Rio de Janeiro/Hamburg. Überfälle und Morde haben in Brasilien wieder zugenommen und die politische Lage hat sich zudem dramatisch verschärft.
Als der Architekt, der die Baufortschritte im Olympiapark Barra da Tijuca an der Peripherie Rio de Janeiros einer deutschen Touristengruppe erklären sollte, 20 Minuten nach dem verabredeten Zeitpunkt noch nicht erschienen war, rief der Reiseführer ihn besorgt an. „Was, Sie sind schon da?“, reagierte der Architekt erstaunt, „dann sind Sie ja sehr gut durch den Verkehr gekommen. Wo stehen Sie mit Ihrem Bus: in der Sonne oder im Schatten?“ „In der Sonne“, antwortete der Reiseführer. „Dann fahren Sie doch in den Schatten, da ist es jetzt etwas angenehmer. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.“
Nicht alle Probleme sind in Rio de Janeiro, im August (5.–21.) und September (7.–18.) Gastgeber der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele, derart leicht zu lösen. Rund vier Monate vor der Eröffnungsfeier am 5. August sind bei Weitem nicht alle Sportanlagen fertig, einige Straßen, Busspuren und Tunnel werden wohl erst nach den Spielen ihrer mutmaßlich verkehrsbeschleunigenden Bestimmung übergeben. In der Guanabara-Bucht, in die ein Großteil der Abwässer Rios fließt, stinken Müll und menschliche Ausscheidungen. „Hier können Sie schwimmen“, scherzen die Anwohner, „aber nur einmal.“ Größere Sorgen bereitet dem Organisationskomitee (OK) dennoch die Sicherheit.
Überfälle und Morde haben seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien wieder zugenommen, die politische und wirtschaftliche Lage hat sich zudem dramatisch verschärft. Das 204-Millionen-Volk ächzt unter der größten Krise seit drei Jahrzehnten. Der Außenwert der Währung Real sinkt, Arbeitslosigkeit und Inflation steigen. Die Geldentwertung betrug zuletzt fast zehn Prozent. Die Weltmarktpreise für Öl und andere Rohstoffe, die Brasilien exportiert, sind zuletzt stark gefallen. Seitdem versuchen Stadt und Land, die Olympiakosten von bisher rund 7,4 Milliarden Euro zu reduzieren. „Wir planen mit einfachen, funktionellen Bauten, wir wollen keine Architekten-Show, keine Denkmäler der Verschwendung. Das sollen brasilianische Spiele werden“, sagt Mário Andrada, der Kommunikationschef des OK.
Die Sparmaßnahmen sind alternativlos, das Internationale Olympische Komitee hilft dabei. Die Brasilianer stöhnen unter Rezession, Korruption, der Spaltung zwischen Arm und Reich, dem Kampf der konservativen Kräfte gegen die Arbeiterbewegung. Der linken Präsidentin Dilma Rousseff droht ein Amtsenthebungsverfahren, ihr Förderer Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident von 2003 bis 2010, soll wegen Bestechung angeklagt werden.
„Brasilien zwischen Fußball-WM und Olympischen Spielen“ – das ist der Titel einer Diskussionsveranstaltung der Universität Hamburg am Donnerstagabend. „Die Hoffnungen vieler Brasilianer auf mehr Wohlstand und Sicherheit durch diese beiden Großveranstaltungen haben sich bisher nicht erfüllt“, sagt Initiator und Referent Dennis Pauschinger, Doktorand am Institut für kriminologische Sozialforschung. Die Mieten seien in Rio nach der WM deutlich gestiegen, vielerorts haben Gentrifizierungsprozesse eingesetzt, Favelas wurden abgerissen, die Bewohner zwangsumgesiedelt.
Die anfänglichen Erfolge der Unidade de Polícia Pacificadora (friedensbringende Polizeieinheit) bei der Bekämpfung des Drogenhandels und bei der Vermittlung bewaffneter Konflikte sind rückläufig, Schießereien zwischen Polizei und Banden wieder an der Tages- und Nachtordnung. „Bei der Sicherheit wird viel Geld für Material ausgegeben, zusätzliche Mittel fürs Personal wurden gestrichen“, sagt Pauschinger. Um der Lage im Sommer Herr zu werden, trainieren jetzt Polizei und Militär mit US-Spezialeinheiten ihren Einsatz am Zuckerhut.
Als Brasilien 2007 den Zuschlag für die Fußball-WM 2014 und zwei Jahre später als erster südamerikanischer Staat für Olympia 2016 erhielt, genoss das Land seine besten Zeiten. Die Wirtschaft, die siebtgrößte der Welt, brummte, das (Schwellen-)Land konnte seine Auslandsschulden weitgehend abtragen, Präsident Lula da Silva holte mit seinen Sozialprogrammen rund 20 Millionen Brasilianer aus der Armut.
Mit der Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen sollte der nächste Entwicklungsschritt zur internationalen Anerkennung gegangen werden. Davon kann heute nach zahlreichen nationalen Skandalen und den Folgen der globalen Finanzkrise keine Rede mehr sein. „Die Begeisterung ist verflogen“, weiß Brasilien-Experte Pauschinger, „während für Stadionbauten und zweifelhafte Infrastrukturprojekte hohe Summen ausgegeben wurden, hat sich in Bereichen wie öffentlicher Nahverkehr und innere Sicherheit weit weniger getan als erhofft. Von den Spielen profitiert hauptsächlich der politisch-industrielle Komplex des Landes, nicht die Mehrzahl der Bevölkerung.“
Die Hamburgerin Laura Ludwig, mit ihrer Partnerin Kira Walkenhorst (beide HSV) Beachvolleyball-Europameisterin, freut sich trotzdem auf die Spiele in Rio. Die Stadt gehört weiter zu den Lieblingsorten der Weitgereisten, sechsmal war sie schon da, zuletzt vor drei Wochen beim Grand-Slam-Turnier an der Copacabana. „Man hört viele Schaudergeschichten, aber wenn man weiß, wie man sich verhalten soll, auf den Rat der Brasilianer hört, sollte einem nichts passieren. Auch in anderen Städten gibt es Orte, die man besser meiden sollte.“ Bei ihrem jüngsten Aufenthalt hat sie allerdings miterlebt, wie einer Amerikanerin eine Goldkette vom Hals gerissen wurde. Und sie hat des Öfteren beobachten müssen, wie die Stadtpolizei bei Überfällen wegschaute, nichts unternahm.
Persönlich fürchtet sie mehr den Verkehrsinfarkt während der Spiele. „Als wir vom Stadtteil Ipanema zum Olympiapark wollten, das sind nur wenige Kilometer, haben wir mit dem Auto rund zwei Stunden gebraucht. Wenn wir uns für Rio qualifizieren, wovon ich ausgehe, müssen wir unsere Logistik überdenken. Wahrscheinlich werden wir ein Hotel direkt am Beachvolleyballstadion an der Copacabana buchen. Sonst droht die Anreise anstrengender als die Spiele zu werden.“
Institut für kriminologische Sozialforschung/Zentrum für Mission und Ökumene der Nordkirche: Brasilien zwischen WM und Olympischen Spielen: heute, 18 Uhr, Uni Hamburg, Hörsaal ESA West, Raum 221, Edmund-Siemers-Allee 1. Eintritt frei.