Hamburg. Sandra Reichel ist seit fünf Jahren Direktorin des traditionsreichsten deutschen Tennisturniers. Eine Bilanz ihrer Amtszeit.

Kein Mensch ist wunschlos glücklich, irgendwas ist ja immer. Aber auf die Frage, was für die anstehende Turnierwoche ihr größter Wunsch sei, überlegt Sandra Reichel lange. Etwas Banales wie „dass alles gut läuft“ möchte sie nicht sagen.

Sie schließt die Augen, horcht in sich hinein, eine Minute lang geht das so. Schließlich sagt sie: „Jeden Tag über die Anlage zu gehen und zu sehen, dass alle Freude haben. Positive Emotionen zu spüren, das wünsche ich mir am meisten.“

Ein schöner Wunsch ist das, weil er umreißt, für was die 52 Jahre alte Österreicherin seit nunmehr fünf Jahren fast jeden Tag arbeitet. 2019 waren sie und ihr Vater Peter-Michael Reichel mit ihrer Agentur Matchmaker angetreten, um dem traditionsreichsten deutschen Herrentennisturnier neue Impulse zu geben.

Herausforderungen waren enorm

Wenn von diesem Sonnabend bis zum 30. Juli die Hamburg European Open am Rothenbaum ausgespielt werden, wird die Handschrift der Turnierdirektorin deutlich zu erkennen sein. Seit vergangenem Jahr spielen Damen und Herren in einem kombinierten Event ihre Besten aus.

Es wird ein umfangreiches Rahmenprogramm geben mit Inklusionssport, einem Nationencup für den weiblichen Nachwuchs, Angeboten für Kinder und Familien und viel kulturellem Beiwerk. „Mein Traum war, als wir in Hamburg angetreten sind, dass wir mehr werden als ein Tennisturnier. In diesem Jahr werden wir das erreichen, was ich immer wollte“, sagt sie.

Der Weg dorthin war allerdings kein leichter. Nach dem Premierenjahr kam Corona, zwei Jahre lang war an einen geregelten Turnierbetrieb nicht zu denken. „Die Herausforderungen waren enorm“, sagt Sandra Reichel im Rückblick, „aber wir haben immer den festen Willen gehabt, es hier in Hamburg zu schaffen. Wir haben viel Energie und auch Geld in dieses Turnier gesteckt, weil wir gesehen haben, wie viel Potenzial der Standort hat.“

Reichel versteht sich als Teamplayerin

Das Wort „wir“ in ihren Ausführungen hat besonderes Gewicht. Sandra Reichel steht ungern im Mittelpunkt. Sie versteht sich als „absolute Teamplayerin, mir ist bewusst, dass ich es ohne meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter niemals geschafft hätte. Sie alle gehen mit mir durch dick und dünn, und dafür bin ich zutiefst dankbar.“

Tatsächlich hat sich die ehemalige Profispielerin, die es in der Weltrangliste im Einzel bis auf Position 449 schaffte, einen inneren Kreis an Vertrauten aufgebaut, der eisern zu ihr hält. Die Mannschaft, die am Rothenbaum zum Gelingen beiträgt, kennt sie zu großen Teilen von früheren Turnierstandorten wie Nürnberg oder Linz. Diejenigen, die in Hamburg aus den Zeiten ihres Vorgängers Michael Stich geblieben sind, mussten sich das Vertrauen der neuen Chefin erst erarbeiten.

Und es gibt welche, denen das nicht gelungen ist. Mehrere ehemalige und aktuelle Geschäftspartner, die sich aus Sorge um ihr Business nicht namentlich zitieren lassen wollen, berichteten vor allem in der Anfangszeit von ruppigem Umgangston und extrem hohen Anforderungen, zähem Feilschen um zustehende finanzielle Leistungen, fehlender interner Kommunikation und einem herablassenden Verhalten gegenüber kleinen Sponsoren.

Hang zum Perfektionismus

„Sie weiß, wen sie umgarnen muss, damit es läuft. Die Menschen in ihrem Umfeld müssen funktionieren, alles andere ist egal. Das habe ich in der Form nie erlebt“, sagt eine Person, die seit mehr als einem Jahrzehnt für das Turnier tätig ist.

Sandra Reichel weiß, dass sie mit ihrem Hang zum Perfektionismus aneckt. „Mir ist bewusst, dass mich auch aus meinem Team manche gern mal auf den Mond schießen würden“, sagt sie. Ihr Anspruch sei aber nun mal, immer am Optimum abzuliefern.

„Wer etwas erreichen will, der muss sich durchbeißen“, sagt sie, und daraus lässt sich durchaus heraushören, dass sie derlei Einsatzbereitschaft nicht nur von sich selbst erwartet. Trotzdem stehen die Menschen aus ihrem engen Umfeld fest an ihrer Seite. „Der Grund, warum wir alle hier sind und alles für das Gelingen des Turniers geben, ist Sandra. Mit ihrer Art hält sie die Mannschaft zusammen“, sagt Ullrich Jelinek aus dem Medienteam.

Positive Wandlung durchlebt

Positiv wirkt auf Beobachter, die Sandra Reichel erst seit ihrer Hamburger Zeit kennen, die Wandlung, die sie durchlebt hat. Im ersten Jahr traf man eine Frau, die niemandem, den sie nicht kannte, vertraute, die in Gesprächen so verschlossen wirkte, als unterläge alles, was in ihrem Verantwortungsbereich lag, höchster Geheimhaltungsstufe.

Die Kommunikation übernahm ihr Vater, in seiner Art offen wie ein Scheunentor am Erntedankfest, der sich inzwischen sehr zurückgenommen hat. „Er hat sich bewusst rausgezogen, weil es für meine Entwicklung wichtig war, spielt als Ratgeber aber noch immer eine wichtige Rolle“, sagt sie.

Das Kommunikative des Papas hat die Tochter mittlerweile selbst übernommen. Zwar dauert es in vertraulichen Gesprächen noch immer ein paar Minuten, bis sie ihre vorm Oberkörper verschränkten Arme löst, und das skeptische Hochziehen einer Augenbraue bei ihr nicht genehmen Fragen bleibt ein Markenzeichen.

Eine Rampensau wird sie nie sein

Aber Sandra Reichel gibt sich längst zugewandter, offener, nahbarer. Eine Rampensau, die einen Saal unterhält, wird sie nie sein. Aber dafür hat sie mit der ehemaligen Weltklassespielerin Andrea Petkovic ja eine Turnierbotschafterin engagiert, die ihr diese Aufgaben abnimmt.

„Im ersten Jahr fehlten mir Sicherheit und Selbstvertrauen, auch weil im Zuge der Übernahme einige zwischenmenschliche Dinge passiert sind, die ich so nicht kannte“, sagt sie. Sie sei in der Gewissheit angetreten, dass nach der zehnjährigen Ära des Hamburger Tennis-Idols Stich alle ihre Arbeit misstrauisch beäugen würden, zumal Frauen im Sportbusiness immer härter arbeiten müssten, um ernst genommen zu werden.

Der Wendepunkt sei gewesen, als sie am ersten Turnierdienstag die Warteschlangen vor den Kassen gesehen habe. „Da wusste ich: Die Leute kommen wegen des Turniers, und genau das ist es, was ich möchte: Tennis in Hamburg für die Fans weiterentwickeln“, sagt sie.

Hamburg liegt ihr am Herzen

Dass ihr die Stadt am Herzen liegt, hat Sandra Reichel längst bewiesen. Sie hat eine Wohnung unweit der Anlage und versucht, so oft wie möglich vor Ort zu sein. „Es war spannend zu beobachten, dass Sandra sehr schnell eine enge Bindung zu Hamburg aufgebaut hat. Es hat nicht lange gedauert, dass sie zum ersten Mal von ihrer ,zweiten Heimat‘ gesprochen hat. Dieser Funke ist auf unser ganzes Team übergesprungen“, sagt Carla Nareyka, Head of Side Events & Sponsoring Relations und seit vielen Jahren Reichels rechte Hand.

Als Sandra Reichel 2020 zur „Hamburgerin des Jahres“ in der Kategorie Sport gekürt wurde, habe sie das nicht fassen können. „Das ganze Team hat sich unglaublich für sie gefreut, es war zugleich ein Ansporn, uns weiterzuentwickeln. Vor allem die Menschen hier sind ihr wirklich ans Herz gewachsen“, sagt Nareyka.

Sandra Reichels wohl wichtigstes Verdienst ist es, die am komplizierten Kon­strukt Rothenbaum beteiligten Parteien – Stadt, Bezirk, Deutscher Tennis-Bund als Lizenzinhaber des Herrenturniers, Club an der Alster als Eigentümer der Anlage – an einen Tisch gebracht zu haben, um die 2020 abgeschlossene Renovierung des Center-Courts zu ermöglichen.

Erst 2022 kleiner Gewinn

Dass sie ohne die Zehn-Millionen-Finanzspritze der Alexander-Otto-Sportstiftung und die großzügige Alimentierung durch die Stadt, die unter Stichs Ägide 100.000 Euro pro Jahr gab und seit Reichels Amtsübernahme das Siebenfache zahlt, die ersten Jahre kaum überstanden hätte, gehört auch zur Wahrheit. Erst im vergangenen Jahr blieb ein kleiner Gewinn.

Aber das Vertrauen aller Partner und Sponsoren, die ihr auch während der Pandemie die Treue hielten, spricht für sich. „Sie ist ein Glücksfall für Hamburg. Trotz schwieriger Umstände hat sie das Turnier modern positioniert, noch breiter gesellschaftlich verankert und zu einem Event mit internationaler Strahlkraft ausgebaut. Ich habe großen Respekt vor ihrem Mut und ihrer Willenskraft und schätze die sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit“, sagt Sportsenator Andy Grote.

Es gehört wohl zu ihrem von Herausforderungen gepflasterten Weg, dass just, da Sandra Reichel entgegen ihrem zurückhaltenden Naturell auf der Pressekonferenz „das perfekte Turnier“ ankündigte, dieses 2024 schon wieder Geschichte sein wird. Der DTB hat die Ausrichtung des Herrenturniers an die Agentur Tennium übertragen, die Zukunft des Damenturniers, dessen Lizenz den Reichels gehört, ist unklar.

Sie vergisst sich manchmal selbst

Darüber sprechen möchte die Turnierdirektorin, die im Hintergrund natürlich längst an Lösungen arbeitet, erst nach dem letzten Ballwechsel dieses Jahres. Erst dann könne sie sich entspannen, auch selbst mal positive Emotionen zulassen.

„Die Sandra ist ein herzensguter Mensch, sie will es immer allen recht machen und vergisst sich dabei manchmal selbst“, sagt eine, die es wissen muss: ihre Mutter Eva Reichel. Das Privatleben ihrer Tochter sei angesichts ihres hohen Anspruchs an die Arbeit und das Wohlergehen der Familie ab und an auf der Strecke geblieben. Was also wäre der Mutter größter Wunsch für die Zukunft? „Dass die Sandra auch mal an sich denkt.“

Die letzten Wildcards für das Damen-Hauptfeld erhielten am Freitagnachmittag die Hamburger Toptalente Noma Noha Akugue (19) und Ella Seidel (18). Die Hauptfelder werden am Sonnabend (13 Uhr) im Lexus Forum (Nedderfeld 65) ausgelost. Spielbeginn der Qualifikation ist am Sonnabend um 10.30 Uhr.