Hamburg. Der Hamburger Extremläufer Selcuk Erdönmez lief den Marathon des Sables in der Sahara, eines der härtesten Rennen der Welt
Im September will Selcuk Erdönmez den Berlin-Marathon laufen, und er wird ihm vorkommen wie ein Spaziergang. Drei Wochen ist es her, da hätte er sich gewünscht, 42,195 Kilometer auf Asphalt laufen zu dürfen. Stattdessen taumelte er, am Ende aller physischen und mentalen Kräfte, in einer windstillen Vollmondnacht durch die marokkanische Sahara, aufrecht gehalten nur von seinem unbändigen Willen durchzuhalten. Getrieben vom bohrenden Ehrgeiz, nicht wieder als der Verlierer nach Hamburg zurückzukehren, den er in sich selbst gesehen hatte.
Selcuk Erdönmez, in Marienthal lebender Sohn türkischer Eltern und als Jurist in Vollzeit im Bereich Naval Systems eines Kieler Technologiekonzerns beschäftigt, hat zu Ostern den Marathon des Sables bezwungen, ein Langstreckenrennen über 237 Kilometer durch Nordafrikas bekannteste Wüste, das auch bei erfahrenen Ultraläufern als eine der härtesten Prüfungen der Welt angesehen ist. 2016 hatte der 39-Jährige bei seinem ersten Anlauf bereits am zweiten Tag stark dehydriert aufgeben müssen. In diesem Jahr wollte er beweisen – allen Spöttern, vor allem aber sich selbst –, dass er die Herausforderung bezwingen und sich den Lebenstraum erfüllen kann, den er träumte, seit er als Jugendlicher einen Film über den Wüstenlauf gesehen hatte.
Das, was die Läufer brauchen, müssen sie mit sich tragen
Die Belastungen, die die in diesem Jahr 1190 Teilnehmer aus 52 Nationen, unter ihnen rund 20 Deutsche, aushalten mussten, sind unmenschlich. Bei Temperaturen von bis zu 50 Grad Celsius mussten an sechs Tagen fünf Etappen durch die Dünen- und Berglandschaft der Sahara absolviert werden, die kürzeste über 30,3 Kilometer, die längste über 86,2 Kilometer. Alles, was die Athleten an Verpflegung und Ausrüstung benötigen, müssen sie im Rucksack mit sich tragen. Ein Gesamtgewicht von mindestens 6,5 Kilogramm ist vorgeschrieben, maximal dürfen 14 kg mitgeführt werden.
Einige Ausrüstungsgegenstände wie eine Stirnlampe, ein Kompass und eine Entgiftungspumpe, die bei Skorpion- oder Schlangenbissen eingesetzt werden muss, sind Pflicht. Einzig das Wasser, limitiert auf neun Liter pro Tag, das an Zwischenstopps während der Etappen ausgegeben wird, und ein offenes Biwakzelt an den jeweiligen Zielpunkten, das mit sieben anderen Startern geteilt werden muss, stellen die Veranstalter. Erdönmez schaffte es dank des Verzichts auf Zwischenmahlzeiten und des Reduzierens von Verpackungen, das Gewicht seines Gepäcks von zwölf Kilo im Vorjahr auf 8,5 Kilo zu reduzieren.
Der frühere Fußballer ist keiner dieser drahtig-asketischen Ultraläufer aus dem Bilderbuch. Als er 2008 entschied, seinen ersten Hamburg-Marathon zu laufen, wog er bei 173 Zentimeter Körpergröße 97 Kilo. Als er 13 Marathons und vier Halbmarathons später 2016 zum ersten Mal nach Marokko flog, hatte er weder Erfahrung mit Ultraläufen noch mit den klimatischen Bedingungen. „Meine Naivität hat mich beim ersten Start um den Lohn gebracht, entsprechend wütend war ich über mich selbst“, sagt er. Immerhin hatte er fast 10.000 Euro und drei Wochen Jahresurlaub in das Abenteuer investiert. Dieses Jahr konnte er die Kosten zwar um 4000 Euro drücken, da er mehrere Ausrüstungsgegenstände bereits besaß, dennoch bereitete er sich diesmal deutlich akribischer vor.
Mit einer zwölf Kilo schweren Gewichtsweste absolvierte er 35 Kilometer lange Strandläufe an der Elbe und knallharte Treppenläufe in Blankenese. Mindestens 20 Wochenstunden kamen so für die Vorbereitung zusammen, dazu ging es Anfang März ins Höhentraining im Tiefschnee der österreichischen Alpen. Mit 79 Kilo Kampfgewicht ging Erdönmez an den Start, fünf weitere verlor er unterwegs. Auf das, was in der Wüste wirklich wartet, auf die Hitze, die Sandstürme und die Schmerzen, die jeder Schritt in den trotz spezieller Schutzgamaschen vollkommen versandeten „Brooks Ghost 9“-Laufschuhen hervorrief, kann sich niemand in Deutschland vorbereiten.
Nachdem Erdönmez dank besser getakteter Nahrungsaufnahme und der gesteigerten Einnahme von Salztabletten und Maltodextrinpulver die ersten drei Etappen gut überstanden hatte, wäre er auf der Nachtetappe, die sich am vierten und fünften Tag über 86,2 Kilometer erstreckte, fast kollabiert. Nach 60 Kilometern hatte er an einem Checkpoint zwei Stunden Schlaf finden wollen. Doch weil der Körper, von Hunger und der auf zehn Grad abgekühlten Außenluft mit Schüttelfrostattacken gepeinigt, keine Ruhe zuließ, entschied er, allein weiterzulaufen.
„Das war eine mystische Erfahrung. Ich bin durch die vollmondklare Nacht getaumelt, brauchte nicht einmal meine Stirnlampe, weil es so hell war. Und trotz der absoluten Stille hat es in meinem Kopf gedröhnt.“ Da seine streng rationierte Verpflegung nicht reichte, erbat er von Läufern, die ihn überholten, kleine Essensgaben.
„Ich bekam getrocknete Früchte, Datteln, Fitnessriegel. Das und der Gedanke, dass mich jeder Schritt meinem Ziel näher bringt, hat mich gerettet“, sagt er. Dieser Zusammenhalt unter den Sportlern sei für ihn neben dem Ausreizen der eigenen Grenzen die wichtigste Erfahrung gewesen.
In der Heimat fieberten Ehefrau Elif (37), Verwandte und Freunde am Livetracker mit. Dank des mitgeführten GPS-Senders konnten die Läufer während des gesamten Wettkampfs geortet werden. Elif war die treibende Kraft hinter der erneuten Teilnahme. „Sie hat immer an mich geglaubt, auch dann noch, als ich selbst es nicht mehr tat“, sagt Selcuk. Viele seiner Mitläufer, deren Laufsucht nicht selten Partnerschaften zerstört, hätten ihn um seine Beziehung beneidet. „Ich stehe immer hinter ihm, auch wenn ich mir viele Sorgen mache“, sagt Elif.
Die längste Etappe schaffte Erdönmez in 24:38 Stunden, mehr als zehn Stunden unterhalb des vorgeschriebenen Limits. Und als er am Karfreitag die 42 Kilometer lange Schlussetappe bezwungen hatte und in einer Gesamtzeit von 54:25 Stunden auf Rang 855 ins Ziel kam, da war es eine Mischung aus Euphorie, Stolz und unendlicher Erleichterung, die ihn übermannte. „Nachdem mein Kopf während des Laufens meist völlig leer war, kamen mir im Moment des Triumphs 1000 Gedanken“, sagt er. Rund 13.000 Menschen haben den Marathon des Sables seit der Erstaustragung 1984 überstanden. In diesem Jahr musste am zweiten Tag ein Deutscher reanimiert werden. Zu den Finishern zu gehören, sagt Erdönmez, sei deshalb etwas ganz Besonderes für ihn. Bis auf zerschundene Füße, eine auf der Nachtetappe aufgesackte Erkältung und starke Leistenschmerzen hat er keine Schäden davongetragen.
Erdönmez plant nun einen Start beim Yukon Arctic Ultra
Natürlich könnte er jetzt klein beigeben. Doch Selcuk Erdönmez will, nachdem er zur Regeneration drei Wochen auf jegliche sportliche Betätigung verzichtet haben wird, mehr. „Meine Mitläufer, die meisten sehr erfahrene Ultraläufer, haben gesagt, dass ich jetzt einer von ihnen bin“, sagt er, den Stolz darüber kann er nicht verbergen. Die Sahara sei für ihn abgehakt, aber es gibt andere Wüstenläufe, „Gobi, Atacama, einen in Australien“. Und sein größter Traum ist, den Yukon Arctic Ultra zu bezwingen, ein 200-Meilen-Rennen im Nordwesten Kanadas. „Von 45 Grad Hitze zu minus 45 Grad Kälte, das reizt mich als Abwechslung sehr“, sagt er.
Zunächst allerdings steht Elif und Selcuk Erdönmez eine ganz andere Herausforderung bevor. Anfang August soll das erste gemeinsame Kind zur Welt kommen. Ob er neben dem Job und der Familie noch ausreichend Zeit fürs Training findet, bleibt abzuwarten. Eine Jogging-Karre, um die Kleine mitnehmen zu können, ist aber längst eingeplant. „Es muss ja weitergehen“, sagt Selcuk Erdönmez.