Hamburg. Der Hamburger Selcuk Erdönmez hat zum dritten Mal den härtesten Wüstenlauf der Welt geschafft. Warum er 2024 wieder starten will.
Die Frage nach dem Warum, die ihm so viele stellen und auf die er bislang immer dieselbe Antwort gab, stellte sich Selcuk Erdönmez Ende April selbst. Vollkommen entkräftet stand er an jenem Tag im Basislager, ausgezehrt von 45 Grad Hitze im Schatten, den es nicht gab. 28 Stunden Laufen ohne richtige Pausen, 90 Kilometer über 1330 Höhenmeter durch den Sand der Sahara in den Beinen.
Mit seinem österreichischen Laufpartner Sven zog er ein schonungsloses Fazit. „Wir waren als gesunde Männer angereist und fühlten uns physisch und mental gebrochen. Für uns war in diesem Moment klar, dass es keine Rückkehr geben würde.“
Eineinhalb Monate sind vergangen seit der Tortur auf der längsten Etappe des „Marathon des Sables“, der in der Extremläuferszene als härteste Prüfung angesehen ist, die dem menschlichen Körper zuzumuten ist.
Sechs Liter Wasser pro Tag erlaubt
Alles, was die Läufer benötigen, müssen sie im Rucksack, dessen Gewicht ebenso limitiert ist wie die auf sechs Liter angesetzte Tagesration Trinkwasser, mit sich tragen. Geschlafen wird in Zelten, die der Veranstalter stellt, verpflegen müssen sich die Ultraläufer mittels im Rucksack mitgeführter Nahrung selbst.
Über 243 Kilometer führte die Strecke, die jedes Jahr wechselt, bei der 37. Auflage des Höllenritts durch die marokkanische Wüste. Weil der über sechs Etappen an sieben Tagen angesetzte Lauf in diesem Jahr nach statt wie gewöhnlich vor dem islamischen Fastenmonat Ramadan stattfand, galt er wegen der extremen Temperaturen als zweithärteste Ausgabe der Geschichte – nur einmal war es noch heißer.
765 von rund 1200 Ausdauerathleten schafften es, er kam als 626. ins Ziel. Die Ausfallquote war doppelt so hoch wie sonst. „In unserem Zelt waren wir anfangs zu sechst, nur Sven und ich haben durchgehalten“, sagt Selcuk Erdönmez.
2021 starb ein Franzose
Reihenweise seien Mitlaufende kollabiert, auf der langen Etappe musste er mitansehen, wie ein Kollabierter reanimiert werden musste. Todesfälle sind zwar die Ausnahme, kommen aber dennoch regelmäßig vor, erst 2021 erwischte es einen Franzosen.
Selcuk Erdönmez sitzt an einem Abend im Juni am Esstisch seines Hauses in Marienthal. Vor sich hat er die drei Medaillen ausgelegt, die ihn als mittlerweile dreifachen Finisher ausweisen. 2016, bei seiner Premiere, als das Abendblatt erstmals über ihn berichtete, hatte er entkräftet aufgegeben. 2017, 2022 und in diesem Jahr zog er durch.
Als wäre das an sich nicht schon eine unfassbare Leistung, wird sie noch unglaublicher, wenn man weiß, dass der Hamburger weit davon entfernt ist, Profiathlet zu sein. Der 45-Jährige ist Vater von Lina (5), Sara (3) und Selim (1), arbeitet in Vollzeit als Jurist bei einer Hamburger Werft.
8000 Euro kostet die Teilnahme
Trainiert wird entweder frühmorgens, bevor die Kinder aufwachen, oder nach 21 Uhr, wenn alle im Bett sind. Sponsoren hat er keine, für den Wüstenlauf nimmt er Urlaub und zahlt für Teilnahmegebühren, Ausrüstung, Anreise und Verpflegung rund 8000 Euro.
Auf die Frage nach dem Warum hat er bislang stets dieselbe Antwort gegeben. „Ich möchte meinen Kindern zeigen, dass sie sich von nichts und niemandem Grenzen setzen lassen. Dass man alles schaffen kann, was man sich vornimmt, wenn man nur daran glaubt und den richtigen Willen hat.“
Nach dem ersten Zieleinlauf 2017 war die Motivation zur Rückkehr, dass jedes seiner Kinder eine Finisher-Medaille bekommen sollte. Nun, da dieses Ziel ebenfalls abgehakt ist, scheint es nichts mehr zu beweisen zu geben. Und dennoch erlebt man im Gespräch einen rastlosen Mann, der getrieben wirkt.
Die Qual hat etwas Bereinigendes
„Die Wüste zieht mich magisch an. Die Landschaft fasziniert mich jedes Mal aufs Neue“, sagt Selcuk Erdönmez. Für ihn habe die mörderische Qual etwas Bereinigendes, er fühle sich, reduziert auf das Minimum des Notwendigen, in der Sahara mental auf Neustart gesetzt, demütig und ganz bei sich. Würde er das, was er dort erlebt, als süchtig machend beschreiben? „Ja“, sagt er, „es lässt einen nicht los.“
Und dennoch hat sich etwas verändert, das ist spürbar, wenn man den Selcuk von heute mit dem vergleicht, der er vor und nach seinen ersten drei Teilnahmen war. Dieses Leuchten, das von Menschen ausgeht, die für eine Sache brennen, ist nicht mehr da. Stattdessen wirkt er ausgebrannt.
„Ich bin mental sehr erschöpft, weil ich keine Zeit hatte, das Ganze zu reflektieren“, sagt er zur Erklärung. Am 1. Mai war er aus Nordafrika zurückgekehrt, am 2. Mai saß er bereits wieder am Schreibtisch. Beruflich hat er als Abteilungsleiter mehr Verantwortung übernommen, da kann er sich keine zusätzlichen Auszeiten nehmen.
Vorbereitung schwieriger als sonst
Außerdem war die Vorbereitung in diesem Jahr schwieriger als sonst. Im Dezember legte eine Grippe ihn einen Monat lahm, im März konnte er wegen einer Dienstreise nach Brasilien kaum trainieren. „Ich war in einer schlechteren Verfassung als bei den Malen zuvor. Meine Erfahrung in der Einteilung meiner Kräfte und der Nahrung sowie der Gedanke an meine Familie haben mich durch das Rennen gebracht“, sagt er.
Lange hat seine Ehefrau Elif dem Gespräch schweigend zugehört. Sie war bislang immer eine treibende Kraft, weil sie ihrem Mann jegliche Unterstützung zusicherte und ihn darin bestärkte, jede Herausforderung anzunehmen. „Wir lieben Herausforderungen, ich arbeite ja auch in Vollzeit bei einem IT-Unternehmen, wir kümmern uns gemeinsam um die Kinder und bieten ihnen alles, was andere Kinder auch haben“, sagt sie.
Auf Nachfrage gesteht sie jedoch ein, sich in diesem Jahr deutlich mehr Sorgen gemacht zu haben. „Wegen der fehlenden Vorbereitung hatte ich diesmal kein gutes Gefühl, die Sorgen um ihn waren größer als sonst, das kann ich nicht verhehlen“, sagt sie.
Einfach nur laufen wäre ihm zu langweilig
Selcuk Erdönmez schaut in diesem Moment verwundert. Bislang hatte das Paar noch nicht die Muße, über dieses Thema zu sprechen. Auf Familienbesuch im türkischen Antalya, zu dem sie an diesem Wochenende aufbrechen, wollten sie zur Ruhe kommen und überlegen, wie es weitergehen soll.
- Familienvater läuft 250 Kilometer durch 45 Grad heiße Wüste
- 237 Kilometer durch die Wüste
- Grenzerfahrung in der Wüste: 257 Kilometer bei 45 Grad
Schon auf dem Flughafen in Casablanca hatten Selcuk und sein Laufpartner Sven erste Pläne für die Rückkehr 2024 geschmiedet, obwohl sie sich nach der Langetappe geschworen hatten, nicht noch einmal „all in“ gehen zu wollen. Er hofft darauf, einen Sponsor zu finden oder seinen Arbeitgeber zu überzeugen, seine fünfte Teilnahme als eine Art Charity-Lauf zu finanzieren.
Der Yukon Arctic Ultra reizt ihn
Ob es nicht vielleicht auch ein wenig risikoärmer gehen könnte? Es muss ja nicht „nur“ ein normaler Marathon sein, von denen Selcuk Erdönmez 16 hinter sich gebracht hat. Wüstenläufe gibt es auch in anderen Regionen der Welt; der Yukon Arctic Ultra, ein 200-Meilen-Rennen im Eis des kanadischen Nordwestens, reizt ihn schon lange.
Und seine Kinder sind in einigen Jahren vielleicht viel dankbarer, wenn der Papa, anstatt sein Leben dafür zu riskieren, um ihnen Vorbild zu sein, Geld und Zeit lieber in einen schönen Familienurlaub investiert, und einfach zum Ausgleich ein bisschen laufen geht.
Da jedoch verzieht Selcuk Erdönmez das Gesicht zu einer schiefen Grimasse. Einfach nur laufen zu gehen, das käme ihm nie in den Sinn. „Das ist mir viel zu langweilig. Ich brauche Ziele – ein Tagesziel, ein Wochenziel, Monats-, Quartals- und Halbjahresziele, die mir eine Struktur geben“, sagt er. Und man ahnt in diesem Moment, dass er eine neue Antwort auf die Frage nach dem Warum finden wird.