Sofia/Paris. Bulgariens Verbandschef tritt zurück. Polizei riegelt Verbandszentrale ab. Engländer erwogen, in Kabine zu bleiben.
Zwei politische Vorfälle in der EM-Qualifikation erschüttern Fußball-Europa. Zum einen salutierten die türkischen Nationalspieler nach dem Treffer ihrer Auswahl zum 1:1 in Paris gegen Frankreich erneut und sendeten damit einen militärischen Gruß in Richtung der Armee von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der einen Angriffskrieg in Nordsyrien führt. Einzig der Torschütze der Türkei, Düsseldorfs Kaan Ayhan, wollte sich dieser Geste nicht anschließend, wodurch er den Zorn einiger Mitspieler auf sich gezogen hat.
Der wohl größere Skandal spielte sich aber nahezu gleichzeitig in Sofia ab, wo Bulgarien auf England (0:6) traf. Das Spiel war in der ersten Halbzeit zweimal wegen rassistischer Äußerungen von bulgarischen Fans unterbrochen worden, mehrfach wurde von einheimischen Zuschauern auf der Tribüne der Hitlergruß gezeigt. Außerdem hielten Zuschauern Pullover mit dem Uefa-Emblem und der Aufschrift "no respekt" – statt dem regulären Slogan "no to racism". In Abstimmung mit dem Schiedsrichter drohte die englische Nationalmannschaft zwischenzeitlich mit einem Boykott.
Vor allem Debütant Tyrone Mings hatte sich bei seinem Länderspiel-Debüt mehrfach beim kroatischen Schiedsrichter Ivan Bebek beschwert, dass sein Teamgefährte Rahim Steerling bei jeder Ballberührung mit Affenlauten von der Tribüne diskreditiert wurde. Die Beleidigungen waren „ziemlich klar auf dem Platz zu hören, aber wir zeigten eine großartige Reaktion und ein großes Miteinander, und letztendlich haben wir den Fußball sprechen lassen“, sagte Mings.
England-Spiel stand vor dem Abbruch
Der Stadionsprecher warnte nach Aufforderung durch den Referee vor dem Abbruch der Partie. Der Schiedsrichter brachte die Partie jedoch zu Ende. „Die unglücklichen Vorfälle im Spiel wurden so gut wie möglich behandelt und wir sind stolz darauf, wie wir damit umgegangen sind“, twitterte der 26-jährige Mings von Aston Villa. „Wir alle haben die Entscheidung getroffen. Wir sind glücklich, das wir auf das Spielfeld zurückgekehrt sind“, schilderte er.
Kapitän Harry Kane, der schon im Vorfeld der Partie mit rassistischen Entgleisungen rechnete (siehe Video unten), agierte als Sprachrohr seiner Mannschaft. "Es ist nicht einfach, unter solchen Umständen zu spielen." Der Stürmer von Tottenham Hotspur räumte ein, dass die Spieler in der Halbzeitpause darüber diskutiert hätten, ob sie noch einmal auf den Platz zurückkehren sollten. "Wenn es Spieler gegeben hätte, die nicht mehr gewollt hätten, wären wir nicht wieder aus der Kabine gekommen."
Doch das Team entschied sich geschlossen, dem Rassismus zu trotzdem und diese mental schwierige Partie zu beenden. "Unsere Reaktion zeigt aber auch, wie erwachsen und charakterstark das Team ist", sagte Kane.
Kane rechnete im Vorfeld mit Rassismus:
Southgate: "...dann hätten wir den Platz verlassen"
Wie nah England dem Boykott war, schilderte Trainer Gareth Southgate. "Wenn irgendetwas in der zweiten Hälfte passiert wäre, hätten wir den Platz sofort verlassen. Der Schiedsrichter wusste das", sagte der Coach mit glasigen Augen auf der Pressekonferenz. "Natürlich kann man uns dafür kritisieren, möglicherweise nicht weit genug gegangen zu sein. Aber ich denke, wir haben auch ein großes Zeichen damit gesetzt, unter diesen Umständen weitergespielt zu haben."
Greg Clarke, der Vorsitzender des englischen Verbandes FA, nannte das Geschehen „eine der schrecklichsten Nächte, die ich je im Fußball gesehen habe.“ In einer Mitteilung des Verbands hieß es: „Wie wir bedauerlicherweise wissen, ist es nicht das erste Mal, dass unsere Spieler von dieser Art Missbrauch betroffen sind.“ Umgehend forderte die FA Untersuchungen durch die europäische Fußball-Union Uefa.
Coach Southgate zeigte sich trotz des klaren Sieges nach dem Match in Sofia betroffen. „Wir wissen, dass dies eine inakzeptable Situation ist, aber ich denke, wir haben es geschafft, zwei Aussagen zu treffen: Indem wir das Spiel gewonnen haben, aber auch indem wir alle mehrfach auf die Situation aufmerksam gemacht haben, als das Spiel zweimal gestoppt wurde.“
Britische Presse rechnet mit Sofia ab
Der 6:0-Kantersieg der "Three Lions" geriet dadurch völlig in den Hintergrund. Auch die britische Presse beschäftigte sich am Tag danach fast ausschließlich mit dem Skandal von Sofia. „Willkommen in der neuen Welt. Wir haben ein Fußballspiel erwartet. Was wir bekommen haben, war ein miserables Ereignis in einer miserablen Nacht in einem miserablen Stadion (...) vor einem miserablen Hintergrund von Beschuldigungen und bösem Blut", schrieb „The Guardian“.
Und weiter: "Am Ende hat sich das kein bisschen wie ein Sportereignis angefühlt. Es fühlte sich an wie eine offene Wunde, ein Angriff auf die grundlegende Idee von Nationen, die zusammenkommen.“
„The Sun“ schrieb: „Eine Umgebung wie diese, eine giftige Mischung aus schändlichen und beschämenden Beschimpfungen und Gesängen, ist nicht das, woran man sich bei einem Fußballspiel erinnern sollte.“ Und der „Daily Mirror“ kommentierte: „Alle werden sich an eine Nacht erinnern, die eine Schande für den Fußball war.“
Krassimir Balakow mit fragwürdiger Reaktion
Indes verharmlosten Bulgariens Coach Krassimir Balakow und Keeper Plamen Iljew das Geschehen. Sie hätten nichts gehört. „Ich muss auch sagen, es gab nicht nur das Benehmen der bulgarischen Fans, sondern auch der englischen Fans, die während der bulgarischen Nationalhymne gepfiffen und gegrölt haben“, sagte Balakow, einst Profi beim VfB Stuttgart. Iljew lobte laut dem englischen „Guardian“ sogar das Verhalten der Heimfans. „Sie haben sich gut benommen, und die Engländer haben ein wenig überreagiert“, sagte Iljew.
Der zweifache Torschütze Sterling stichelte hinterher gegen Balakow, zumal der schon vor der Partie gesagt hatte, England habe ein größeres Rassismusproblem als Bulgarien. „Mmmmh ... da bin ich mir nicht so sicher, Chef“, schrieb Sterling bei Twitter.
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Ayhan salutiert nicht – und bekommt Ärger
Auch beim Länderspiel Frankreich gegen die Türkei geriet der Sport zur Nebensache. Nachdem der Düsseldorfer Bundesliga-Profi Kaan Ayhan sich weigerte, die türkischen Streitkräfte mit einem militärischen Gruß zu unterstützen, entwickelte sich ein kurzer Disput zwischen Verteidiger Merih Demiral von Juventus Turin und Ayhan. Demiral soll den Torschützen dazu animiert haben, ebenfalls zu salutieren. Dieser habe aber seinen Weg zurück aufs Feld fortgesetzt. Auch sein Düsseldorfer Teamkollege Kenan Karaman beteiligte sich nicht an der politischen Geste.
Bereits nach einem ähnlichen Militärgruß nach dem 1:0-Sieg der Türken am Freitag gegen Albanien hatte die Uefa angekündigt, ein Verfahren gegen den türkischen Verband einzuleiten. Das Regelwerk des europäischen Verbandes verbietet politische Äußerungen in Stadien. Die Türkei-Profis hatten direkt nach dem Siegtreffer und später auch in der Kabine mit der Hand an der Stirn salutiert. Unter ihnen waren dort auch die beiden Bundesligaprofis Ayhan und Karaman.
Fortunas Sportvorstand Lutz Pfannenstiel hatte danach umgehend das Gespräch mit beiden Spielern gesucht. Beide Akteure versicherten, dass es sich lediglich um eine Solidaritätsbekundung für Soldaten und ihre Angehörigen handelte, verbunden mit dem Wunsch, dass sie wieder gesund zu ihren Familien zurückkehren können. „Wir sind davon überzeugt, dass ihnen nichts ferner lag, als ein politisches Statement abzugeben“, erklärte Pfannenstiel. Die Fortuna distanziere sich „in aller Deutlichkeit von jeglicher vermeintlich politisch motivierter Handlung, die gegen die Werte des Vereins verstößt.“
Bulgarien droht ein Geisterspiel
Die zuständige Kontroll-, Ethik- und Disziplinarkammer der Uefa will sich am Donnerstag mit der Problematik befassen. Ob dann schon mögliche Sanktionen verhängt werden, die von einer Ermahnung über Geldstrafen bis hin zu Platzsperren und Punktabzügen reichen können, ist aber fraglich.
Nach den rassistischen Beleidigungen seiner Fans droht der bulgarischen Nationalmannschaft in jedem Fall ein Geisterspiel. Artikel 14 der Rechtspflegeordnung der Uefa sieht bei einem wiederholten Fall nämlich ein „Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit und eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Euro“ vor.
Die Partie gegen England wurde bereits unter teilweise leeren Rängen ausgetragen, nachdem bulgarische Anhänger in den Spielen gegen Tschechien und den Kosovo im Juni durch rassistische Äußerungen auffällig geworden waren.
Bulgariens Verbandschef tritt zurück
Der Präsident des bulgarischen Fußballverbandes, Borisslaw Michailow, ist nach den Rassismus-Vorfällen zurückgetreten. Nach 14 Jahren an der Spitze habe Michailow am Dienstag seinen Rücktritt eingereicht, der den Mitgliedern des Exekutivkomitees bei einer Tagung an diesem Freitag vorgelegt werden soll. Das teilte der Verband auf seiner Internetseite mit. Zuvor hatte Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow Michailows Rücktritt gefordert.
Zuvor hatte Sportminister Krassen Kralew am Dienstag in Sofia erklärt, dass die Regierung bis zum Rücktritt Michailows die Beziehungen zum Fußballverband aussetzen wolle, auch die finanziellen Zuwendungen sollten eingestellt werden. Michailow hatte die Rücktrittsforderung zunächst noch zurückgewiesen.
Polizeieinsatz in Bulgariens Verbandszentrale
Kurz nach Michailows Rücktritt hat es einen Polizeieinsatz in der Verbandszentrale gegeben. Das Gebäude in Bojana bei Sofia wurde nach Angaben einheimischer Medien von Kräften zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität abgeriegelt. Die Aktion am Dienstagnachmittag soll eine Überprüfung des Verbands ermöglichen, die Regierungschef Borissow angeordnet hat.