Hamburg. Der Hamburger Selcuk Erdönmez startet beim Marathon des Sables in der Sahara. Herausforderungen an die Läufer sind mörderisch.
Mitte März ist er vom Lübecker Hauptbahnhof nach Hause gelaufen, mit seinem neuen Rucksack auf dem Rücken. 61,4 Kilometer waren das bis in seine Wohnung im Stadtteil Marienthal, rund acht Stunden hat Selcuk Erdönmez dafür benötigt. Es ging ihm gut danach, weil er spürte, dass sein Körper solche Belastungen aushält. Und gleichzeitig war da dieses andere Gefühl: das des Respekts vor dem, was ihn in nicht einmal zwei Wochen erwartet, wenn er sich wahrscheinlich wünschen wird, nur von Lübeck nach Hamburg laufen zu müssen.
Selcuk Erdönmez, in Hamburg geborener Sohn türkischer Eltern und als Jurist im Geschäftsbereich Naval Systems eines Kieler Technologiekonzerns beschäftigt, wird am 7. April über Frankfurt und Casablanca nach Quarzazate fliegen. Von dort geht es per Bus neun Stunden in die Sahara, wo am 10. April die 31. Auflage eines Etappenlaufs startet, der in der Extremläuferszene als eine der härtesten Prüfungen anerkannt ist, der sich Menschen aussetzen können. Der „Marathon des Sables“ wird mehr als 1000 Teilnehmer über sechs Etappen an sieben Tagen 257 Kilometer durch Marokkos Wüste führen. Erdönmez ist der einzige Norddeutsche, der an den Start gehen wird.
Die Qualen, die die Ultraläufer zu überstehen haben, schrecken auch gut trainierte Ausdauersportler ab. Alle persönlichen Utensilien und die Verpflegung, die die Teilnehmer benötigen, müssen sie über das ganze Rennen mit sich tragen. Einzig Wasser, limitiert auf neun Liter pro Tag und Starter, wird jeden Tag frisch ausgegeben. Auch ein offenes Biwak-Zelt stellt der Veranstalter an den Basisstationen des jeweiligen Zielorts zur Verfügung. Der Rest muss im Rucksack mitgeschleppt werden, Mindestgewicht sechseinhalb Kilo. Und das bei zu erwartenden 40 bis 45 Grad unter der brennenden Sonne. Schatten? Den gibt es bei solch einer Strapaze allerhöchstens im Gemüt.
Den genauen Etappenplan erhalten die Läufer erst während der Anreise im Bus, damit alle dieselben Bedingungen vorfinden. Zwischen 30 und 40 Kilometer müssen täglich absolviert werden, langsamer als drei km/h darf man nicht laufen, will man ausreichend Nachtruhe haben. Die längste Etappe über knapp 100 Kilometer muss innerhalb von 35 Stunden geschafft sein. Wer das Zeitlimit überschreitet oder mehr Wasser benötigt als die neun Liter täglich, der wird disqualifiziert.
Die Strecke, die sich in jedem Jahr verändert, muss mithilfe eines Kompasses und den alle 500 Meter aufgestellten Wegmarkierungen gefunden werden. Das gelingt nicht immer. 1994 verirrte sich der Italiener Mauro Prosperi in einem Sandsturm und wurde erst neun Tage später und 15 Kilogramm leichter 200 Kilometer abseits des Kurses in Algerien von Nomaden gerettet. In diesem Jahr erhalten erstmals alle Starter und nicht nur die Topläufer GPS-Tracker mit einer SOS-Funktion, damit solche Szenarien ausgeschlossen werden können.
Warum sich Menschen freiwillig einer solchen Plackerei aussetzen? Erdönmez war Teenager, er spielte Fußball für den SV Lurup, als er im Fernsehen einen Bericht über den Marathon des Sables sah. „In dem Moment wusste ich, dass ich da auch einmal dabei sein wollte“, sagt der 38-Jährige. 2008 schien dieses Ziel so weit entfernt wie die Sahara von einem Wellnessurlaub. Erdönmez wog, nachdem er nach dem Ende seiner Fußballkarriere dem Sport komplett abgeschworen hatte, 97 Kilo bei 1,73 Metern Körperlänge. Nach einem atemlosen Spaziergang um den Block beschloss er damals, im Folgejahr beim Hamburger Marathon zu starten.
Wer ihm heute zuhört, der kann verstehen, warum der Weg in die Wüste alternativlos erscheint. Erdönmez spricht mit tiefer Überzeugung von den Eigenschaften, die ihn durch die Grenzerfahrung tragen sollen: „Eine gute Grundkondition, Willensstärke, Abenteuerlust und Schmerzresistenz – das sind die Dinge, auf die ich mich verlassen kann“, sagt er. Erdönmez ist keiner dieser körperfettfreien Asketen, für die Extremläufe das sind, was für Otto Normalsportler der Lauf um die Alster darstellt. Aber dieses Leuchten in seinen Augen, wenn er die Vorfreude auf die Herausforderungen schildert, das wirkt ansteckend und echt.
Seine Vorbereitung klingt im Vergleich zu dem, was ihn erwartet, erstaunlich banal. 70 Kilometer sind sein wöchentliches Trainingspensum, der Lauf von Lübeck nach Hamburg war seine längste Strecke. Mit Ultraläufen hat er ebenso keine Erfahrung wie mit den klimatischen Bedingungen, seine zehn Marathons und vier Halbmarathons lief er ausnahmslos in Europa. Aber die theoretische Vorbereitung, die ist umso akribischer. Auf seinem Wohnzimmertisch hat er die Dinge ausgebreitet, die in den Rucksack passen müssen. Seine Trockennahrung, sieben Portionen Müsli fürs Frühstück, sieben Portionen Abendessen, ein paar Nüsse, Bananenchips und Müsliriegel für zwischendurch. Instantkaffee für die Belohnung am Lagerfeuer, wenn die Temperaturen nachts auf fünf Grad fallen. Seinen Schlafsack, „Yeti Fever Zero“, 280 Gramm leicht, die 400 Gramm leichte Isomatte – der einzige Komfort, den er sich nicht verbieten will. Spezielles Waschzeug, das ohne Wasser reinigt. Kocher, Sonnenschutz, Sonnenbrille, seine Funktionskleidung und die Laufschuhe, Asics Gel Nimbus, eingepackt in spezielle Gamaschen, die gegen den Sand schützen sollen.
Ein Notfallset gegen Schlangenbisse gehört zur Pflichtausrüstung dazu
Dazu kommt das Pflichtmaterial, das jeder Starter mitführen muss: Plastikspiegel für SOS-Signale, Isodecke, Allzweckmesser, Kompass, Funkenschläger, Trillerpfeife, Stirnlampe, Sicherheitsnadeln, Wunddesinfektion – und ein Notfallset gegen Schlangenbisse oder Skorpionstiche. Die unliebsamen Tierchen allerdings machen Erdönmez keine Angst. „Viel mehr Sorge habe ich davor, dass ich wegen einer Verletzung nicht ins Ziel komme“, sagt er. Die größten Gefahren sieht er darin, dass der Sand die Füße aufreibt und sich dadurch Blasen entzünden könnten, oder darin, im Atlasgebirge auf unwegsamem Stein zu stürzen. An jeder Verpflegungsstation sind Ärzte vor Ort, die eingreifen, sobald Teilnehmer apathisch wirken. Mehr als ein normales EKG muss als Gesundheitsnachweis vor dem Start nicht vorgelegt werden.
Eine fast fünfstellige Summe und drei Wochen Jahresurlaub – zwei Wochen für die Reise, eine zum Erholen in Hamburg – opfert Selcuk Erdönmez für seinen Traum. 80 Prozent seines Freundeskreises finden sein Vorhaben toll, der Rest hält ihn für verrückt. Seine Ehefrau Elif steht voll hinter ihm, auch wenn sich in ihren Stolz eine große Portion Sorge mischt. „Ich kann nur hoffen, dass er gesund zurückkommt“, sagt sie. Per Livetracking im Internet wird sie das Rennen verfolgen.
Ihr Mann will ein Tagebuch führen und mit einer kleinen Kamera die schönsten Eindrücke festhalten. Er freut sich besonders auf „die Ruhe in der Wüste und die sternklaren Nächte“. Und anders als so viele Sportler, die immer nur an das nächste Spiel, den nächsten Kampf, den nächsten Lauf denken, hat er sich das nächste Ziel bereits gesteckt. Den Yukon Arctic Ultra will er bestehen, ein 200-Meilen-Rennen im eisigen Nordwesten Kanadas. „Von plus 45 zu minus 45 Grad, das will ich unbedingt erleben“, sagt er.