Hamburg. Alleine und eiskalt erlebte er den Jahreswechsel vor zwölf Monaten im Südpolarmeer. Dieses Mal ist alles anders.
Am Silvestermorgen 2020 war Boris Herrmann hundemüde. Ihm steckte eine brutale Reparaturnacht an Bord seiner „Seaexplorer“ in den Knochen. Bis in die Morgenstunden hatte er geschuftet, um den defekten Motor seiner Kielhydraulik auszutauschen. Seine Welt war grau und frostig. In fünf Grad Lufttemperatur und sieben Grad kaltem Wasser befanden sich der Hamburger und sein treues Schiff zwischen Point Nemo und Kap Hoorn, zwischen dem von jeglicher Zivilisation am weitesten entfernten Punkt auf den Weltmeeren und dem berüchtigtsten der drei großen Kaps, die Weltumsegler passieren.
15.000 Kilometer entfernt vom Heimathafen Hamburg kämpfte Herrmann bei seiner Vendée-Globe-Premiere um eine Top-Platzierung. Mit Blick auf die nahende Kap-Hoorn-Passage und einen aufkommenden Sturm hatte er damals einen Silvesterwunsch: „Zur Belohnung ein kleines Dinner und etwas Wärme.“
Hamburger Segelstar: So erlebt Boris Herrmann Silvester
Zwölf Monate später sind die Perspektiven des Abenteurers völlig andere. Am Ende eines atemlosen Jahres genießt er seine Familien-Auszeit mit Ehefrau Birte Lorenzen-Herrmann, der gemeinsamen eineinhalb Jahre alten Tochter Marie-Louise und Familienhund Lilli. „Der Kontrast könnte nicht größer sein. Ich habe das erste Weihnachtsfest mit unserer Tochter Malou und meiner eigenen kleinen Familie erlebt. Malou ist goldig, spricht schon viel und kann super laufen. Ich bin heilfroh, dass ich nicht schon wieder auf See bin.“
Er habe, so erzählt er im Glück, die letzten Wochen in seinem Zuhause in der HafenCity und in seinem lichtdurchfluteten Parterre-Büro in der Neustadt sehr genossen: „Der geregelte Alltag hat mir Spaß gemacht. Ich habe den Computer abends im Büro gelassen und nach dem chaotischen vorangegangenen Jahr endlich Familie erlebt.“
Hinter dem Vendée-Globe-Fünften liegt ein Jahr mit so vielen Terminen und Ehrungen wie nie zuvor in seinem Leben. Zuletzt wurde er bei der Wahl zu Deutschlands Sportler des Jahres auf Platz fünf gewählt. So weit vorne landen Segler sonst nicht. Vor ihm liegt die Fertigstellung der neuen Yacht und das ersehnte Comeback auf dem Wasser in der zweiten Jahreshälfte 2022. Die bewusste Entschleunigung über die Festtage nach den vielen Gipfelstürmen zu Wasser und zu Land fällt Herrmann nach seinem Segelsolo um die Welt und den Folgen aber gar nicht so leicht.
Boris Herrmann plant Segel-Comeback mit neuer Yacht
Vier Bücher hat er seit Ende des Rennens veröffentlicht, war in den großen Talkshows zu Gast, sprach mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, gewann ein noch stärkeres Sponsorenteam für die angelaufene Doppel-Kampagne, orchestrierte den Ausbau seines Teams Malizia auf rund 50 Mitarbeiter und trieb den Bau der neuen Yacht in Frankreich dynamisch voran. Auf der Werft im französischen Vannes ist bereits die zweite Bauhalbzeit angebrochen. In der Halle stehen Rumpf und Deck nebeneinander, warten auf ihre Vereinigung. „Wenn das Deck Ende Februar auf den Rumpf laminiert ist, dann wird unser künftiges Schiff schon gut zu erkennen sein. Es ist eine faszinierende Zeit, denn wie oft im Leben hat man eine Chance auf einen solchen Neubau?“, frohlockt Boris, der Baumeister.
Sein Comeback auf dem Wasser kann er kaum erwarten. „Der große Meilenstein für 2022 ist das termingerechte und erfolgreiche Zu-Wasser-Bringen unseres neuen Bootes im Juni. Das ist ein sehr, sehr großer Schritt.“ Die neue Rennyacht vom Typ Imoca soll Herrmanns Team Malizia erst im The Ocean Race 2023 schnell und sicher in Etappen um die Welt tragen und dann dem Boss im Alleingang eine erfolgreiche zweite Vendée-Globe-Teilnahme 2024/2025 mit Chance auf einen Podestplatz bescheren.
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Es mangelt an einem veritablen Teilnehmerfeld
Denkt Herrmann an den Stapellauf im Juni, denkt er auch daran, was schieflaufen könnte. „Wir hoffen, dass unser Boot unter einem guten Stern segeln wird. Man ist da auch ein bisschen abergläubisch.“ Der 40-Jährige kennt genügend Geschichten und Boote, mit denen nicht alles nach Plan lief. Zum Beispiel Jérémie Beyous „Charal“, die als Extremneubau schon bei den ersten Tests zickte und dem Favoriten der jüngsten Vendée Globe so schwere technische Probleme bescherte, dass Beyou frustriert umkehren, reparieren und dem Feld einsam wie chancenlos hinterhereilen musste.
Vor Herrmanns zweitem Vendée-Globe-Start im Herbst 2024 soll die Ocean-Premiere mit einer internationalen Malizia-Crew das denkbar hochkarätigste Testfeld für die neue Yacht bieten. Doch das wichtigste Mannschaftsrennen der Segelwelt steckt in der Krise. 1973/1974 als Whitbread Round the World Race durchgestartet, steuert es auf die 14. Auflage mit Startschuss im Januar 2023 zu. Noch aber mangelt es an einem veritablen Teilnehmerfeld. Zwar haben sich in den beiden Wertungsklassen Imoca und Volvo Ocean 65 insgesamt 22 Teams registrieren lassen, aber nur die wenigsten ihren Start bislang offiziell bestätigt. Bei den Imocas gelten nur Team Malizia und das amerikanische 11th Hour Racing Team als gesetzt.
„Notfalls segeln wir den Kurs um die Welt auch ohne Regatta ab“
Auch das zweite GER-Projekt, das deutsche Offshore Team Germany, ist noch auf Partnersuche. Um andere Rennställe, wie beispielsweise den von Vendée-Globe-Sieger Yannick Bestaven, ranken sich bislang nur Gerüchte. „Fünf Imocas wären schon toll. Dann hätten wir ein Rennen“, hofft Herrmann, dessen Team den Budget-Druck anderer Mannschaften nicht hat. Team Malizia ist über fünf Jahre und beide ins Visier genommene Regatta-Großereignisse hinweg „so solide finanziert, dass wir keine Kompromisse machen müssen“.
Herrmann lässt sich von der unsicheren Lage aber nicht irritieren. „Es wird ein Schicksalsjahr für das The Ocean Race und die Geschichte des Regattasports. Wir hoffen sehr, dass dieses große Rennen gut aus der Krise kommt, aber notfalls segeln wir den Kurs um die Welt auch ohne Regatta ab, weil er für uns ideal ist.“
Hamburger „Kontrollfreak“ will Verantwortung abgeben
Gefreut hat sich Herrmann kurz vor Weihnachten über die Kunde, die auch viele Segelfans in Wallung brachte: Deutschlands Segelhauptstadt Kiel hat sich einen sogenannten „Fly-By“ für das kommende The Ocean Race erkämpft. Die Flotte der Weltumsegler wird auf der vorletzten Etappe vom dänischen Aarhus ins niederländische Den Haag eine Bahnmarke tief in der Kieler Innenförde passieren. „Das ist eine sehr schöne Geschichte für das Rennen, die Zuschauer und uns. Das Ocean Race nimmt Form an“, freut sich Herrmann.
2002 hatten in Kiel mehr als 100.000 Zuschauer den historisch ersten und bislang einzigen deutschen Rennsieg beim Zieldurchgang gefeiert. Damals hatte die grün-weiße „illbruck“ den Meeres-Marathon gewonnen.
Zwei Jahrzehnte später ist nun mit Herrmanns Team Malizia wieder eine deutsche Segelmacht mit Hauptquartier in Hamburg herangereift, die mit Siegchancen ins The Ocean Race starten könnte. Die bestmögliche Vorbereitung darauf zählt zu den wichtigsten guten Vorsätzen des Skippers für das neue Jahr, ist aber nicht der einzige. Der Segel-Darling hat auf Kurs Comeback auch sich selbst im Blick. Sein Team, sagt er, sei großgeworden, arbeite auch über den Jahreswechsel hinweg „mit Vollgas“ weiter. Er selbst müsse nun lernen, loszulassen und Verantwortungsbereiche abzugeben. „Das ist nicht leicht für einen Kontrollfreak wie mich“, fügt Herrmann lächelnd hinzu.