ Eines Tages kam „der Jogi“ Löw und fragte den Schalker: „Kannst du hinten links spielen?“ Höwedes konnte. „Ich war flexibel, habe diese Nische gefunden und entsprechend ausgefüllt. Es ging darum, verlässlich zu sein. Mir war klar, dass ich keine Flanken schlage wie Roberto Carlos.“ Das ist der legendäre brasilianische Außenbahnsprinter, der den Fuß so kunstvoll verdrehte, dass der Ball Pirouetten flog.
Benny Höwedes ist vielleicht der unwahrscheinlichste Weltmeister der an Unwahrscheinlichem reich gesegneten deutschen WM-Geschichte. Da ist 1954, das Wunder von Bern. Die übermächtigen Ungarn, die Schraubstollenschuhe von Adi Dassler, der Regen. Oder 1974 die grandiosen Holländer. Zwei Elfmeter, ein Gerd Müller – knapp war es immer. 1990 dann der erste gesamtdeutsche Wahnsinn in Rom. Wieder ein Elfmeter. Der Barmbeker Andreas Brehme verwandelt humorlos.
WM 2014: Benedikt Höwedes als einer der unwahrscheinlichsten Weltmeister
Und Höwedes 2014? Verlässlich. Klar. Hinten die Null halten. Rennen, köpfen, grätschen. Auch mal einen wegreißen. Im Hamburger Abendblatt sagte (Vizeweltmeister) Felix Magath vor der WM über ihn: „Für mich ist Höwedes kein Linksverteidiger. Er hat nicht die Fähigkeiten, auf dieser Position das Spiel positiv zu beeinflussen.“ So was kommt im WM-Sommer für einen Hoffenden wie ein Hammerschlag. Magath hatte den Verteidiger auf Schalke selbst trainiert. Er wusste, dass er ein Wettkämpfer ist, einer, der beschleunigt wie keiner, wenn es zählt. Heute sagt Höwedes: „Das konnte ich in der Härte, wie er das gesagt hat, nicht nachvollziehen. Dass er polarisieren wollte – geschenkt. Aber es hätte etwas mehr Respekt sein können.“
Ein öffentlich heruntergeputzter Holzfuß, verletzt, auf der falschen Position – die Operation WM startet noch schlimmer: Im Trainingslager in Südtirol sitzt Höwedes als Beifahrer in einem Mercedes für eine Fahrdemonstration mit den Profipiloten Nico Rosberg und Pascal Wehrlein. Rosbergs Auto macht auf einer Dorfstraße eine Vollbremsung. Wehrlein muss sich für links oder rechts entscheiden, als er in die Eisen steigt. Das Auto mit Höwedes erwischt zwei Passanten. Einer schlägt auf der Windschutzscheibe auf, direkt vor der Nase des Fußballprofis. Beide Opfer überleben schwer gezeichnet. Höwedes taumelt aus dem Auto.
Vor der WM 2014: Schwerer Unfall im Trainingslager in Südtirol
Jetzt fuhr er an den Unfallort zurück. Er sagt: „Das war ein Dämpfer. In der Doku kommt noch einmal rüber, wie steil das da ist. Als wir jetzt wieder dort waren, wurde mir bewusst: Wir hätten dabei draufgehen können.“
Mertesacker, Höwedes – noch deutlich mehr Charaktere unter den WM-Helden leben mit den Schatten des Titels. Die Filmer lassen sie sprechen. Sie kitzeln heraus, was hinter der Feier-Fassade an Moll-Tönen mitschwang. Es war nicht alles „Atemlos durch die Nacht“ wie beim Triumphgeheul mit Helene Fischer am Brandenburger Tor. Benedikt Höwedes hatte so heftigen Psychostress in Brasilien, dass ihm die Haare ausfielen. Einen Tag nach dem Jubel in Berlin ließ er sich in einer OP neue transplantieren.
Und es war nicht alles (Ein Hoch) „Auf uns“ von Hitsänger Andreas Bourani. Im wahren Soundtrack der WM 2014 haucht Bundestrainer Löw ins Mikro, dass er sich danach auf Sardinien verkroch. Er war nicht nur leer. Löw hatte eine regelrechte depressive Phase. Nicht der Erste im Ball-Business, sicher nicht der Letzte.
Mario Götze: Karrieretief nach dem WM-Tor
Finaltorschütze Mario Götze wollte alles sein, aber kein „Super-Mario“, kein Fußballgott und irgendwie auch keiner in der Ikonen-Reihe Helmut Rahn, Gerd Müller, Andy Brehme. Götze war mal lange krank. Hochdekoriert und noch höher bezahlt, saß er im Karrieretief. Und saß. Es brauchte viel Überzeugung, Götze zum Reden zu bringen.
Dasselbe bei Thomas Müller. Wegen des genuinen Dauerstresses bei Bayern München zögerte er, sich den Filmern anzuvertrauen. Dann machte er doch mit. Und müllerte los: „Benedikt Höwedes hat da nicht die feinste Klinge auf hinten links, das kann man schon mal festhalten.“ Doch der möglicherweise populärste deutsche Fußballprofi mit dem tönenden Beinamen „Radio Müller“ kann richtig hibbelig werden. Im Bus auf dem Weg zum Finale ins Maracana-Stadion muss er reden. Keiner will so recht. Er ruft Bayerns Co-Trainer Hermann Gerland an. Sie reden über Pferde und Zucht. Alles außer Fußball.
Vor dem Finale 2014 in der Kabine: Panikattacken und in die Tüte atmen
In der Kabine vor dem Spiel wird vielen klar, was jetzt kommt: Messi und die Milliarden Menschen, die dank hochauflösender Technik sehr genau hinsehen. Es gibt Herzrasen, Panikreaktionen. Manch einer muss in eine Papiertüte atmen, um es auszuhalten. Experten befürchten in solchen Fällen eine „Hyperventilations-Tetanie“. Die Psyche dreht durch, der Atem geht schnell. Die Lunge füllt sich mit zu viel Sauerstoff. Im Blut dreht der Kalziumspiegel rapide nach unten ab. Im Körper drohen Muskelkrämpfe. Was im Spiel nicht gut kommt, ist davor ein katastrophales Menetekel. Elf Nervenwracks müsst ihr sein? Das sind wohl die wahren Mythen, die bislang unerhörten Geschichten der WM-Helden.
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Doku-Autor Martin Roschitz sagte dem Abendblatt: „Ich bin ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man als Fußball-Weltmeister zu den glücklichsten Menschen auf diesem Planeten gehören müsste. Ein Trugschluss, wie sich herausgestellt hat.“ Und Roschitz sagte über uns alle nachdenkenswerte Sätze, die mit dem Fußball als Teil der politischen Kultur zu tun haben: „Der WM-Titel 2014 war das letzte große Volksfest, das es in Deutschland gegeben hat. Egal, was man gedacht oder geglaubt hat – alle haben gefeiert. Danach kamen die Flüchtlingskrise, Corona und der Absturz im Fußball. Wir wollten mit der Doku dieses Gefühl wieder erzeugen, den Feiertag.“
WM 2018 und WM 2022: Bauchlandungen in Russland und Katar
1954 war es das westdeutschlandweite „Wir sind wieder wer“, 1974 der WM-Sieg einer Wohlstandstruppe mitsamt Post-Hippies und im Triumph-Motto von 1990 schwang trotz der Rasenmalocher unter „Kaiser“ Franz das kosmopolitische Flair des Überfliegers Beckenbauer mit. Es umwaberte die viel zu früh gestorbene „Lichtgestalt“ noch, als die WM 2006 Deutschland anhand gegeben wurde. Auf das in der Doku neu ausgeleuchtete Rio-Drama 2014 folgten mit den Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 in Katar zwei solche Bauchlandungen in jeder Hinsicht, dass ein neuerlicher Feiertag, wie NDR-Moderator Roschitz ihn nennt, die Volksseele streicheln könnte.
Fußball und Filmen leben vom Timing. Manchmal sieht man erst nach zehn Jahren, wie das alles zusammenpasst. Bei Weltmeister Benedikt Höwedes springt das Kopfkino an, wenn er an 2014 denkt: „Da sind die Bilder, die Erlebnisse, die Farben. Und es ist die Gemeinschaft in einer Truppe mit dem großen Ziel vor Augen: Weltmeister werden. Wir wussten, wir können das nicht nur schaffen, wir sind einfach dran.“
Wir Weltmeister: zehn Jahre nach der WM 2014 in Brasilien am 25. Mai 2024 im Ersten, bereits am 22. Mai in der ARD-Mediathek. Dazu der Podcast von Sven Kaulbars und Martin Roschitz mit Benedikt Höwedes, Joachim Löw und anderen.