Hamburg. Der ukrainische Top-Schiedsrichter ist nach Hamburg geflüchtet. Hier traf er Patrick Ittrich – der wie ein Mentor für ihn wurde.
Das Handy ist immer griffbereit. Und Denys Shurman blickt häufig darauf. Die Nachrichten aus seiner Heimat beschäftigen ihn ständig, abschalten ist da kaum möglich. Die Russen haben ein Einkaufszentrum in Krementschuk mit Raketen beschossen, liest er gerade, wieder viele Tote. „Ich denke jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an diesen Krieg und dass er aufhören muss“, erzählt der 35-Jährige in fließendem Englisch, „das ist das Allerwichtigste.“
Seit dem 10. März ist Shurman mit seiner Frau Switlana (34) und dem fünf Jahre alten Sohn Nazar in Hamburg. Er ist ein Spitzenschiedsrichter der Ukraine, pfeift internationale Spiele für die Uefa. Er ist auch ein Kriegsflüchtling, aber er hat vergleichsweise noch Glück. Weil er durch die Schiedsrichterei Verbindungen und Kontakte hatte und weil er Menschen kennt und kennengelernt hat, die ihm helfen. Wie Patrick Ittrich (43).
Schiedsrichter: Ittrich wurde wie ein Mentor für Shurman
„Mir geht das Leid, das diese herzensgute Familie erfahren hat, sehr nahe“, sagt Hamburgs bekannter Bundesliga-Schiedsrichter, der so etwas wie ein „Mentor“ für Shurman und dessen Familie geworden ist. „Nachdem ich sie und ihre Situation kennengelernt habe, musste ich erst einmal eine Viertelstunde laufen gehen, um wieder runterzukommen. Das hat mich wirklich berührt.“ Es ist ja nicht nur die Bewältigung der Traumata durch die Flucht aus dem Heimatort nahe Kiew oder die stete Sorge um die Freunde und die Familie, die noch in der Ukraine sind – mit der Mutter und dem Bruder und dessen Familie telefoniert Shurman jeden Tag.
Es ist auch der Gang durch das deutsche Bürokratie- und Behördendickicht, der ohne Unterstützung kaum zu bewältigen ist. Sogar ein deutscher Staatsdiener wie der Polizeibeamte Ittrich steht da regelmäßig fassungslos davor. „Wenn ich in der Ukraine ein Konto eröffnen will, dauert es zehn Minuten in der Bank, dann bekomme ich eine Karte und es funktioniert“, schildert Shurman ein Beispiel, „hier kommen Briefe und weitere Briefe, man unterschreibt, bekommt neue Briefe. In Deutschland kommen sehr viele Briefe.“
„Wir hatten praktisch nichts“
Nachdem der russische Angriff auf sein Heimatland am 24. Februar begonnen hatte, entschloss sich die Familie schnell, die Gegend um Kiew zu verlassen. Sohn Nazar ist behindert, braucht regelmäßig Medikamente und Betreuung, das war nicht mehr gewährleistet. Sie sind mit dem Auto zu Verwandten gereist, 300 Kilometer von Kiew entfernt in der Westukraine. Von da weiter ins polnische Posen. Aber auch da war es unmöglich, die nötige Medizin zu erhalten. Über Freunde und deren Verwandte gab es schließlich die Möglichkeit, ein kleines Haus in Hamburg zu beziehen. Ein Glück im Unglück.
Dennoch: „Wir hatten praktisch nichts. Kaum Kleidung, Schuhe, wir mussten ja alles zurücklassen.“ Da kam dann schon Patrick Ittrich ins Spiel. „Er hat mich angerufen, kam dann mit seiner Tochter vorbei und hat gefragt, was wir benötigen“, erzählt Shurman. Ittrich setzte seine Hebel in Bewegung, aktivierte seine Kontakte, um so viele Dinge zu organisieren wie möglich – „vor allem hat er mir bei der Bürokratie geholfen, das war und ist sehr wichtig.“
Shurman wurde schnell integriert
Auch da ist sich Shurman sehr wohl bewusst, dass er als Spitzenschiedsrichter Vorteile hat gegenüber „normalen“ Geflüchteten. Der ukrainische Verband hatte Deutschlands Schiedsrichterchef Lutz-Michael Fröhlich mitgeteilt, dass Shurman nach Hamburg kommt, Fröhlich bat Ittrich um Unterstützung. Telefonnummern wurden getauscht. „Ich kannte Patrick nicht, habe im Internet nachgeschaut, wer das ist“, erzählt Shurman: „Ein Polizist und Bundesligaschiedsrichter also. Wir haben uns dann schnell sehr gut verstanden.“
Die deutschen Unparteiischen haben ihren ukrainischen Kollegen so schnell und gut wie möglich integriert. Shurman hat bereits zwei Regionalligaspiele gepfiffen, dazu eine Oberligapartie. Er nahm am Lehrgang der deutschen Schiedsrichter in Potsdam teil, wurde von der Uefa für ein Spiel der U-21-EM-Qualifikation in Liechtenstein angesetzt. Ittrich war der Vierte Offizielle. Auch bei den Benefizspielen in Dortmund und beim HSV standen sie gemeinsam als Spielleiter auf dem Platz. „Alle sind sehr respektvoll, sehr nett, jeder fragt, wie es geht“, ist Shurmans erste Erfahrung mit deutschen Spielern, „es hat Spaß gemacht.“
Shurman hofft auf einen Neustart der ukrainischen Ersten Liga
Zurzeit ruht der Spielbetrieb. Shurman trainiert, versucht, sich körperlich fit zu halten. An Arbeit ist nicht zu denken. Zu Hause hatte er seit sieben Jahren mit seinem Bruder einen Pizza-Lieferdienst betrieben. Das Geschäft lief gut. Damit ist es vorbei. Was die Zukunft bringt, ist unklar, eine langfristige Planung ist unmöglich.
So geht es darum, das Leben mit allen Hindernissen von Tag zu Tag gut zu organisieren. Gerade ist das Auto kaputt, ein Fahrrad für Nazar wird gesucht. Die Schiedsrichterei bietet immerhin Aussicht auf ein wenig Ablenkung. „Ich darf in Hamburg Regionalliga pfeifen, das ist gut“, freut er sich. Eventuell startet im August auch wieder die Erste Liga in der Ukraine – dann würde er kurzfristig anreisen. Seine Familie aber, die bleibt zunächst hier.
Geflüchtete Menschen miteinander in Kontakt
Hamburg mag der freundliche, aber ruhige und nachdenkliche Mann. „Es ist hier sehr grün, die Fahrradwege sind gut und der öffentliche Nahverkehr auch.“ Es lässt sich hier leben. Ehefrau Switlana ist Sozialpädagogin. Sie unterstützt andere geflüchtete Menschen aus der Ukraine, so gut es geht. Mit einer Facebook-Gruppe „Ukrainer in Hamburg“ sind viele miteinander verbunden, tauschen sich aus, helfen einander. „Rund 10.000“, so schätzt Shurman, gehören dieser Gruppe an. Eine gewaltige Zahl.
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Jeder von ihnen hat seine eigenen Geschichten und eigene Probleme, wohl jeder hofft, dass er bald wieder zurück in die Heimat kann. Das Leben geht aber weiter. Und Denys Shurman versucht, einen Platz in einem Integrationskindergarten für Nazar zu finden. Eine kaum lösbar scheinende Aufgabe, berichtet Ittrich, der sich um den Papierkram kümmert: „Es muss für einen Berechtigungsschein ein Gutachten durch einen Kinderpsychologen geben. Davon gibt es nicht genug, es gibt keinen Termin“, erzählt er. Also warten, „das ist doch unmöglich“.
Schiedsrichter: „Patrick hilft mir sehr“
Shurman klagt nicht über diese bürokratischen Hemmnisse, er nimmt sie zur Kenntnis und versucht, sich zu arrangieren. „Patrick hilft mir sehr, ohne ihn wäre es viel schwerer“, sagt er, „ich bin sehr dankbar.“ Ittrich winkt ab, kein Ding – „wir haben wirklich neue Freunde gefunden“, sagt er, „für mich war die Begegnung mit Denys und seiner Familie wirklich ein menschlicher Gewinn.“