Hamburg. Das Katar-Turnier ist die bisher umstrittenste WM – als Reporter vor Ort die schlimmste und wichtigste zugleich.

Nun ist es so weit. Es geht los. Oder besser: Ich muss los. Diese Zeilen schreibe ich im Flieger von Hamburg nach Istanbul, von wo es zwei Stunden später weiter nach Doha geht. Nach Katar. Zur Fußball-Weltmeisterschaft. Zum größten Sportereignis dieses Jahres. Und zum größtmöglichen Skandal der Fußball-Geschichte.

Als Journalist sind Welt- und Europameisterschaften extrem anstrengend, aber auch extrem schön. Man ist wochenlang von der Familie weg, ist aber auch wochenlang mit Kollegen aus der ganzen Welt unterwegs, die man sehr mag und im Alltag nur selten sieht. Und man macht Erfahrungen, die man sonst nie machen würde. Bei der Euro 2012 durfte ich die Ukraine kennen- und lieben lernen, die es in Teilen heute so leider nicht mehr gibt.

Wenn ich ganz ehrlich bin, freue ich mich auch auf die Spiele

Bei der WM 2014 mussten wir eine ganze Nacht mit einem Kleinbus von Recife nach Salvador fahren, nachdem wir nach sintflutartigen Regenfällen unseren Flieger verpasst hatten. Der Lohn: Als Philipp Lahm in Rio den WM-Pokal hochstreckte, saßen wir nur wenige Reihen daneben und wurden diesmal vom goldenen Konfettiregen übergossen. Bei der EM 2016 dann mein größter Triumph: Mein Sohn wurde geboren. Genau zwischen Achtel- und Viertelfinale. Drei Tage war ich in Hamburg – und habe kein Deutschland-Spiel verpasst. Perfektes Timing! Die WM in Russland war dann schon sehr merkwürdig, genauso wie die Corona-EM in ganz Europa. Und nun also Katar.

„Freust du dich eigentlich auf die WM?“, wurde ich in den Tagen vor meinem Abflug immer wieder gefragt. Nur habe ich keine richtige Antwort darauf. Ich freue mich über die Politisierung des Fußballs und über die Chance, dass ich für das Abendblatt und die Funke Medien Gruppe schon das ganze vergangene Jahr über all die wichtigen Themen rund um die WM recherchieren und berichten durfte. Ich freue mich darüber, dass ich im März und April schon vor Ort war, mit Arbeitern gesprochen habe, mit einer Frauennationalspielerin, mit Menschenrechtsaktivisten. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann freue ich mich trotz aller Vorbehalte und Zweifel auch auf die Fußballspiele, die ich in den nächsten Wochen sehen darf.

Als Fußball-Fan darf man hinschauen

Aber: Ist es bei dieser WM wirklich richtig und wichtig zu berichten, ob Süle oder Rüdiger der bessere Innenverteidiger ist? Ob Havertz oder Füllkrug im Sturm spielen sollte? Und ob Götze noch einmal den Messi machen kann? Diese Fragen stelle ich mir genauso wie die Frage, wie die Fifa es wagen konnte, diesen wunderbaren Sport endgültig kaputt zu machen.

Jeder hat eine eigene Meinung zu dieser WM – und das ist auch gut so. Ich finde es genauso verständlich, dass man kein einziges Spiel guckt, wie die Meinung, dass man sich auf jede einzelne Partie freut. Und ja, man darf diese WM, die gekauft wurde, für die Menschen sterben mussten und die die größte Schande der Fußball-Geschichte ist, sogar genießen. Man sollte nur differenzieren können: Man sollte nicht genervt sein, dass alles so negativ gesehen wird, dass abends schon wieder eine Fernsehdoku über die Menschenrechte läuft. Als Fußball-Fan darf man hinschauen: bei den Spielen – aber auch bei all den Hintergrundberichten drum herum.

Die Welt guckt nach Katar – und das ist gut

Es wird Leser geben, die wollen wissen, wer im deutschen Sturm und wer in der Innenverteidigung spielt. Und es wird Leser geben, die wissen wollen, was aus den neun Kenianern geworden ist, die auf fünf Quadratmetern unter unmenschlichen Bedingungen in Doha leben und die wir im Frühling besucht hatten. Die Welt guckt nach Katar – und das ist gut. Natürlich darf man auch Dinge in dem weit entfernten Emirat kritisieren, die in Deutschland möglicherweise auch nicht perfekt laufen. Die Arbeitsbedingungen der Spargelbauern sind auch unmenschlich? Homosexuelle haben es in der Provinz bei uns auch schwer? Das mag stimmen – aber es ist kein Argument, in Katar nicht trotzdem ganz genau zu recherchieren.

Für mich als Journalist ist es die schlimmste und wichtigste WM zugleich. Obwohl ich genervt bin, dass ich schon vor dem ersten Anpfiff sämtliche Daten über mich an Katar und die Fifa übermitteln musste, dass ich aus Sorge vor Spy-Apps ein Extra-Handy brauche und man sich im Hotel fragen muss, ob man beobachtet wird oder nicht, habe ich mich entschieden: Ich freue mich auf diese WM.