Frankfurt/Berlin. Über den HSV in die Weltklasse: Jérôme Boateng hat sich kontinuierlich zu einem der besten Innenverteidiger entwickelt.
Viel kann ihn ja nicht mehr verblüffen. Jérôme Boateng, 27, hat schließlich fast alles erlebt, was man als Fußballer erleben kann: dramatische Niederlagen, epische Triumphe wie das Triple mit Bayern München und natürlich den WM-Titel in Brasilien. Was ihn noch überraschen kann? Wohl am ehesten er selbst. So wie am vergangenen Sonntag, als ihm mit zwei ansatzlosen Präzisionspässen über das halbe Feld zwei Torvorlagen in einem Spiel gelangen – das war selbst für Boateng ein Novum. Für Thomas Müller, den ewigen Scherzkeks, ein Grund, seinen Teamkollegen als „Kaiser“ zu titulieren. Franz Beckenbauer lässt grüßen.
„Das ist nur ein kleiner Spaß gewesen“, sagte Boateng am Dienstag. Doch auch er weiß: Hinter jedem Spaß steckt ein wenig Ernst. Dass der seriöse Anteil in Boatengs Fall nicht zu verachten ist, zeigte sich auf der Pressekonferenz der Nationalmannschaft. Ob er der beste Innenverteidiger der Welt sei, wollte ein Fragesteller wissen. „Das sollen andere beurteilen“, antwortete der gebürtige Berliner in seinem monoton-phlegmatischen Boateng-Sprech.
Beiersdorfer holte den 18-Jährigen von Hertha
Als deutlich begeisterungsfähiger erwies sich in den vergangenen Tagen die hiesige Fußballprominenz. „In den letzten zwei Jahren spielt er auf absolutem Weltklasseniveau“, adelte der „echte“ Kaiser, und selbst Matthias Sammer konnte sich eine Lobeshymne nicht verkneifen. „So was habe ich im Passspiel und von der Präsenz her lange nicht mehr gesehen“, schwärmte Bayerns stets kritischer Sportvorstand.
Bei Boateng scheint die Weiterentwicklung seit seinen ersten Ballkontakten in Berlin kein Ende zu nehmen. Seit er acht, neun Jahre alt war, kickte er regelmäßig mit seinen Halbbrüdern Kevin-Prince und George. In einem Fußballkäfig im Wedding schulten die Brüder ihre Technik und vor allem ihre Nehmerqualitäten. „Der Käfig“, hat Jérôme Boateng einmal gesagt, „ist der Anfang von allem.“
Gemeinsam laufen er und Kevin-Prince später für Hertha BSC auf, erst in der Jugend, dann als Profis. Sportchef Dietmar Beiersdorfer holte Jérôme 2007 für 1,1 Millionen Euro nach nur zehn Bundesligaspielen als 18-Jährigen zum HSV. „Er hat schon immer über alle Grundeigenschaften eines exzellenten Innenverteidigers verfügt“, sagt der heutige HSV-Vorstandschef: „Er war immer lernwillig und hat sich mit hoher Professionalität weiterentwickelt.“ In Hamburg spielte er sich in die Nationalmannschaft und den WM-Kader 2010. Dass Manchester City dem HSV in jenem Sommer 12,5 Millionen für Boateng überwies, festigte Beiersdorfers Ruf als „Dukaten-Didi“.
Diese Spieler brachten dem HSV das meiste Geld
Labbadia erkannte Boatengs Anlagen früh
Nach nur einem Jahr verlässt er die Insel wieder und geht zu den Bayern. Kopfballstark und schnell ist der 1,92-Meter-Mann schon immer, doch was noch fehlt, ist die Konstanz. Mal mangelt es an der Konzentration, mal langt er im Zweikampf zu unbedarft zu. Inzwischen aber ist er die Entschlossenheit in Person, ruhig und souverän.
„Seine Anlagen waren früh zu erkennen. Es war aber nicht immer einfach für einen so jungen Spieler, so früh Verantwortung zu übernehmen“, erinnert sich Trainer Bruno Labbadia, der Boateng 2010 beim HSV coachte. „Bei Bayern konnte er sich an der Seite von Dante gut entwickeln. Ich freue mich für ihn, er hat einen tollen Weg gemacht, auch wenn es schöner wäre, wenn er noch hier wäre.“
Boateng selbst nennt die Trainer Jupp Heynckes, Pep Guardiola und Joachim Löw als prägend – taktisch wie in der Persönlichkeitsentwicklung. Und „meine Familie, die immer ehrlich zu mir ist und mich auch mal kritisiert“. Der Mensch Boateng ist nach wie vor zurückhaltend. Die Marke Boateng strebt nach Höherem. Seit diesem Sommer lässt sich der mode- und musikaffine Profi weltweit von Rap-Mogul Jay Z vermarkten. Boateng beweist Weitblick, nicht nur bei seinen Pässen aus der Tiefe. Dazu zählt auch, sich nicht auf dem Erreichten auszuruhen.
Am Donnerstag (20.45 Uhr/RTL) trifft die DFB-Elf in Dublin auf Irland. Ein Punkt, dann ist die Teilnahme an der Europameisterschaft sicher. Die Voraussetzung dafür, dass sich Boateng im Sommer 2016 ein weiteres Mal über etwas Neues freuen darf, wäre damit erfüllt: Der EM-Titel fehlt ihm noch.