Hamburg. Yusra Mardini startete 2016 im Olympia-Flüchtlingsteam. In Hamburg will sie den Schritt in ein halbwegs normales Leben schaffen.
Natürlich gibt es immer noch Menschen, die ihr ihre Geschichte nicht glauben. Die sagen, sie sei eine Lügnerin. Die voller Neid auf das blicken, was sie aus ihrem Leben gemacht hat. Und Yusra Mardini kann diesen Menschen nicht böse sein, denn es stimmt ja, dass ihre Geschichte kaum zu glauben ist, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. „Manchmal, wenn mir Fragen gestellt werden und ich wieder über die vergangenen Jahre nachdenke, kommt es mir selbst so vor, als würde ich auf mein Leben wie auf einen Film schauen, der nicht real ist“, sagt sie.
Yusra Mardini, die seit Spätsommer des vergangenen Jahres in Hamburg lebt und trainiert, ist eine syrische Schwimmerin, die während der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro erstmals zu Weltruhm gelangte. Die heute 21-Jährige zählte zu den 43 Athletinnen und Athleten, die für das Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) nominiert waren. Zehn von ihnen traten in Brasilien tatsächlich zu Wettkämpfen an, und Mardini war eine von ihnen. Dass sie nicht die Klasse hatte, um sich mit der Weltelite zu messen, war klar. Doch als sie ihren Vorlauf über 100 Meter Schmetterling gewann (was aufgrund der schwachen Zeit trotzdem nicht zum Halbfinaleinzug reichte), war das der Startschuss für das Leben, das sie heute führt, weil sie der Welt ihre Geschichte erzählen durfte.
Es ist die Geschichte einer Flucht, wie sie viele ihrer Landsleute oder Geflüchtete aus anderen Krisenregionen der Welt in ähnlicher Form auch erlebt haben. Nur dass Yusra Mardini, die mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Sara im August 2015 über Beirut und Istanbul nach Europa kam, eine Komponente hinzufügen kann, die ihr Schicksal auf unheimliche Weise mit ihrem Sport verknüpft. Auf der Überfahrt vom türkischen Izmir auf die griechische Insel Lesbos, die sie gemeinsam mit 18 anderen Menschen in einem für sieben Personen ausgelegten Boot wagten, fiel der Außenbootmotor aus.
Mehrere Stunden dauerte der Überlebenskampf
Yusra und ihre Schwester, damals ebenfalls noch syrische Nationalschwimmerin, sprangen ins Wasser, um das Boot zu erleichtern, zu stabilisieren und auf Kurs zu halten. Mehrere Stunden dauerte der Überlebenskampf, bis sie in Lesbos anlandeten. Von dort ging es über die offene Balkanroute von Budapest bis nach Berlin, in die deutsche Hauptstadt, „die wir zwar nicht kannten, aber in die wir wollten, weil sie uns als sicherster Ort in Europa erschien“.
Yusra Mardini hat diese Geschichte „gefühlt eine Million Mal“ erzählt, sie würde es auch noch tausendmal tun, wenn es nötig wäre. Sie war Gast beim früheren US-Präsidenten Barack Obama, hatte eine Audienz bei Papst Franziskus. Die Vereinten Nationen ernannten sie im April 2017 zur Sonderbotschafterin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Der US-Konzern Under Armour, auch als Ausrüster beim FC St. Pauli aktiv, nahm sie als Werbegesicht unter Vertrag. Sie hat im Mai 2018 im Knaur Verlag ihre Biografie „Butterfly“ – der Titel ist angelehnt an ihren Lieblingsschwimmstil – veröffentlicht. Spätestens Anfang 2020 soll ein Hollywoodfilm die Story ihres Lebens nacherzählen.
Regisseur ist der Brite Stephen Daldry, der mit „Billy Elliot“, „The Hours“ und „Der Vorleser“ Welterfolge auf die Leinwand brachte. Das Casting für die Hauptdarstellerin läuft, im Sommer soll Drehbeginn sein. Yusra ist als Beraterin in die Arbeiten eingebunden. „Ich weiß jetzt schon, dass ich die ganze Zeit weinen werde, wenn ich den Film das erste Mal sehe“, sagt sie, „aber ich weiß auch, dass ich das aushalten muss, weil ich mit meiner Geschichte vielen Menschen Mut machen kann und möchte.“
Fülle an Eindrücken
Wie schafft es ein junger Mensch, eine solche Fülle an Eindrücken zu verarbeiten? Wie findet man Halt, wenn man gezwungen ist, sein altes Leben zurückzulassen und vom neuen Leben in die Öffentlichkeit gespült wird? Und wie gelingt es, zu einer Art Normalität zurückzufinden, wenn die ganze Welt dabei zuschaut? Diese Fragen stellte sich Yusra Mardini im Spätsommer des vergangenen Jahres auch. Mit ihren Eltern, die vier Monate nach der Flucht ihrer beiden älteren Kinder mit der jüngsten Schwester Shehad (11) nach Deutschland kamen, hatte sie in Berlin Fuß gefasst. Sie trainierte bei den Wasserfreunden Spandau bei Trainer Sven Spannekrebs. „Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass Berlin nicht der richtige Ort für mich ist“, sagt Yusra, „ich sah nicht die Möglichkeit, mich international zu messen und meine Leistung so zu verbessern, wie es mein Anspruch war.“
Der Impuls, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, sei nicht erst mit der Flucht aus der Heimat in ihr gekeimt, sagt Yusra. „Ich war schon als Kind so. Mein Vater war in Syrien mein Schwimmtrainer, er hat Sara und mich mit seinen Methoden, uns zu neuen Bestzeiten zu treiben, manchmal zum Weinen gebracht“, sagt sie. Schon in Damaskus habe die Familie ums Überleben kämpfen müssen, „wir hatten ein finanzielles Limit, das nicht überschritten werden durfte, im Sommer musste ich als Rettungsschwimmerin arbeiten, um Geld zu verdienen“, sagt sie. Dennoch habe sie ihren Traum, als Schwimmerin bei Olympischen Spielen anzutreten, verfolgt, seit sie neun Jahre alt war.
Ihr Antrieb, immer besser werden zu wollen, macht nicht am Beckenrand Halt. Er zeigt sich unter anderem darin, dass sie erstaunlich gut Deutsch spricht, obwohl sie im Herbst 2015 lediglich „Guten Tag“ sagen konnte. Noch besser ist ihr Englisch, das sie in Syrien in der Schule lernte und im Selbststudium mit Filmen in Originalsprache perfektionierte. „Ich wollte einfach besser sein als meine Schwester“, sagt sie. In Deutschland zwangen sie ihre Trainer in Berlin dazu, die Sprache zu lernen, indem sie nur Deutsch mit ihr sprachen. „Das war hart, aber jetzt bin ich darüber sehr froh“, sagt sie.
Sechs Monate Probezeit
Veith Sieber hält es genauso wie seine Berliner Kollegen. Der 39-Jährige ist seit 2017 Cheftrainer der Schwimmer am Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein. Mardini und er hatten sich bei der WM 2017 in Budapest kennengelernt, „ich kannte zwar ihre Geschichte, aber ich wusste ihre Leistungsfähigkeit nicht einzuschätzen. Als ich hörte, dass sie über einen Wechsel nachdachte, haben wir ihr angeboten, was wir leisten können. Und das hat sie überzeugt.“ Vorausgegangen waren dem Angebot intensive Diskussionen im Team. „Wir waren uns nicht sicher, ob die Aufmerksamkeit, die Yusra erzeugt, für unseren Stützpunkt förderlich oder hinderlich sein würde. Aber als Olympiateilnehmerin war sie so interessant, dass wir zumindest den Versuch machen wollten, zusammenzuarbeiten“, sagt er.
Sechs Monate Probezeit vereinbarten sie beim Wechsel im Spätsommer 2018. Diese Zeit ist nun beendet, spätestens seit dem Trainingslager auf Lanzarote, von dem sie am vergangenen Sonntag zurückkehrten, ist Veith Sieber sicher, dass er nicht nur einem „Marketing-Gag“ aufgesessen ist. „Für uns waren zwei Dinge wichtig. Zum einen, dass Yusra einen leistungssportlichen Anspruch hat. Zum anderen, dass sie sich ins Team einfügt und keine Sonderrolle aufgrund ihrer Geschichte beansprucht“, sagt der Coach. Beides habe die Athletin eindrucksvoll bewiesen. „Ihre Arbeitsmoral ist großartig, außerdem ist sie ein toller, positiver Typ, der sich super ins Team einbringt“, sagt er.
Wer Yusra Mardini trifft, der zweifelt nicht an den Worten ihres Trainers. Sie ist zugewandt im Gespräch, beantwortet jede Frage offen und mit einer Ehrlichkeit, die ihre Mutter dazu veranlasst hat, ihr eine Karriere in der Politik, die sie mal angedacht hatte, auszureden, „weil sie findet, dass ich zu ehrlich bin“. Gleichzeitig strahlt die 21-Jährige, die jünger aussieht, aber reifer wirkt, eine Art Ungeduld und Getriebenheit aus, die verständlich macht, warum sie immer wieder den Weg aus der Komfortzone sucht. „Ich will mich immer verbessern, deshalb habe ich ja auch den Schritt nach Hamburg gemacht, weil ich gesehen habe, mit welcher Motivation Veith seine Sportler trainiert. Mein Ziel ist es, irgendwann mit Europas Spitze mitzuhalten“, sagt sie.
Erster Wettkampf für Anfang April geplant
Ob das gelingen kann, vermag Veith Sieber noch nicht einzuschätzen. In seiner Trainingsgruppe, in der altersübergreifend 14 Sportler zusammengefasst sind, „ist sie kein Hindernis, sonst hätten wir der Zusammenarbeit auch nicht zugestimmt. Aber eine deutsche Norm wird sie wahrscheinlich nie erfüllen können.“ Wegen einer hartnäckigen Schulterverletzung konnte Yusra Mardini, die trotz des Wechsels nach Hamburg weiterhin für die Wasserfreunde Spandau startet, bislang nur Aufbautraining absolvieren. Ihre Lieblingsdisziplin hat sie deshalb seit drei Monaten nicht trainiert, ihre Spezialstrecke soll 200 oder 400 Meter Freistil werden.
Der erste Wettkampf unter Siebers Führung ist für Anfang April in Den Haag (Niederlande) geplant. Sportlicher Höhepunkt des Jahres soll die WM im Juli in Gwangju (Südkorea) sein, wo sie im Team neutraler Athleten des Weltverbands antreten würde. Dafür ist ebenso wenig die Erfüllung einer Norm erforderlich wie für das olympische Flüchtlingsteam, in das die Athleten vom IOC berufen werden. Noch stehen die Nominierungen für Tokio 2020 nicht fest, aber dass die Herren der Ringe auf eine Athletin verzichten, die in einem Hollywoodfilm verewigt wird, ist kaum vorstellbar.
„Tokio ist das Ziel, auf das wir hintrainieren“, sagt Veith Sieber. Manchmal mache er sich schon Gedanken, ob seine Athletin angesichts ihrer vielen Nebenbühnen die Belastungen verkraften wird. Sie wird in Kürze erstmals die Hilfe eines Mentalcoaches in Anspruch nehmen, vorrangig aber, um ihre sportlichen Leistungsgrenzen zu verschieben. Bislang hatte sie psychologische Betreuung nicht als notwendig erachtet, „ich hatte noch keinen Zusammenbruch“, sagt sie, es klingt fast etwas trotzig. Schwimmen sei für sie der Rückzugsort, den sie brauche, um Ruhe zu finden. „Im Wasser bin ich einfach nur Yusra“, sagt sie.
In Hamburg lebt sie in einer Wohngemeinschaft
Veith Sieber sagt, er habe „das Gefühl, dass sie in den vergangenen Monaten erwachsen geworden ist. Sie lernt hier, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Zwar fährt Yusra an jedem freien Wochenende zur Familie nach Berlin. „Aber in Hamburg in einer WG mit einer Beachvolleyballerin zu wohnen und für alles selbst verantwortlich zu sein, das tut mir gut“, sagt sie, „ich wollte nicht mit 30 merken, dass ich gar nicht weiß, wie das Leben funktioniert.“
Deutschland, sagt Yusra Mardini, könnte das Land sein, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wird. Aktuell besitzt sie eine drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis. „Es ist meine zweite Heimat, hier fühle ich mich sicher und bekomme Hilfe von Menschen, die mir nicht helfen müssten“, sagt sie. Natürlich ist ihr bewusst, dass ihre Bekanntheit eine gewisse, auch finanzielle Sonderstellung mit sich bringt, und dass längst nicht alle Geflüchteten sich in diesem Land so sicher und akzeptiert fühlen, wie sie es tut. Sie sieht das schon an ihren Eltern, die aufgrund der Sprachbarriere nicht arbeiten können, obwohl sie es wollten, der Vater am liebsten als Schwimmtrainer, die Mutter als Physiotherapeutin.
„Natürlich tut mir das weh, und ich versuche auch, mich dafür einzusetzen, dass sich die Lebensbedingungen für Flüchtlinge verbessern“, sagt sie. Grundsätzlich jedoch sei Deutschland eine gute, sichere Bleibe für sie, „und dafür bin ich sehr dankbar“. Nach den Spielen in Tokio wolle sie sich um eine berufliche Ausbildung kümmern, ein Sportstudium schwebt ihr vor. Und wenn es irgendwann möglich sein sollte, nach Syrien zurückzukehren, wäre das ihr größter Wunsch. Sie hat zwar schlimmste Dinge überstanden, immun gegen Angst habe sie das jedoch nicht gemacht. Neben dem Verlust geliebter Menschen fürchtet sie am meisten, ihre Heimat nie mehr wiederzusehen.
„Trotz all der positiven Erlebnisse, die ich seit der Flucht hatte, und auf die ich auch stolz bin, wünsche ich mir dennoch, das Ganze wäre nie passiert“, sagt Yusra Mardini. Ihr Leben ist aber kein Film, den sie als Unbeteiligte schaut. Es ist Realität, und wie sie diese meistert, das ist mehr wert als jede Goldmedaille.