Hamburg. Tennis-Legende Michael Stich spricht im Abendblatt über seinen Sieg vor 30 Jahren in Hamburg und die Wegmarken seiner Karriere.
Das T-Shirt, das er trägt, als er das Abendblatt zum Gespräch im Büro seiner Stiftung an der Heilwigstraße empfängt, ist Programm. „Rothenbaum Champion 1993“ steht darauf, und weil Michael Stich vor 30 Jahren tatsächlich der letzte deutsche Tennisprofi war, der das Hamburger Traditionsturnier gewinnen konnte, ist es an der Zeit, mit dem 54-Jährigen über die wichtigsten Wegmarken seiner Karriere zu sprechen. Natürlich spielt dabei auch sein sportlich größter Erfolg eine Rolle – der Triumph 1991 in Wimbledon, wo vom kommenden Montag an wieder aufgeschlagen wird.
Herr Stich, 30 Jahre sind vergangen, seit Sie am Rothenbaum das Finale gegen den Russen Andrej Tschesnokow gewannen. Wird Ihnen dieser Jahrestag von Jahr zu Jahr wichtiger oder unwichtiger?
Michael Stich: Darüber habe ich tatsächlich noch nie nachgedacht. Es ist nicht so, dass ich von Jahr zu Jahr stolzer werde. Natürlich zeigt die lange Zeitspanne, dass es nicht einfach ist, am Rothenbaum zu gewinnen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass zwischen meinem Triumph und dem von Wilhelm Bungert als vor mir letztem Deutschen auch 29 Jahre lagen. Ich will es mal so sagen: Jedes weitere Jahr zeigt mir, dass ich älter werde. Mir ist das Jubiläum nicht egal, aber für das Turnier wäre es schön, wenn es wieder einen deutschen Sieger gäbe. Kandidaten gab und gibt es ja.
Wie ordnen Sie nach mittlerweile 30 Jahren den Titelgewinn in Hamburg in Ihre Karrierebilanz ein?
Es war wegen meiner Nähe zu diesem Turnier der mit Abstand emotionalste Triumph. Ich hatte mir zu Beginn meiner Karriere eine Liste mit Dingen gemacht, die ich unbedingt erreichen wollte. Der Sieg am Rothenbaum stand ganz oben. Als ich vom damaligen Daviscup-Teamchef Niki Pilic zum ersten Mal eine Wildcard für die Qualifikation bekam, hatte ich mich zehn Tage vor dem Turnier beim Fußball, was ich damals noch parallel spielte, verletzt. Trotzdem bin ich natürlich angetreten. Das hätte ich auf keinen Fall verpassen wollen.
Böse Abreibung beim ersten Auftritt
1992 standen Sie in Hamburg zum ersten Mal im Finale, haben es gegen Stefan Edberg verloren. War das einer der bittersten Momente, weil Sie befürchten mussten, Ihren Traum nicht realisieren zu können?
Natürlich war das nicht einfach. Schon mein erstes Hauptfeldmatch 1989 am Rothenbaum war sehr bitter, ich wurde vom Schweden Jonas B. Svensson übel verprügelt, verlor 4:6, 0:6. Das will man bei seinem Heimturnier nicht erleben. Ein Jahr später war es gegen den Schweizer Jakob Hlasek beim 6:7, 4:6 schon knapper. Im Jahr darauf stand ich gegen den Tschechen Karel Novacek im Halbfinale, danach kam die Finalniederlage gegen Stefan. Als ich es 1993 dann gepackt hatte, war das schon wie eine Erlösung. Aber es blieb kaum Zeit, es zu genießen. Traum erfüllt, abhaken, weiter geht’s – so war das damals, und so ist es auch heute noch im Profisport.
Wann haben Sie realisiert, was Ihnen da gelungen war?
Erst, als ich mit dem Tennis aufgehört hatte. In dem Moment selbst gibt einem so ein Triumph zwar Selbstvertrauen und das Bewusstsein, dass es keine Limits gibt. Aber Verarbeiten und Realisieren, dafür bleibt keine Zeit. Im Rückblick bin ich extrem dankbar dafür, dass ich das erleben durfte. Es bedeutet mir wirklich viel.
Zum 25. Jubiläum vor fünf Jahren haben Sie sich gemeinsam mit dem Abendblatt das Endspiel noch einmal in voller Länge angeschaut. Tun Sie so etwas öfter, um in der Vergangenheit zu schwelgen?
Überhaupt nicht. Erst seit ich 50 Jahre alt bin, schaue ich mir ab und an Aufzeichnungen früherer Matches an, weil ich mich dadurch ein Stück weit neu kennen lernen kann. Man neigt ja dazu, Vergangenes zu verklären. Aber ich muss zugeben, dass längst nicht alles gut war damals. Vor Kurzem habe ich mir ein Match von mir gegen Jim Courier in Indian Wells angeschaut und mir dabei gedacht: Wie schlecht kann man eigentlich Tennis spielen? Ich muss als Experte meinen Mund halten! Dann wieder gibt es Passagen wie den dritten Satz im Halbfinale der French Open 1996 gegen Marc Rosset, da habe ich perfekt gespielt. So etwas macht Freude und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Aber das ist es dann auch. Ich bin nicht gut im Erinnern.
Mythos Wimbledon erst spät verstanden
Wenn wir über die Wegmarken Ihrer Karriere sprechen, darf selbstverständlich Wimbledon nicht fehlen. War der Sieg dort 1991 der sportlich größte Ihrer Karriere?
Ohne Zweifel. Ich habe dort immerhin eine 100-Prozent-Siegquote, habe alle meine Finals, die ich dort gespielt habe, gewonnen. Aber im Ernst: Auch diesen Erfolg konnte ich erst nach der Karriere einordnen, weil du als Spieler das größere Bild, das Wimbledon bietet, nicht verstehst. Erst, als ich als Zuschauer und später als Experte zurückkehrte, konnte ich mich darauf einlassen, was der Mythos Wimbledon wirklich bedeutet.
Was ist als Zuschauer in Wimbledon denn anders als als Teilnehmer? Wie ändert sich dadurch die Perspektive?
Wer in Wimbledon gewonnen hat, bekommt in jedem Jahr einen Button zugeschickt, der einen als Ehrenmitglied des All England Lawn Tennis Clubs ausweist. Anfangs wusste ich gar nicht, was ich damit anfangen soll. Aber als ich, mit diesem Anstecker am Revers, in den Club kam, merkte ich, dass er mir jede Tür öffnet. Das hat mir die andere Ebene dieses Turniers vor Augen geführt. Ich möchte in diesem Jahr unbedingt nach dem Turnier mit Freunden auf einem der Rasenplätze Doppel spielen und im Club zu Mittag essen. Das habe ich bislang noch nicht geschafft.
Djokovic und Swiatek Favoriten
Am Montag startet die 136. Ausgabe des Rasenklassikers in London. Wer holt die Titel?
Natürlich muss man Novak Djokovic als Favorit nennen, er hat die Vision, in diesem Jahr alle vier Grand-Slam-Turniere zu gewinnen. Aber mein Titelfavorit ist Carlos Alcaraz, der gerade in Queen’s seinen ersten Rasentitel gewonnen hat. Er hat eine enorme Spielfreude, lernt sehr schnell und besitzt die Fähigkeit, sich und sein Spiel schnell anzupassen. Bei den Damen ist es noch offener. Aryna Sabalenka spielt eine starke Saison, mit Titelverteidigerin Elena Rybakina ist auf jeden Fall auch zu rechnen. Aber meine Favoritin ist Iga Swiatek, die aus ihrer Drittrundenniederlage im vergangenen Jahr die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Zurück zu Ihren wichtigsten Titeln. Welchen Stellenwert hat der Sieg im Daviscup 1993?
Er steht mit Hamburg und Wimbledon auf einer Stufe, weil der Daviscup damals ein ganz besonderer Wettbewerb war. Nach den Triumphen 1988 und 1989 schauten alle deutschen Sportfans zu, und ich wollte diesen Titel unbedingt. Das Besondere an so einem Teamwettbewerb ist ja, dass man ihn nicht allein gewinnt und dadurch Freundschaften entstehen, die für das ganze Leben halten können. So ist es zum Beispiel bei Patrik Kühnen und mir. Ich mag 1993 der beste Einzelspieler gewesen sein, aber ohne ihn an meiner Seite im Doppel wäre ich nicht Daviscupsieger geworden.
Gibt es viele ehemalige Mitspieler oder auch Kontrahenten, zu denen Sie bis heute Kontakt pflegen?
Nein, nur wenige. John McEnroe würde ich dazuzählen, auch Richard Krajicek. Jim Courier, der war einer der ganz Wenigen, mit denen ich über andere Dinge als Tennis reden konnte. Aber das war es auch schon.
Michael Stich hatte vier Mentoren
Wie wichtig waren in Ihrer Karriere Mentoren? Wer waren die Menschen, die Ihnen zur Seite standen?
Neben meinen Eltern und Geschwistern sind es vier Menschen, die ich nennen möchte. Aufs Tennis bezogen war es Niki Pilic. Er hat mir uneingeschränkt seine Zeit und Leidenschaft geschenkt, damit ich aus meinem Potenzial das Beste herausholen konnte, und das ohne jede Bedingung. Mein Erfolg war sein Erfolg. Dann war es mein langjähriger Coach Mark Lewis. Obwohl er nur acht Jahre älter ist als ich, hat er mir nicht nur auf dem Platz wahnsinnig viel beigebracht, sondern auch für das Leben abseits des Tennis. Mit ihm habe ich bis heute eine besondere Verbindung, auch wenn er in Neuseeland lebt. Dazu kommen Arno Hartung, unser Teammanager beim Bundesligaclub Iphitos München, und Horst Klosterkemper, der im Europaverband und bei der ATP viel bewegt hat. Sie sind beide Oldschool-Menschen, die Dinge nicht für sich, sondern für andere tun. Ohne sie wäre meine Karriere nicht so verlaufen, wie sie verlaufen ist.
Wären Sie gern Mentor für einen Spieler der heutigen Generation? Mit Alexander Zverev hatten Sie zu Beginn seiner Karriere ein sehr persönliches Verhältnis, das schlagartig abkühlte, nachdem Sie ihn offen kritisierten…
Es fing mit seinem älteren Bruder Mischa an, mit dem habe ich, weil wir beide dem Uhlenhorster HC angehörten, sehr viel gespielt, da war Alexander noch ein Kleinkind. Später war es Tobias Kamke, den ich unterstützt habe. Es hat mir immer viel bedeutet, auch wenn es natürlich nicht schön ist, wenn Ratschläge nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Aber mein Credo war stets, dass ich mich nicht anbiedere. Ich erzähle von meinen Erfahrungen, wenn man mich danach fragt, aber ich erteile nie Anleitungen dafür, wie es richtig geht. Ich habe eine Meinung zu vielen Themen, aber ich will und werde diese niemandem aufdrängen.
Spaß am Spiel war sein Antrieb
Haben Sie das Gefühl, dass die heutige Generation weniger empfänglich für solche Ratschläge ist? Oder war es bei Ihnen früher gar nicht anders?
John McEnroe hat über mich damals auch Dinge gesagt, wo ich mich anfangs gefragt habe, was das soll. Aber wenn ich es dann reflektiert habe, war da ein Inhalt, der mir geholfen hat. Ich will das gar nicht auf ganze Generationen beziehen, es ist vielmehr eine Typfrage, wie man Ratschläge aufnimmt und damit umgeht. Carlos Alcaraz zum Beispiel wirkt auf mich wie jemand, der sehr offen alles aufsaugt, auch wenn ich noch nie persönlich mit ihm gesprochen habe. Ein Anstoß von außen kann immer helfen, um einen Perspektivwechsel zu erreichen und aus der Alltagsroutine auszubrechen.
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Als TV-Experte und Podcast-Host geben Sie Ihre Erfahrungen auch an die breite Öffentlichkeit weiter. Was bedeutet Ihnen das?
In erster Linie macht es mir Spaß, einen Einblick in das Profitennis geben zu können, wie ich es kennen gelernt habe und sehe. Wenn ich damit Menschen helfe, ihren Horizont zu erweitern, freut mich das. Für mich war immer der entscheidende Antrieb, Spaß am Spiel zu haben. Natürlich steht das Gewinnen über allem, aber es gab einige Matches, die ich gewonnen habe und danach stinksauer war, weil ich nichts von dem umgesetzt hatte, was ich mir vorgenommen hatte. Umgekehrt gab es Spiele, die ich verloren habe, aber mir nichts vorwerfen konnte. Diese Vielfalt zu zeigen, das ist mir wichtig.
Kein Besuch am Rothenbaum
Gibt es noch ein Amt im Tennis, das Sie gern übernehmen würden, um Erfahrungen weiterzugeben? Daviscup-Teamchef waren Sie, DTB-Präsident war ja mal ein Thema.
Nein, es gibt nichts, was mir fehlt, weil ich alles, was ich wirklich machen wollte, gemacht habe. Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem passieren kann, dass ich noch mal ein Amt übernehme. Aber Turnierdirektor am Rothenbaum zu sein war eigentlich ein sehr passender Abschluss.
Das waren Sie bis 2018, seitdem waren Sie nicht mehr dort. Wäre nicht dieses Jahr, mit dem 30. Jahrestag Ihres Triumphs, eine perfekte Gelegenheit?
Allein schon deshalb gehe ich auch dieses Jahr nicht hin, weil ich nicht im Mittelpunkt stehen möchte. Ich brauche noch Zeit, um einen angemessenen Abschluss zu finden. Der Tag, an dem ich wieder zum Rothenbaum gehe, wird kommen. Aber noch bin ich nicht so weit.