Hamburg/Setúbal. Im Sommer wechselte Jan Kleineidam vom HSV Hamburg nach Portugal. Eine Erfahrung, die weit über den Handball hinausgeht.
Vor ein paar Tagen hatte Torsten Jansen eine Postkarte im Briefkasten. Auf der Vorderseite war eine alte Vespa zu sehen. Absender: Jan Kleineidam, Portugal. „Ich habe vielen Leuten geschrieben. Totos Postkarte war die einzige, bei der ich ein bisschen nervös war“, sagt Kleineidam und lacht. Sechs Jahre lang hatte der Rückraumspieler unter dem mitunter distanziert wirkenden Jansen beim HSV Hamburg (HSVH) gespielt, zuletzt in der Handball-Bundesliga.
Der 23-Jährige hat gemerkt, dass er in Portugal leben möchte
„Ich habe mich bei ihm für die sechs Jahre bedankt und schöne Grüße aus Setúbal ausgerichtet“, sagt Kleineidam. In Sétubal, einer rund 50.000 Einwohner großen Kleinstadt südlich von Lissabon, spielt der 23-Jährige seit diesem Sommer Handball. Bei Erstligist Vitória Setúbal nimmt Kleineidam eine wichtige Rolle ein – anders als zuletzt beim HSVH, der seinen Vertrag nicht verlängerte. „Ich war in Hamburg total glücklich, auch wenn ich nicht so viel gespielt habe“, sagt er. „Irgendwann musste ich aber einfach mal raus.“
Anfang Januar hatte Kleineidam in Lissabon und an der Algarve Urlaub gemacht. „Es gab einen Moment, als ich in Lissabon saß und mir klar wurde, dass ich auf jeden Fall nach Portugal gehen will“, erinnert er sich. Als er am 10. Januar am Flughafen in Lissabon stand, merkte er, dass er den Rückflug nach Hamburg dummerweise für den 10. Februar gebucht hatte.
Leistungsgefälle in Portugal ist höher als in Deutschland
„Ich habe mir dann einen neuen Flug für den 10. Januar gebucht, hatte aber weiterhin den Flug vom 10. Februar“, erzählt Kleineidam. „Zum Glück konnte ich den für 10 Euro umbuchen. Da habe ich dann einfach mal den 22. Dezember genommen – ohne überhaupt einen Verein in Portugal zu haben.“ Erst Anfang Mai unterschrieb Kleineidam schließlich bei Vitória.
Hinter den Spitzenclubs Benfica und Sporting Lissabon sowie dem FC Porto kämpft Kleineidams Mannschaft um Platz vier bis sechs. Im Vergleich zu Deutschland ist das Leistungsgefälle in der portugiesischen Liga enorm. „Gegen Porto, Benfica und Sporting bekommt man eigentlich nur auf die Mütze“, sagt Kleineidam. Die beiden Hauptstadtteams spielen in der European League, Porto sogar in der Champions League. Das Toptrio zahlt zum Teil fünfstellige Gehälter auf Bundesliganiveau, bei Mannschaften aus dem unteren Tabellendrittel bekommen manche Spieler nur 200 Euro im Monat.
Kleineidam: "Alles ist etwas unprofessioneller"
„Hier laufen viele sehr gute Spieler rum. Die Unterschiede aber sind krass, jeder Portugiese will eigentlich bei den besten drei Clubs spielen“, sagt Kleineidam, der wie die meisten seiner Mitspieler Vollprofi ist. Ein Mannschaftskollege arbeite aber auch nebenbei als Türsteher, ein anderer als Tierpfleger für Löwen und Tiger im Zoo von Lissabon. Manche Spiele werden im Fernsehen gezeigt, andere im Internet gestreamt.
„Gefühlt gibt es keine Stelle, die die Liga koordiniert, alles ist etwas unprofessioneller. Meine Mitspieler verstehen viele Sachen auch nicht“, sagt Kleineidam. „Mich stört das aber nicht.“
Kleineidam ist begeistert von den portugiesischen Fans
Bei Vitória ist der gebürtige Elmshorner, der mit zwei Mitspielern in einer WG lebt, der einzige Ausländer. Die handballerischen Begriffe habe er schnell gelernt, für den Rest macht Kleineidam nun einen Portugiesischkurs. „Wenn der Trainer uns lobt oder kritisiert, bekomme ich das oft gar nicht mit. Ich fahre dann vom Training nach Hause und weiß nicht, ob er mit der Mannschaft zufrieden war oder nicht“, sagt er. „Das hat auch Vorteile, macht mich ein bisschen freier. Letztendlich kann ich am nächsten Tag eh nur wieder zum Training kommen und Gas geben.“
Rund 800 Zuschauer kommen zu den Heimspielen. „Die Stimmung ist komplett anders als in Deutschland. Hier gibt es keine Klatschpappen, die 800 machen aber richtig Alarm“, sagt Kleineidam. Mehr als 500 Fans sind in Portugal schon viel, bei Ligaspielen von Sporting oder Benfica sind es weniger als 200 – kein Vergleich zu den mehreren Tausend Fans in der Bundesliga. „Das Publikum hier hat auch Charme. Ich vermisse die vielen Zuschauer in Deutschland gar nicht“, sagt Kleineidam.
In Portugal ist der 23-Jährige mit seiner Vespa unterwegs
Auch dem HSVH trauert der 23-Jährige nicht hinterher, von den ersten acht Bundesligaspielen dieser Saison hat er kein einziges gesehen. „Das liegt nicht daran, dass ich die Spiele bewusst nicht verfolgen will. Trotzdem kann ich die Zeit auch für etwas anderes nutzen, neue Dinge ausprobieren“, sagt er. Kleineidam liest, meditiert, spielt Ukulele und malt Bilder. „Ich wollte mir in Hamburg schon immer eine Staffelei kaufen. Ich habe mir aber gesagt, dass ich mir erst eine Staffelei kaufen darf, wenn ich ins Ausland ziehe“, erzählt er.
Nach seinem Umzug kaufte sich Kleineidam nicht nur die Staffelei, sondern in Lissabon auch eine alte Vespa. Bis nach Setúbal wären es rund 30 Kilometer gewesen. „Nach zwei Kilometern ist sie dann kaputtgegangen. Meine Mitspieler haben mich später dafür ausgelacht. Bei so einer alten Vespa war denen klar, dass die nicht funktioniert“, sagt er. In einem Fischerort an der Atlantikküste habe er die Vespa dann zu einer kleinen Werkstatt gebracht.
„Dann saß ich auf einmal mit einem 70-jährigen Ray und einem 50-jährigen João erst mal vor einer kleinen Bar und habe ein Bierchen getrunken. Beide habe ich vorher noch nie gesehen“, erzählt er. „Am Ende bin ich dann noch mit João und seinem elfjährigen Sohn Tiago bei Vollmond angeln gewesen.“ In der Zwischenzeit hatte Ray die Vespa repariert, sodass Kleineidam weiter nach Setúbal fahren konnte.
„Es gibt auch andere schöne Sachen auf der Welt“
Es sind diese Erlebnisse, die ihn davon überzeugen, den richtigen Schritt gemacht zu haben. „Ich habe an Hamburg alles gemocht, meinen Bruder, meine Freunde, mein ganzes Umfeld – alles war toll. Solche Sachen würde ich dort aber einfach nicht erleben“, sagt Kleineidam. Dass die Vespa zehn Kilometer später wieder kaputt war, er sie an einer verlassenen Straße abstellen und mit der Bahn nach Hause fahren musste, gehört zwar auch zur Geschichte – für Kleineidam sind diese Erfahrungen aber genau das, was er gesucht hat.
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„Beim HSVH wussten auch immer alle, dass ich bereit war, im Zweifel etwas anderes als Handball zu machen“, sagt er. „Es gibt auch andere schöne Sachen auf der Welt.“ Nach einer Trainingseinheit im Garten seines neuen Trainers in den Pool zu springen, zum Beispiel.
Kleineidam hält sich seine Zukunft komplett offen
Wie es im kommenden Sommer weitergeht, weiß Kleineidam noch nicht. Wieso auch? „Ich kann mir nicht vorstellen, momentan an einem anderen Ort zu sein“, sagt er. Alles andere werde sich zeigen. Einen festen Zeitpunkt, zu dem er sich entscheiden will, gibt es nicht. Auch der Wechsel nach Portugal habe sich letztendlich spontan ergeben, Setúbal kannte Kleineidam nur von Google Maps. „Natürlich hätte es auch schiefgehen können“, sagt er. „Ist es aber nicht.“ Warum also so viel darüber nachdenken?
Torsten Jansen habe sich über die Postkarte übrigens sehr gefreut. „Er hat sich bei WhatsApp für meine Nachricht bedankt. Am Ende schrieb er: ‚Ich rufe dich die Tage mal an – und das ist keine Drohung‘“, sagt Kleineidam und lacht.