Hamburg. Mit 15 wird Jan Bodenbach plötzlich zum Pflegefall und braucht einen Hirnschrittmacher. Nun will er einen Weltrekord aufstellen.
Es war ein kalter Freitagabend im Februar 2012, als Jan Bodenbachs Körper begann, ihm alles zu nehmen. Den Freundeskreis, die Schule, den Sport, das Leben eines ganz normalen Teenagers. Der damals 15-Jährige kam gerade vom Tennistraining nach Hause, als ihm plötzlich der Rücken wehtat. „Ich dachte, dass ich mir einfach den Rücken beim Tennis verdreht hatte“, erinnert sich Bodenbach.
Nachdem die Schmerzen über das Wochenende nicht besser wurden, ging er am Montag zu einem Orthopäden, der ihm Kortison spritzte. Zwei Tage später, am Mittwoch, saß Jan Bodenbach zum ersten Mal im Rollstuhl. „Da war klar, dass es kein orthopädisches Problem ist und auch nicht vom Tennisspielen kommt“, sagt er.
Cyclassics Hamburg: Der erste Teilnehmer mit Hirnschrittmacher
Jan Bodenbach ist einer von rund 500 Menschen in Europa, die an generalisierter Dystonie erkrankt sind. Während viele Menschen bereits mit dieser extremen Form der neurologischen Bewegungsstörung geboren werden, entwickelte sie sich bei ihm innerhalb weniger Tage. Wie das passieren konnte, weiß niemand so genau. Fest steht nur: Bodenbach hat einen Gendefekt, der seine Muskeln dauerhaft verkrampfen lässt. „Das ist ähnlich wie ein epileptischer Anfall, der nicht aufhört“, erklärt er.
Seine Körperhaltung sei früher „absurd“ gewesen, sagt der gebürtig aus der Stadt Ahrweiler stammende Bodenbach. Sein Oberkörper klappte im rechten Winkel zu seinen Beinen nach unten, mit den Händen berührte er den Boden. Dauerhaft. Diese Dehnhaltung ist ein natürlicher Reflex gegen die Verkrampfung, die seine komplette linke Körperhälfte lahmlegte. „Innerhalb von einer Woche wurde ich vom topfitten Tennisspieler zum Pflegefall im Rollstuhl, der nicht mehr allein lebensfähig war“, sagt Bodenbach.
Dass der mittlerweile 26-Jährige an diesem Sonntag bei den Hamburger Cyclassics als erster an generalisierter Dystonie erkrankter Mensch der Welt an einem 100 Kilometer weiten Radrennen teilnimmt, grenzt nicht nur aus damaliger Sicht an ein Wunder. Vor rund zehn Jahren ging es für Bodenbach noch um nicht weniger als sein Leben.
Die Schule konnte der Elftklässler im Frühjahr 2012 erst einmal vergessen. Anfangs versuchte er noch, sich auf sein Bett zu legen, Schulbücher zu lesen. Irgendwann beeinträchtigten ihn die Hirn-Medikamente jedoch so sehr, dass die Konzentration erheblich nachließ. „Ich konnte mir nichts mehr merken“, sagt Bodenbach, der eigentlich sein Abitur machen wollte.
Krankheit ließ sich nur über Ausschlussverfahren diagnostizieren
Von einer Woche auf die andere verbrachte er mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause. Zu den Schmerzen kam schnell die Ungewissheit. Was war nur mit ihm los? Seine Freunde lernten Mädchen kennen, Bodenbach lernte Ärzte kennen. Viele Ärzte. Weil sich eine Dystonie nicht wie die meisten anderen Krankheiten über Blutproben oder MRT-Scans nachweisen lässt, mussten die Ärzte ein Ausschlussverfahren anwenden. Als nach sechs Monaten nur noch die Dystonie überblieb, hatte Bodenbach endlich Gewissheit.
Dass Gewissheit nicht auch Hoffnung bedeutete, wurde ihm nach den Gesprächen mit den Ärzten schnell deutlich. „Ich sollte mich von einem normalen Leben verabschieden“, sagt Bodenbach. „Ich wurde aus allem herausgerissen, was ich mir aufgebaut hatte.“ Auch für seine Freunde sei der Umgang mit der Situation schwierig gewesen. „Sie mussten plötzlich nicht mehr überlegen, in welche Disco wir gehen, sondern wurden mit der Frage konfrontiert, wo sie mit mir im Rollstuhl überhaupt hinfahren können“, sagt er. „Es war für alle eine schwere, surreale Situation.“
Eine generalisierte Dystonie ist unheilbar und mit dem Einbau eines Hirnschrittmachers nur schwer therapierbar. Die zwölfstündige Hirn-Operation ist das letzte Mittel der Wahl, verbunden mit hohen Risiken. Bodenbach entschied sich dennoch dafür. „Der Hirnschrittmacher sollte meinen Zustand verbessern. Es hieß aber, dass er nicht dazu führen werde, dass ich wieder aus dem Rollstuhl rauskomme“, sagt er.
So funktioniert Bodenbachs Hirnschrittmacher
Im August 2012 wurde Jan Bodenbach operiert. Im rechten Brustbereich, gegenüber dem Herzen, setzten die Ärzte eine Batterie ein. Ein kleiner Kasten, der sich direkt unter der Haut befindet. Die quadratische Narbe ist noch heute zu sehen, ungefähr so groß wie zwei Kreditkarten. Von der Batterie führt ein Kabel über das Schlüsselbein hinter das Ohr, wo sich ein kleiner Clip mit Drähten in seinem Kopf verbindet. Man könne die Drähte mit einem extrem dünnen Haushaltsdraht vergleichen, erzählt Bodenbach. In seinem Hirn befinden sich acht Elektroden, vier pro Hirnseite. Sie werden von dem Kästchen in der Brust angesteuert, dauerhaft mit Strom versorgt, um die Krämpfe in seiner linken Körperhälfte mittels Hirnstimulation zu bekämpfen.
So weit die Theorie. In der Praxis müssen die Ärzte exakt die richtige Stromstärke finden, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Die Elektroden im Hirn müssen zudem perfekt sitzen – eine Arbeit im Mikromillimeterbereich. „Wenn ich den Strom hochstelle, würde ich relativ schnell nicht mehr sprechen oder sehen können“, sagt Bodenbach.
Nach der OP ging es zurück in den Rollstuhl – aber nur vorerst, wie sich der Teenager im Gegensatz zu seinen Ärzten in den Kopf gesetzt hatte. Mit großem – teilweise auch zu großem – Ehrgeiz startete er die Reha. Anfang 2013, sieben Monate nach der Operation, konnte Bodenbach wieder erstmals selbstständig gehen. Im Juni kam der Rollstuhl in den Keller. In die hinterste Ecke, mit einer Decke drüber, wie Bodenbach nicht ohne Stolz erzählt.
Als im August die Schule wieder begann, versuchte er kurz, wieder am Unterricht teilzunehmen. Die eineinhalb Jahre lange Pause war jedoch zu lang für ihn. Aus heutiger Sicht, sagt Bodenbach, sei die Entscheidung, das Gymnasium mit dem Realschulabschluss zu verlassen, genau richtig gewesen. Bodenbach begann eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann, zog aus Rheinland-Pfalz ins niedersächsische Lohne-Dinklage. Seine berufliche Leidenschaft ist der Motorsport, mit Porsche und BMW reist er heute zu WM-Rennen oder den berühmten 24 Stunden von Le Mans.
Hoffnung gab ihm das Radfahren
Hoffnung gab ihm bei allen Rückschlägen aber vor allem das Radfahren, das er schon als Kind liebte. Nachdem der Schrittmacher eingebaut wurde, sollte er vor allem seine Kondition, das Gleichgewicht und die Orientierung trainieren. „Es gibt keinen freien Abend, den ich nicht auf dem Rennrad verbringe“, sagt Bodenbach, der das Tennisspielen für das Radfahren aufgab. „Das Radfahren ist mein Ventil. Wenn ich Stress habe, setze ich mich auf mein Rennrad und fahre einfach drauf los.“
Alle zwei bis drei Tage muss Bodenbach die Batterie in seiner Brust über ein Induktionsgerät aufladen. Zwei Stunden dauert das, wie bei einem Smartphone. „Man kann sagen, dass ich dreimal pro Woche an die Steckdose muss“, sagt Bodenbach und lacht. Alle 15 Jahre muss die Batterie gewechselt werden, sonst lebt er als einer von ein bis zwei Prozent der an generalisierter Dystonie erkrankten Menschen ohne Einschränkungen. Eine Statistik, die demütig macht.
„Für mich ist das wie ein Sechser im Lotto.“
Als er einmal beruflich in die USA reisen musste, rief er vorsichtshalber beim Hersteller des Hirnschrittmachers an, um mögliche Risiken abzuklären. „Die waren komplett überfordert mit meiner Frage. Patienten mit einem Hirnschrittmacher fliegen nicht.“ Er schon. Erlebnisse wie diese sind es, die Bodenbach sein seltenes Glück immer wieder vor Augen führen. „Ich habe selten hinterfragt, warum es genau bei mir perfekt funktioniert hat“, sagt er. „Für mich ist das wie ein Sechser im Lotto.“
Das Radfahren helfe ihm auch mental weiter. „Ohne den Radsport würde ich bestimmte Sachen nicht verarbeiten können“, sagt Bodenbach. Während seiner Reha habe er häufig Rückschläge hinnehmen müssen, weil er zu ehrgeizig war. „Der Ausdauersport hat mich gelehrt, dass man sich seine Körner einteilen muss, um zum Ziel zu kommen. In der Reha wollte ich oft zu viel“, sagt er.
Jan Bodenbach startet Weltrekordversuch bei den Cyclassics
Auch über den Start bei den Cyclassics sprach Bodenbach zuvor mit einem Arzt. Als dieser ihm sagte, dass die Risiken zwar kontrollierbar seien, es aber noch nie einen Menschen mit Hirnschrittmacher bei einem Radrennen gegeben habe, kam ihm die Idee, sein Rennen als Weltrekordversuch anzumelden. Die hohe Ausdauerbelastung sei dabei kein Problem für den Schrittmacher.
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„Ich muss nur sehr auf Stürze aufpassen. Der Kabelstrang hinter dem Ohr darf nicht brechen“, sagt Bodenbach, der seinen Kopf und Hals besonders gut schützen muss. Bricht das Kabel, müsste der Hirnschrittmacher komplett entfernt werden – ohne die Chance, ihn neu einzusetzen. Für Bodenbach, der außerhalb des hektischen Hauptfeldes starten darf, ein kalkulierbares Risiko.
„Mit dem Start will ich mir selbst beweisen, dass ich das kann“, sagt er. „Ich will aber auch anderen Menschen zeigen, dass Krankheiten und Therapien zwar schwer zu bewältigen sind, man aber trotzdem Dinge machen kann, die eigentlich unmöglich erscheinen.“ Wenn Jan Bodenbach am Sonntagmittag über die Ziellinie auf der prall gefüllten Mönckebergstraße rollt, dürfte er sich nicht nur den Weltrekord gesichert haben. Sondern auch bewiesen haben, dass ihm sein Körper im Februar 2012 bei Weitem nicht alles nehmen konnte.