Hamburg. Kurz bevor Tunahan Keser verschwand, wurde Khoren Gevor ins Knie geschossen. Tochter fürchtet das Comeback ihres Papas auf dem Kiez.
Natürlich hat er auch „Aktenzeichen XY ungelöst“ geschaut am Mittwoch vergangener Woche. Auch wenn er Insiderwissen hat, das über die im ZDF ausgestrahlten Erkenntnisse hinausgehen soll, war der Fernsehabend für Khoren Gevor ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Schließlich ging es um den Mord an Tunahan Keser, seinen Sportler. Dem Hamburger Boxtalent, das in Schenefeld lebte und bei Gevor trainierte, und dem er eine große Zukunft vorausgesagt hatte. Eine Zukunft, die abrupt endete am 23. Juni 2017, dem Tag, der Khoren Gevors Leben in zwei Teile teilt. In das Leben vor den Schüssen und das danach.
Am frühen Morgen jenes Tages, an dem Keser verschwand, hatte ein Unbekannter Gevor vor dessen Wohnung in Wedel aufgelauert und ihm von hinten ins Knie geschossen. Im kriminellen Milieu gilt ein Schuss ins Bein als letzte Warnung. Als Wochen später die Leiche Kesers in einem Waldstück nahe der Autobahn 7 bei Quickborn gefunden wurde, entdeckten die Ermittler auch bei ihr eine Schusswunde im Knie. Die Spekulationen waren kaum aufzuhalten, es wurde über illegale Autoschiebereien und Drogengeschäfte gemunkelt.
Hat Serienkiller Frank L. auch Keser ermordet?
Khoren Gevor kennt all diese Gerüchte, aber sie passen nicht zu dem, was er bezüglich seines Falls zu wissen vorgibt. Er glaubt nicht, dass der Serienkiller Frank L., der des Mordes an Keser verdächtigt wird, und der Schütze, der ihn verletzte, identisch sind. Der Polizei hat er gesagt, dass er den Mann, der ihn anschoss, erkannt habe, er will ihn sogar mehrfach auf Boxveranstaltungen wiedergesehen haben. Ein vergleichsweise nichtiger Streit, in dem es um verletzte Ehre ging, soll der Auslöser gewesen sein. „Die Behörden wissen, wer der Täter war, sie müssen jetzt Beweise finden. Ich habe Vertrauen in ihre Arbeit und werde mich öffentlich nicht weiter äußern“, sagt Gevor.
Der in Armenien geborene Mittelgewichtler, der 2000 beim Hamburger Universum-Stall mit dem Profiboxen begann und 2008 Europameister wurde, gilt als streitbarer Mensch. Gevor sagt immer offen, was er denkt. Im Ring und auch außerhalb kämpfte er stets mit offenem Visier und ohne Rücksicht auf Verluste, was ihn beim Publikum beliebt machte. Doch als er im April 2011 gegen den Magdeburger Robert Stieglitz seine vierte WM-Chance vergab und anschließend im Frust darüber, sich ungerecht behandelt zu fühlen, Ringrichter Manfred Küchler attackierte, schlug die Stimmung um. Gevor beendete eineinhalb Jahre und vier bedeutungslose Kämpfe später desillusioniert seine Karriere und begann, als Trainer zu arbeiten.
"Der dreckige Teil des Geschäfts"
Mit dem geschäftlichen Teil des Boxens hatte er da aber abgeschlossen. „Ich wollte mit dem dreckigen Teil des Geschäfts nichts mehr zu tun haben“, sagt er, „ich wollte nur versuchen, denen zu helfen, die mit ehrlichen Kämpfen nach oben kommen wollen.“ Seine Stiefsöhne Abel (24) und Noel (27), die ihre Karrieren aktuell unterbrochen haben, waren sein wichtigstes Projekt, aber er arbeitete auch für wechselnde Promoter. Bei einem dieser Einsätze lernte er Keser kennen. „Dieser Junge hatte etwas, er war furchtlos und ehrgeizig. Ich sah vieles in ihm, das ich von mir kannte“, sagt er.
Seitdem die Schüsse sein Leben zerrissen, hat Khoren Gevor sehr viel nachgedacht. Er hat sich in den Alkohol geflüchtet, aufgestaute Aggressionen drohten unkontrollierbar zu werden. Es gab oft Momente, in denen er wünschte, an Kesers Stelle gewesen zu sein. „Ich dachte dann: Man hätte mich erschießen sollen anstatt den Jungen, der hatte noch sein ganzes Leben vor sich“, sagt er, obgleich er weiß, dass das Unsinn ist. Nicht nur, weil er sein Leben eigentlich liebt, sondern auch, weil er als Vater, Ehemann und Trainer gebraucht wird. Und weil man mit 37 in der Regel auch noch eine Menge Leben vor sich hat.
Comeback nach Schuss ins Knie
Allerdings muss Khoren Gevor den Weg zurück in dieses Leben finden. Und er glaubt, dass das am ehesten möglich ist, indem er das tut, was er immer am besten konnte: kämpfen. Die Wunde im Knie ist längst verheilt, zu seinem Glück wurden weder eine Arterie noch Muskeln oder Sehnen nachhaltig verletzt. Deshalb hat er sich entschlossen, sein Comeback zu geben. An diesem Sonntag (16 Uhr) steigt er bei der Veranstaltungsreihe „Boxen im Norden“ in der Großen Freiheit wieder als Aktiver in den Ring.
Natürlich gibt es Menschen, die vermuten, er nutze den Mord an Keser als Promotion. Aber so tickt Gevor nicht. „Die Leute, die hinter den Schüssen stecken, wollten, dass ich weg bin. Nun bin ich wieder da, und ich werde beweisen, dass ich kein Krimineller bin und auch keine Angst habe. Ich kämpfe wieder, ehrlich, ohne Waffen, und nicht wegen Geld“, sagt er. Die Gage für das Comeback ist schmal, Gevor braucht sie auch nicht zum Leben, er verdient sein Geld als Trainer und als Feinmechaniker. „Ich kämpfe, weil ich es mir und Tunahan schuldig bin“, sagt er. Sein Boxer, den er oft „mein Junge“ nennt, habe immer von einem Titel geträumt. „Diesen Titel werde ich für ihn holen und ihm dann den Gürtel an sein Grab bringen.“
Für den Kampf 22 Kilo abgenommen
Wie ernst er das meint? Khoren Gevor lächelt, als er die Frage hört. Er hat vier Monate mit seinen Trainerkollegen Pavel Melkomiam, Latif Özbek und Maria Lindberg im Hammerbrook-Gym geschuftet. Er hat eisern Diät gehalten, von 98 Kilo wird er bis zum Wiegen am Sonnabend auf das Supermittelgewichtslimit von 76,2 kg abgenommen haben. Und als Gegner hat er sich den starken Ukrainer Viktor Poljakow (36) erbeten. „Man wollte mir einen ungarischen Sandsack hinstellen. Aber so etwas will ich nicht. Das ist nicht nur ein Comeback für einen Kampf, ich will es noch einmal richtig wissen. Deshalb brauche ich eine Standortbestimmung, damit ich weiß, was noch möglich ist“, sagt er.
Seine Tochter hat Angst um Gevor
Nicht alle finden, dass er das Richtige tut. Ehefrau Ninel versteht ihn, seine Tochter Liliya (10) hat eher Angst um ihn. Noel und Abel, die das Boxgeschäft kennen, sind auch nicht begeistert. „Aber zum Kampf werden sie da sein und mich unterstützen“, sagt er. Doch selbst wenn alle dagegen wären, würde er antreten. Zwar wisse er das Leben mittlerweile ganz anders zu schätzen, „weil ich weiß, dass ich tot sein könnte und wie schnell alles vorbei sein kann“. Aber im Ring sei er nach wie vor der Alte. „Schnelligkeit, Technik und vor allem der Biss, der Wille, das ist alles noch da“, sagt er.
Seit der Entscheidung für das Comeback fühle er sich „wie neu geboren, ich genieße jede Sekunde meines Lebens“. Und ein Gedanke erfüllt ihn mit besonderer Freude: dass Tunahan Keser in ihm weiterlebt, irgendwie.