Hamburg. Die Bundestrainer Barbara Rittner und Michael Kohlmann sprechen über die Folgen des schwindenden Interesses am Leistungssport.
Es waren Zahlen, die den deutschen Leistungssport aufrütteln müssen. Eine Studie, die das private Augsburger „Institut für Generationenforschung“ vor wenigen Wochen veröffentlichte, impliziert ein dramatisch schwindendes Interesse der „Generation Z“ (Jahrgänge 1995 bis 2010) an Sportveranstaltungen.
Nur noch 40 Prozent, um ein Beispiel zu nennen, interessieren sich für Olympische Spiele. Schlimmer noch: Auch das aktive Sporttreiben ist nicht mehr in Mode, nur an 2,7 Tagen pro Woche im Schnitt sind Jugendliche sportlich aktiv, E-Sport vor dem Bildschirm ist darin schon inkludiert.
Wer die Auswirkungen dieser Erhebung verstehen und vor allem die notwendigen Konsequenzen diskutieren möchte, muss mit denen sprechen, die täglich mit der Thematik konfrontiert sind. Barbara Rittner und Michael Kohlmann sind im Deutschen Tennis-Bund (DTB) als Chefbundestrainer seit vielen Jahren – Rittner (50/Köln) seit 2009 für die Damen, Kohlmann (49/Hagen) seit 2015 für die Herren – mit der Entwicklung von Talenten befasst.
Studie spiegelt Gesellschaft wider
In dieser Woche sind die beiden Ex-Profis bei den Hamburg European Open am Rothenbaum vor Ort, und im Gespräch mit dem Abendblatt zeigen sie sich keineswegs überrascht von der Entwicklung. „Diese Studie spiegelt die Mentalität wider, die sich in der gesamten deutschen Gesellschaft finden lässt. Man will schnellen Erfolg, aber nicht lang darauf hinarbeiten müssen. Selbst nur vier Tage arbeiten, aber erwarten, dass alle Dienstleister 24 Stunden sieben Tage die Woche verfügbar sind“, sagt Barbara Rittner.
Michael Kohlmann hat beobachtet, „dass die Bereitschaft, sich für eine Karriere im Spitzensport abzumühen, immer geringer wird. Man braucht dafür Geduld, Leidenschaft und im Tennis auch einen finanziellen Background. Auf diesem Weg verlieren wir leider viele.“
Tatsächlich muss im Tennis zwischen Breiten- und Spitzensport deutlich differenziert werden. Als einer der Corona-Gewinner hatte Tennis – das in der Pandemie im Freien auf Abstand gespielt werden konnte – einen Zuwachs an Aktiven verzeichnen können.
Weniger Auswahl als früher
Nicht nur in Hamburger Vereinen herrscht bis heute oft Aufnahmestopp für jugendliche Interessenten, da zu wenige Trainingskapazitäten zur Verfügung stehen. Den Weg von der Breite in die Spitze allerdings, den wollen immer weniger Talente gehen.
Das hat auch Andrea Petkovic beobachtet. Die 35 Jahre alte Rothenbaum-Turnierbotschafterin, die im Herbst 2022 ihre aktive Karriere beendet hatte und beim DTB auf Honorarbasis als Beraterin für Talente arbeitet, sagt: „Als ich anfing, waren wir mindestens ein Dutzend Spielerinnen, die sich gegenseitig gepusht haben, wovon alle profitierten. Heute sind es vielleicht vier oder fünf pro Generation.“
Dieses Phänomen beklagen auch die beiden Chefbundestrainer. Es sei grundsätzlich kein Einstellungsproblem beim Nachwuchs zu erkennen. „Die, die wirklich Leistungssport betreiben wollen, arbeiten hart und geben dafür alles. Es sind nur leider wenige, und sie kommen später als in vielen anderen Ländern, weil in Deutschland die Ausbildung einen viel höheren Stellenwert genießt“, sagt Kohlmann.
Anerkennung des Sports fehlt
Barbara Rittner sieht die schwindende Quantität ebenso als problematisch an. „Die Resilienz, die Andrea Petkovic oder auch Angie Kerber hatten, ist nicht mehr so ausgeprägt, dadurch brechen immer wieder Talente weg. Und wenn heute eine Spielerin, auf die wir gebaut haben, aufhört, fehlt gleich ein Viertel, wo es früher ein Zehntel war“, sagt sie.
Ein weiteres Problem im Vergleich mit asiatischen, amerikanischen, aber auch anderen westeuropäischen Nationen sei in Deutschland die fehlende gesellschaftliche Anerkennung für den Leistungssport. „Der generelle Stellenwert des Sports ist längst nicht mehr der, den ich aus meiner aktiven Zeit kenne. Das Erste, was heute in der Schule ausfällt, ist Sportunterricht“, sagt Barbara Rittner.
Kohlmann glaubt, „dass das angesichts des riesigen Angebots an Freizeitmöglichkeiten, die Jugendliche heute haben, leider der Lauf der Zeit ist.“
Mehr Heimturniere helfen
Was aber ist zu tun, um den Bedeutungsverlust des Leistungssports nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren? „Eine Möglichkeit wäre, die Kooperation mit Schulen und Universitäten zu reformieren. Das Collegesystem in den USA, wo alles auf die Sportstipendiaten zugeschnitten ist, vereint das, was uns in Deutschland wichtig ist, mit dem, was für den Leistungssport wichtig wäre“, sagt Michael Kohlmann.
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Barbara Rittner wünscht sich „deutlich mehr Heimturniere insbesondere bei den Damen. Was der Heimvorteil freisetzt, sehen wir ja gerade in dieser Turnierwoche, und Talente brauchen Vorbilder, die sie live spielen sehen können.“
Eine gute Nachricht ist in diesem Zusammenhang, dass der Hamburger Verband die Bestätigung erhielt, in der Woche vom 16. bis 22. Oktober im Leistungszentrum in Horn ein Challengerturnier für Herren und ein ITF-Event für Damen ausrichten zu dürfen.
Tennis braucht neue Formate
Zudem müsse sich Tennis auch dem veränderten Nutzungsverhalten anpassen. „Wir brauchen neue Formate mit kürzeren Spielformen, damit wir für das Fernsehen wieder interessanter werden und vielleicht auch attraktiver für die Jugendlichen, die keine Lust mehr haben, sich für ein Fünfsatzmatch zu quälen“, sagt Barbara Rittner.
Michael Kohlmann hofft, dass die Alarmsignale nicht nur beklagt, sondern als Handlungsanweisung begriffen würden. „Viele finden in Deutschland nur Sport gut, der erfolgreich ist. Dass man dafür aber etwas tun muss, vergessen wir gern. Da müssen wir wieder umdenken.“