Hamburg. Deutschlands Fußballerinnen begeisterten ein ganzes Land. An der Basis ist der Weg zur Gleichberechtigung noch lang.
Den Grandplatz am Rotenhäuser Damm werden ihr die Mädchen sicher nicht einrennen, das kann Cordula Radtke aus Erfahrung sagen. Eher im Gegenteil. „Nach den Sommerferien brauchen wir erst mal drei, vier Wochen, bis überhaupt alle wieder in die Gänge kommen“, sagt die Vorsitzende des 1. Frauen-Fußball-Clubs Elbinsel Hamburg-Wilhelmsburg.
Rund 60 Mädchen und Frauen spielen in dem Verein Fußball, gut 30 Nationen sind beim FFC vertreten. Viele ihrer „Mädels“, wie Radtke sie nennt, seien jetzt in die Heimatländer ihrer Eltern gereist oder zur Verwandtschaft in anderen Teilen Deutschlands. Die begeisternden Spiele der deutschen Mannschaft bei der Frauen-EM im Juli in England, die vollen Stadien, den Empfang am Frankfurter Römer: All das hätten wahrscheinlich die wenigsten gezielt verfolgt, auch wenn Radtke ihnen vor den Ferien das Turnier ans Herz gelegt habe. „Dass für sie jetzt daraus Vorbilder erwachsen, glaube ich nicht.“
Mädchenfußball in Hamburg: Es fehlt an Platz und Personal
Eine neue Frauenfußball-Euphorie? Abwarten. Radtke erinnert sich noch gut an die Heim-WM 2011. Auch damals schalteten bei den Spielen der Deutschen bis zu 17 Millionen Menschen den Fernseher ein. „Danach haben wir es verpennt.“
Aber an Mädchen, die Fußball spielen wollen, fehlt es in Hamburg ohnehin nicht. „Das Problem ist, dass es zu wenig Trainerinnen und zu wenig Platzzeiten gibt“, sagt Andrea Nuszkowski, die Vorsitzende des Ausschusses für Frauen- und Mädchenfußball im Hamburger Fußball-Verband (HFV). Immer wieder riefen Eltern an, die ihre fußballbegeisterten Töchter gar nicht in einer Mannschaft unterbekämen.
401 Vereine in und um Hamburg sind im HFV organisiert. Nur etwa ein Drittel, schätzt Nuskowski, böten überhaupt Mädchenfußball an. Laut DFB-Statistik von 2020 waren von den 195.260 Mitgliedern im Hamburger Fußball knapp ein Zehntel, 18.385, Frauen sowie weitere 8191 Mädchen bis 16 Jahre. Wobei sich die Zahl der Mädchenteams allein von der vergangenen zur neuen Saison von 179 auf 211 erhöht hat – ganz ohne EM-Effekt.
Mädchen mit Migrationshintergrund stehen oft vor kulturellen Barrieren
Es könnten sicher noch mehr sein. Aber Nuszkowski (55) ist schon froh, dass ihr Verband anders als andere nicht weniger, sondern mehr weibliche Mitglieder zählt als vor der Corona-Pandemie. Viele Clubs hätten vornehmlich die Jungsmannschaften im Blick. In denen dürfen zwar bis zur B-Jugend auch Mädchen mitspielen. „Aber der größte Teil der Mädchen will tatsächlich lieber mit anderen Mädchen spielen.“ Andere Clubs würden mit Verweis auf die begrenzten Umkleidekapazitäten erst gar keine Frauen aufnehmen.
Der Kabinentrakt sei auch beim viel prämierten FFC Elbinsel ein Problem, sagt Radtke: „Der ist so marode, den möchte man so nicht anbieten.“ Die Heizung lasse sich selbst im Sommer nicht herunterdrehen. Und auf einen Kunstrasen muss sie wohl noch länger warten. „Das ist ein klarer Wettbewerbsnachteil für uns.“
Und dann sind da noch die kulturellen Barrieren. Wie in der Nationalmannschaft sind auch im Amateurbereich Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund oftmals unterrepräsentiert. Abhilfe schaffen soll das HFV-Projekt „Kicking Girls“: Seit 2008 nun schon werden in Schulen aus sozial schwächeren Stadtteilen Fußballkurse für Mädchen angeboten. Zweimal im Jahr gibt es ein großes Turnier, das eine sogar in der großen Sporthalle Hamburg.
32 Schulen haben ihre Türen für das Projekt geöffnet, das inzwischen auch von der Stadt gefördert wird. „Wir bekommen ständig weitere Anfragen“, sagt HFV-Sprecher Carsten Byernetzki. Im schulischen Rahmen sei es wesentlich einfacher, Mädchen zum Fußball zu bringen.Viele von ihnen seien anschließend erfolgreich an Vereine vermittelt worden. Nuszkowski selbst konnte nach eigener Aussage schon „den einen oder anderen Vater überzeugen“, die Tochter Fußball spielen zu lassen.
Wie viel Potenzial in der Idee steckt, zeigt das Beispiel Beyza Kara: Die heute 19-Jährige kam einst über die „Kicking Girls“ zum Fußball. 2020 wurde sie vom HFV als Hamburgs Jugendspielerin des Jahres ausgezeichnet. Jetzt spielt sie beim HSV und in der türkischen Nationalmannschaft.
Viele hielten aber gar nicht so lange durch, das weiß Radtke (60) aus Erfahrung. Gerade Töchter aus Migrantenfamilien müssten ihre oftmals alleinerziehenden Mütter unterstützen. Hinzu komme der schulische Stress. Und einigen Mädchen würde es mit Beginn der Pubertät schlicht von ihren Familien untersagt weiterzuspielen.
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„Wir versuchen das alles zu moderieren“, sagt Radtke. Ohnehin seien sie und ihre Mitstreiterinnen eher als Sozialarbeiterinnen gefordert denn als Trainerinnen: besorgten Stipendien oder Ausbildungsplätze. Oder Laptops, um mit den Mädchen im Lockdown in Kontakt bleiben zu können. Corona ließ die Zahl der Spielerinnen beim FFC einbrechen. In besten Zeiten waren es 150 quer durch alle Altersklassen. Inzwischen seien nur drei Jugendteams überhaupt spielfähig.
Dieses Problem hat man beim Eimsbütteler TV nicht. Der Hamburger Großverein leistet sich eine der größten und erfolgreichsten Abteilungen für Frauen- und Mädchenfußball der Stadt, ein hauptamtlicher Stab organisiert den Betrieb. „Spielerinnen und Trainerteams sind auch während der Pandemie in Kontakt geblieben“, sagt Jugendfußball-Koordinator Jasper Hölscher.
Das Ergebnis lässt sich auch auf Tabellen ablesen: Gleich vier ETV-Teams haben im vergangenen Frühjahr den Aufstieg geschafft, die ersten Frauen spielen künftig in der Regionalliga, die B-Juniorinnen sogar in der Bundesliga. Dabei sei der sportliche Erfolg gar nicht das vorrangige Ziel. Hölscher (24): „Uns geht es darum, auch die Persönlichkeit der Spielerinnen weiterzuentwickeln und ihnen als Verein eine emotionale und soziale Heimat zu bieten.“ Bei aller Professionalisierung stoße man aber auch beim ETV an Grenzen, Platzzeiten und Trainerinnen sind wie überall knapp.
DFB blitzte mit Frauenländerspiel in Hamburg ab
„Es hat sich schon viel entwickelt“, sagt Nuszkowski. Dass es EM-Gastgeber England gelungen sei, mit niedrigen Eintrittspreisen das Wembleystadion zu füllen und viele Familien anzulocken, sei vorbildlich. Gern hätte der DFB auch in Hamburg ein Frauenländerspiel veranstaltet, auch um die langjährige Vizepräsidentin und Frauenfußball-Pionierin Hannelore Ratzeburg (71) in ihrer Heimatstadt zu verabschieden. Doch das Volksparkstadion sei dafür zu groß – und der FC St. Pauli habe für sein Millerntor-Stadion zu viel Geld verlangt.
Dabei könne so ein Stadionbesuch ungemein motivierend wirken, davon ist Radtke überzeugt: „Wenn die Mädels es selbst erleben könnten, würde das sicher einen Schub geben.“ Aber noch wichtiger wäre es, wenn der Frauenfußball dauerhaft sichtbar wäre und nicht nur alle paar Jahre: „Das würde uns auch im Amateurbereich helfen.“
Frauen-Bundesliga startet vor großer Kulisse
Immerhin: Das Eröffnungsspiel der Bundesliga zwischen Frankfurt und dem FC Bayern Mitte September findet vor großer Kulisse im Deutsche-Bank-Park statt. Am zweiten Spieltag überträgt die ARD die Partie zwischen Hoffenheim und Wolfsburg live.
Mehr Zulauf verspricht sich Cordula Radtke allerdings von der WM im Herbst in Katar: „Ein Highlight bei den Männern hilft uns meistens mehr als bei den Frauen.“ Um die EM trotzdem nachwirken zu lassen, will sie gemeinsam mit ihren Mädchen die ARD-Serie „Born for this“ anschauen, in der die Vorbereitung der Nationalmannschaft auf das Turnier dokumentiert wird. „Ich hoffe nur, dass dann auch welche kommen.“