Hamburg. 20 Pferde rennen am Sonntagnachmittag in Hamburg-Horn um 650.000 Euro Preisgeld. Die Fachwelt ist sich aber uneins, wer gewinnt.

Von wegen Champagnerlaune. Extravagante Hutkreationen gehören beim Derby dazu, doch bei Schampus auf dem Sattelplatz hätte bestenfalls der Kelch Stil. In Englands Turf gesellschaftstauglich, doch für Hamburger Geschmack ein bisschen prollig. Passend zum Namen des Hauptsponsors ist auf dem Hippodrom im Südosten der Hansestadt Hamburg alles eine Idee vornehmer, dezenter.

Favorit Straight startet aus der Box acht in der Mitte der Bahn

Weniger kann mehr sein. So wie bei der Wahl des Getränks, das nach dem Rennen des Jahres ausgeschenkt wird. Es handelt sich um einen 2022er Grauburgunder, eine Privatabfüllung des Weinguts Oswald aus Wahlheim in Rheinhessen. Die im Waagegebäude deponierten Flaschen tragen die Aufschrift 154. Deutsches Derby, einen galoppierenden Vollblüter sowie das Logo des Hamburger Renn-Clubs von 1852 auf dem Etikett.

Auf der anderen Seite des Geläufs, zur Rennbahnstraße hin, ist ein sehenswertes Plakat platziert: Es zeigt die Stallfarben der bisherigen 153 Sieger. Auch wenn mit dem Hengst Straight an diesem Sonntag gegen 14.15 Uhr ein Topfavorit in Box 8 der Startmaschine einrückt, ist der Wettstreit um das Blaue Band des Besten traditionell für jede Überraschung gut. Tagesform, Rennverlauf sowie die Bodenbeschaffenheit nach vorhergesagt reichlich Regen am Sonnabend sind unkalkulierbare Faktoren. „Pferde sind auch nur Menschen“, pflegt man im Turf zu ulken.

Wie sind die beiden Hengste des Stalls Liberty einzuschätzen?

In Fachkreisen wird die Favoritenlage seit Wochen erörtert. Angebliche Hintergrundinformationen aus den Ställen drehen die Runde. Macht Straight, bravouröser Champion des Union-Rennens vor drei Wochen, seinem Namen alle Ehre, prescht auf der Zielgeraden kompromisslos geradeaus – und vorneweg? So wie zuletzt in Köln? Oder hat der zuvor hochgehandelte Mr Hollywood noch nicht alle Karten aufgedeckt?

Sind die Hengste des Stalls Liberty von Lars-Wilhelm Baumgarten, Fantastic Moon und Winning Spirit, so grandios auf dem Posten, wie es aus den Trainingsquartieren verlautet? Kommt Nachgeist kraftvoll und spurtstark aus dem Hintertreffen? Oder wurde Napolitano bewusst geschont, um im entscheidenden Moment einen Coup zu landen? Was meinen Experten, die seit Wochen Abstammungen studieren, Formen abwägen, Gewichtsverhältnisse der Jockeys vergleichen? Das Abendblatt fragte einige dieser Auguren nach ihrer Einschätzung.

„Sport-Welt“-Chefredakteur glaubt an Napolitano

„Ich glaube an Napolitano“, meint Pa­trick Bücheler, Chefredakteur der Fachzeitung „Sport-Welt“. Nach einem Außenseiter mit Überraschungschance befragt, nennt er If Not Now, die Startnummer 14. „Der Weg zum Sieg führt nur über Skylo“, ahnt Rennclub-Präsident Hans Ludolf Matthiessen. Der Hengst sei höchst talentiert, hatte zuletzt jedoch widrige Rennverläufe. „Sibylle Vogt im Sattel von Winning Spirit“, orakelt Schatzmeister Johann Riekers. Die Schweizerin mit Arbeitsort Köln habe sich aus mehreren Startern des Championtrainers Peter Schiergen gezielt für diesen Vollblüter entschieden. Ein deutlicher Hinweis.

Organisationschef Günther Gudert, seit Jahrzehnten nah dran an den Aktiven, betrachtet die Lage ganz anders: „Mr Hollywood macht’s.“ Bei trockenem Boden aber könne Merkur die Sensation schaffen. „Mein Vertrauen ruht auf Napolitano“, sagt HRC-Vizepräsidentin Catharina Wind.

Eine Mischung aus Außenseitertipp und Wunsch sei Skylo aus dem Gestüt Hof Ittlingen. Ihre Familie ist mit dem Besitzer befreundet. Michael Hähn wiederum, Profi des Sponsors Wettstar, Sonnabend Namenspatron des Großen Hansa-Preises, erwartet Straight vorn: „Wie er, vom letzten Platz kommend, die Gegner stehen ließ, war beeindruckend.“ Hähns Außenseitertipp, auf der Rennbahn als „Mumm“ bezeichnet: Nachtgeist.

Das Galopp-Derby wird in 28 Länder live übertragen

Zusammenfassung: Alles ist möglich. Mal wieder. Das Derby mit 20 Startern ist eben die Mutter aller Galopprennen, der Höhepunkt des Turfjahres: Wenn sich am Sonntag wegen der Liveübertragung nach Hongkong, in 27 weitere Länder und in 13.000 französische PMU-Wettannahmestellen schon um 14.15 Uhr die Startboxen zum 154. Deutschen Derby öffnen, ist es vorbei mit hanseatischer Zurückhaltung.

Es gehört zum guten Ton, dass die Zuschauer lautstark anfeuern, sobald das Feld erstmals die Haupttribüne passiert. Fachleute nennen dieses traditionelle Spektakel den „Horn Roar“. Eine Runde später steht der Triumphator fest. Es geht um 650.000 Euro Preisgeld plus Züchterprämien. Praktisch unschätzbar ist der Wert für die Vollblutzucht.

Hamburger Renn-Club hofft auf mehr als 2,1 Millionen Euro Wettumsatz

Da Rennen wie diese höchst lukrative Quoten garantieren, wird der Totalisator in Horn pulsieren. Dann entscheidet sich, ob der angepeilte Wettumsatz von gut 2,1 Millionen Euro während des fünftägigen Turfmeetings erreicht wird. Was Kostendeckung bedeuten würde. Im vergangenen Jahr wurden am Derbytag 1.006.983 Euro verzockt; allein im Derby selbst waren es 329.550 Euro.

Damals wurden in Horn 43.187 Wettscheine abgegeben. Der mit umgerechnet 1,27 Millionen Euro höchste jemals im wichtigsten deutschen Galopprennen erreichte Wettumsatz wurde 1993 verbucht, als Lando das Blaue Band gewann. Ob sein Stallkollege Skylo am Sonntagnachmittag ein ähnliches Bravourstück glückt? Der braune Hengst aus dem Gestüt Ittlingen wird von Robert Havlin geritten.

Champions-Jockey Andrasch Starke aus Stade sattelt Aspirant

Anhänger wird ebenfalls Gestüt Röttgens Aspirant finden. Der krasse Außenseiter war in der Union lediglich Sechster und hatte in großen Rennen bisher nie Siegchancen. Sein großes Plus: Im Sattel sitzt Lokalmatador Andrasch Starke. Der Norddeutsche ist im Derby stets topfit auf dem Posten und brillierte bisher achtmal als Champion von Hamburg. „Wir können überraschen“, meint Starke mehrdeutig.

Wegen der Derbyübertragung ins Ausland startet der Sonntag bereits um 10.45 Uhr mit einem Ausgleich II. Nach zwölf Rennen ist gegen 18 Uhr Halali für dieses Jahr. Zuvor darf sich das Publikum auf hochkarätigen Sport freuen. Es ist einmalig im deutschen Galoppsport, dass drei mit zusammen 760.000 Euro dotierte Grupperennen angeboten werden – direkt hintereinander.

Den Auftakt macht um 12.45 Uhr die Brümmerhofer Stuten-Meile (55.000 Euro, 1600 Meter), bevor eine halbe Stunde später das Hermann Schnabel-Gedächtnisrennen (55.000 Euro, 2200 Meter) ebenfalls für Stuten auf dem Programm steht. Es handelt sich um die stimmungsvolle Ouvertüre für das 154. Deutsche Derby. Der Grauburgunder „Oswald“ aus Rheinhessen ist kalt gestellt.