Hamburg. Mit dem DFB-Pokal beginnt eine Saison, von der niemand weiß, wie sie enden wird. Klar ist nur: Die Zuschauer müssen zurück ins Stadion.
Meine Frau ist kein Fußballfan. Nie gewesen. Wenn ich in den vielen Jahren als Reporter abends nach Hause kam, fragte sie nie, wie es um den HSV, den FC St. Pauli oder etwa die deutsche Nationalmannschaft stehe. Vermutlich hat sie die meisten meiner Sportartikel im Abendblatt noch nicht einmal gesehen.
In dieser Woche sprachen wir ausnahmsweise doch über Fußball. Während eines Spaziergangs fiel ihr ein, wie ich ihr und unserem damals sechsjährigen Sohn, der zum ersten Mal ins Stadion durfte, 2001 zwei Karten für eine Partie im Volkspark geschenkt hatte. Sie erzählte, wie sie ab der Autobahn-Ausfahrt im Stau gestanden hatte, Stoßstange an Stoßstange. Doch anders als sonst nervte sie das Warten überhaupt nicht. Überall hingen Fahnen und Schals aus den Autofenstern, viele hupten.
Plötzlich erfasste ausgerechnet sie, die Stadionnovizin, ein Gemeinschaftsgefühl. Und als sie die letzten Stufen zum Eingang ihres Tribünenblocks genommen hatte und zum ersten Mal in den Bauch der Arena blickte, kribbelte ihre ganze Haut. Um sie herum wartete eine brodelnde Masse auf den Anpfiff, die Luft schien zu vibrieren. 57.000 Menschen auf einem Fleck, so etwas hatte sie noch nie gesehen oder gefühlt. Es nahm ihr den Atem. Meine Frau hat diesen Abend nie vergessen.
Viele Menschen könnten wehmütig werden
Gut möglich, dass besonders an diesem Wochenende, wenn der Fußball mit der ersten Runde des DFB-Pokals seine Sommerpause beendet, viele Menschen wehmütig in Erinnerungen wie dieser kramen und sich vorstellen, wie wunderbar es jetzt wäre, sich am Sonntag mit Freunden oder der Familie ins Auto zu setzen und die 650 Kilometer ins Saarland zurückzulegen, um den FC St. Pauli in der ersten Pokalrunde gegen Regionalligist SV Elversberg zu sehen. Und am Abend wieder 650 Kilometer zurückzufahren.
Oder den HSV am Montag nach Dresden zu begleiten. Hin und zurück auch 1000 Kilometer. Bloß, um diese immer wieder aufs Neue faszinierende Atmosphäre in einem Fußballstadion erleben und das eigene Team unterstützen zu können.
Sie würden die Strapazen gerne auf sich nehmen. Und in Wahrheit geht es ja auch um viel mehr als nur die 90 Minuten in einem Stadion. Sondern auch um die sich langsam aufbauende Spannung, die festen, vom Aberglauben geprägten Rituale vor einem Heimspiel, die in der Vergangenheit zuverlässig für einen Sieg des Herzensclubs gesorgt haben. Oder das Teilen von Freude und Leid nach Spielende.
Die Fans sind das Herz und die Konstante eines jeden Vereins
Niemand kann so ausdauernd die Gründe für Erfolg oder Scheitern diskutieren wie Fußballfans – und vor allem, welche Prognosen für den weiteren Saisonverlauf nun zu stellen sind beziehungsweise was nun zwingend zu tun ist, um die Sache doch noch zum Guten zu wenden. Wer, wie meine Frau, intuitiv beim Besuchen eines Fußballspiels ein Zusammenhörigkeitsgefühl verspürt, liegt genau richtig. Fußball wirkt seit Jahrzehnten als sozialer Kitt der Gesellschaft, und zwar von der Bundesliga bis in die Kreisklasse.
Im Profisport hatte sich über die Jahre in Deutschland – begünstigt auch durch den deutlich gestiegenen Komfort in den modernisierten Stadien – eine „Dabei-sein-wollen“-Kultur entwickelt. Vor Corona konnte sich die Bundesliga bei einem Schnitt von 42.738 Besuchern (Saison 2018/19) mit dem Titel „zuschauerstärkste Fußballliga der Welt“ schmücken. Sagenhafte 18.885.620 Menschen sahen die Spiele der Bundesliga und der 2. Bundesliga innerhalb einer Spielzeit. Die Fans sind erstens das Herz und die Konstante eines jeden Vereins und tragen die Identität und Werte weiter. Und sie sorgten zweitens als stimmgewaltige Kulisse dafür, dass die nationalen Medienverträge für die Bundesliga und die 2. Bundesliga in dieser Saison 1,16 Milliarden Euro wert sind. Doch jetzt hat ein Virus den Fans den Fußball genommen.
Fußball im absoluten Notbetrieb
Geisterspiele, so interessant die über die Stadionmikrofone gut zu hörenden Rufe von Trainern und Spielern auch sein mögen, sind vor allem eines: Sinnbild für den Fußball im absoluten Notbetrieb. Und ein Ende ist nicht in Sicht. „Das wird die anspruchsvollste und schwierigste Spielzeit des professionellen Fußballs in Deutschland“, hat Christian Seifert dieser Tage gesagt. Der Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga prognostizierte mit diesen Worten mit Recht, dass das mühsame Zuendebringen der vergangenen Saison nur die erste Etappe eines langen Weges sein wird.
Vor den Spielern liegt eine wahre Terminhatz. Der „Kicker“ hat ausgerechnet, dass dem FC Bayern München nach dem Gewinn des Triples ein Mammutprogramm von 57 Partien droht: Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal, deutscher und europäischer Supercup, dazu die Club-WM. Für Nationalspieler kommen die Länderspiele noch dazu.
Wegen der Europameisterschaft im kommenden Sommer ist die Planung bis Ende 2021 so eng, dass kaum Platz für Ausweichtermine bleibt, sollten Spiele wegen Infektionsausbrüchen in Mannschaften ausfallen müssen. Ob, wie und wann die neue Saison ordnungsgemäß zu Ende gehen wird, kann heute niemand wissen. Aber wo bleiben auf diesem Weg die Fans?
Das Land ist in Ost und West gespalten
Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn („Tausende Zuschauer in den Stadien – das passt nicht zum aktuellen Infektionsgeschehen“) erst kürzlich zur Vorsicht mahnte, sorgt unser föderalistisches System für eine uneinheitliche Haltung. Stichwort Flickenteppich. Obwohl Bund und Länder in einer Arbeitsgruppe bis Ende Oktober bundesweit geltende Bedingungen für eine Rückkehr der Zuschauer erarbeiten sollen, ist das Land quasi in Ost und West gespalten.
So darf RB Leipzig mit der Genehmigung der sächsischen Behörden vor 8500 Zuschauern spielen. Dynamo Dresden will sogar mit 10.000 Fans im Rücken am Montag den HSV aus dem Pokal kicken. Mecklenburg-Vorpommern lässt beim Spiel von Hansa Rostock gegen VfB Stuttgart bis zu 7500 Fans zu, in Sachsen-Anhalt kann der 1. FC Magdeburg gegen Darmstadt 98 mit 5000 Fans planen. In Nordrhein-Westfalen dagegen darf der FC Schalke 04 in der 62.000 Zuschauer fassenden heimischen Arena nur vor 300 Besuchern gegen den 1. FC Schweinfurt 05 kicken.
Hat der Pokal bekanntlich seine eigenen Gesetze, stellt sich für den Ligenbetrieb die Frage, ob eine dauerhaft unterschiedliche Handhabung der Zulassung von Zuschauern das Fairplay und die Integrität des Wettbewerbs gefährden. „Man stelle sich am Ende der Saison ein Relegations-Hinspiel als Geisterspiel in Nordrhein-Westfalen vor und das Rückspiel in Sachsen vor ausverkauftem Haus. Der Aufschrei wäre zu Recht groß“, mahnt Ex-DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig (zuletzt St. Pauli). Eine Sichtweise, die Sky-Experte Dietmar Hamann nicht teilt: „Das hat doch nichts mit Wettbewerbsverzerrung zu tun. Man sollte sich für die anderen Clubs freuen.“
Mutiges Vorgehen ist gefragt
Und in Hamburg? Hier hat der Senat zwar eine Verordnung erlassen, wonach Sportveranstaltungen mit mehr als 1000 Zuschauer im Freien in Einzelfällen künftig möglich sind, wenn diese an einem Veranstaltungsort ohne geschlossene Dachkonstruktion mit möglichst mehr als 10.000 festen Sitzplätzen stattfinden. Die Veranstaltungen müssten von „von herausragender Bedeutung für Deutschland“ sein, fügte Sozialsenatorin Melanie Leonhard am Dienstag eilig hinzu. Zweitligaspiele gehören für sie nicht in diese Kategorie.
Es ist offensichtlich, dass vonseiten der Stadt eine Lex Rothenbaum geschaffen wurde, um dem von der Stadt unterstützten Tennisturnier im September mehr Zuschauer (2300 wurden genehmigt) zu verschaffen, auf der anderen Seite aber nicht einen weiteren Sonderweg im Fußball zu gehen. Ansonsten ergäbe eine unterschiedliche Bewertung überhaupt keinen Sinn.
Selbstverständlich geht es nicht darum, die Pandemie zu verharmlosen, aber: Es stellt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch im Sport doch grundsätzlich die Frage, welche Strategie wir beim Umgang mit dem Virus verfolgen. „Wir müssen aufpassen, dass dieses Land nicht in Schreckstarre gelähmt wird“, mahnte DFL-Geschäftsführer Christian Seifert. Wie wahr. Professionelles, aber genauso mutiges Vorgehen ist gefragt, um den Menschen wieder ein sozialeres Miteinander zu ermöglichen, das in Einklang mit den Schutzbestimmungen steht.
Strenge Strafen
Ja, ich h´re die Fußballhasser schon, wie sie empört Einspruch erheben. Wie will man bitteschön die Ströme von Tausenden grölenden und in der Regel besoffenen Fußball-Rowdys vor und nach dem Spiel kontrollieren? Wer immer wieder auf diese oder andere Klischees hereinfällt, ignoriert, dass Regelbrecher einen verschwindend geringen Anteil unter der Masse der Stadionbesucher ausmachen dürften, die sehr wohl ein streng reguliertes System der An- und Abreise akzeptieren und umsetzen würden, etwa unterschiedliche Zeitzonen zum Betreten und Verlassen einzelner Blöcke. Nebenbei, mal provozierend gefragt: Wenn sich an einem Sonnabend die Menschen in der U-Bahn drängen, weil sie in der Mönckebergstraße einkaufen möchten, regt sich kaum jemand auf. Mit welchem Recht will man aus diesem Grund Verbote für Fußballfans aussprechen?
Ob in der Innenstadt oder im Stadion, klar ist doch auch: Wer nicht verstehen will, dass wir noch lange von der alten Normalität entfernt sind und sich nicht entsprechend verhält, muss mit strengen Strafen rechnen. Aber warum soll man nicht Genehmigungen auf Bewährung ausstellen? Und wenn sich das Infektionsgeschehen im Herbst signifikant erhöht, sind alle Verordnungen mit ihren leichten Lockerungen sowieso Makulatur. Nicht nur, aber auch im Fußball werden wir uns auf stetige Veränderungen in diesem dynamischen Prozess einstellen.
Vorbildfunktion des Fußballs
In den vergangenen Monaten wurde oft darüber diskutiert, ob es sich für die Clubs wirtschaftlich rechnet, eine geringe Zahl an Zuschauern zuzulassen – doch das ist genau der falsche Ansatz und unterstreicht nur die wachsende Distanz zwischen Fußballclubs, die ihren wahren Auftrag vergessen haben, nämlich ihren „Kunden“ zu dienen, und der Basis. Wie kann ich den Fans den Fußball zurückgeben? Wie kann ich die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen? Das sollte die Leitlinie ihres Handelns sein.
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Erinnern wir uns kurz: Nach dem Neustart im Mai schauten viele andere Ligen in Europa voller Bewunderung auf den deutschen Profifußball, der in Rekordzeit ein Konzept zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs auf- und umgesetzt hatte. Und zwar, was häufig nicht gewürdigt wird, ohne woanders benötigte Testkapazitäten zu binden.
Im Fußball mit seiner herausgehobenen Stellung ist häufig von einer Vorbildfunktion, gerade für jüngere Menschen, die Rede. Und es stimmt doch auch: Der Fußball könnte in den kommenden Monaten viel verlorenes Image zurückgewinnen. Zum Beispiel, wenn die Topspieler, die über ihre eigenen Medienkanäle längst Millionen Menschen beeinflussen können, mit ihren Beiträgen und ihrem Verhalten zu verantwortungsvollem Umgang in dieser Dauerkrise beitragen. Wenn Solidarität und wirtschaftliche Vernunft nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt würde. Oder wenn sich der Fußball aktiv und mit Geld (was schon geschieht) an der Forschung über das Virus beteiligt.
Nein, Fußball ist längst nicht mehr nur Unterhaltung, er ist zu einem bedeutenden, auch politischen Faktor in unserer Gesellschaft herangewachsen. Für die Fans allerdings ist es vor allem weiter eines: ein Spiel. Es gibt diesen legendären Spruch von Bill Shankly, zwischen 1959–74, beim FC Liverpool 15 Jahre Trainer : „Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“ Nur wer ein Stadion einmal von innen gesehen und den Fußball gespürt hat, kann diese Worte verstehen.
Sagt meine Frau auch.