Der Hamburger Friedrich Adolph Traun war 1896 in Athen beim Mittelstreckenlauf ausgeschieden - dann gewann er im Tennis.
Vor 18 Jahren ging beim britischen Olympiakomitee in London ein mysteriöses Paket ein. Es war kein Absender vermerkt und auch kein konkreter Adressat. Als es die Verbandsfunktionäre öffneten, flatterten ihnen 137 handgeschriebene Tagebuchseiten entgegen, verfasst von John Pius Boland, dem zweifachen Olympiasieger der ersten neuzeitlichen Spiele. Der, so vermerkte es der unbekannte Versender, habe ihm das Werk einst ausgeliehen, und er selbst habe schlicht vergessen, es wieder zurückzugeben. Die bis dahin unbekannten Aufzeichnungen eröffneten der Nachwelt verblüffende Einblicke in den Lebenswandel des aus Irland stammenden Boland. Und sie klärten endlich auf, wie es 1896 wirklich zum ersten Hamburger Olympiasieg gekommen war.
Bolands Vorbereitung auf das Tennisturnier in Athen beschränkte sich demnach im Wesentlichen darauf, dass er in Bonn, wo er seit Oktober 1895 Jura studierte, an drei Fußballspielen gegen Schulmannschaften teilnahm, nebst einer Partie Golf in Wiesbaden. Mitte März 1896 machte sich der aus Dublin stammende junge Mann zusammen mit einem deutschen Studienfreund auf den weiten Weg nach Athen, nicht ohne zuvor noch ausgiebig den Freuden des rheinischen Karnevals zu frönen.
Warum auch nicht? Boland, damals 25 Jahre alt, wollte den Spielen ja nur als Tourist beiwohnen. Erst als er am Abend des 6. April, dem Eröffnungstag der Spiele, beim Abendessen einen einheimischen Tennisspieler über die geringe Teilnehmerzahl des olympischen Turniers klagen hörte, änderte Boland seine Pläne. Am nächsten Morgen meldete er sich als Spieler an, gerade noch rechtzeitig zur Auslosung. Den 8. April verbrachte Boland damit, sich eine Ausrüstung zu besorgen.
Der Legende nach soll er beim Einkaufsbummel dem jungen Hamburger Friedrich Adolph Traun begegnet sein und ihn überredet haben, sein Doppelpartner zu werden. Doch davon findet sich in den Aufzeichnungen nichts. Tatsächlich war auch Traun nicht zum Tennisspielen nach Athen gekommen. Der Sohn des Industriellen Heinrich Traun hatte sich als einer der damals besten deutschen Mittelstreckler über 100 und 800 Meter gemeldet. Erst nachdem er jeweils bereits im Vorlauf ausgeschieden war, entsann sich der damals 20-Jährige seiner Vielseitigkeit und schrieb sich fürs Tennisturnier ein.
Er verlor zwar auch hier im Einzel bereits zum Auftakt - gegen Boland. Der Zufall wollte es aber, dass ihm der spätere Sieger als Doppelpartner zugeteilt worden war. Ganze zwei Siege reichten dem deutsch-britischen Verlegenheitsduo, um sich zu den ersten Tennis-Olympiasiegern der Geschichte zu küren. Der Lohn: ein Lorbeerzweig, eine silberne Plakette, eine Urkunde.
+++ Olympia vor dem Start: Wer holt Deutschlands erstes Gold? +++
Am heutigen Freitag werden in London die Spiele der XXX. Olympiade der Neuzeit mit einer 34 Millionen Euro teuren Show eröffnet (22 Uhr MESZ/ZDF). Rund zwei Dutzend Hamburger Sportler werden in den kommenden 16 Tagen versuchen, es Traun nachzutun. Sie alle haben ihr Leben in den vergangenen Monaten, wenn nicht Jahren diesem Ziel verschrieben. Sie haben ihr Studium ruhen, sich von der Arbeit befreien lassen oder, wie mehr als die Hälfte des deutschen Olympiateams, eine Anstellung bei Bundeswehr oder Bundespolizei, die ihnen alle Freiheiten für den Sport lässt. Ein Stab aus Trainern und Ärzten, Physiotherapeuten und Psychologen, Technikern und Offiziellen, Leistungsdiagnostikern und Laufbahnberatern hat sie dabei unterstützt. Diese Athleten befolgen detaillierte Trainings- und Ernährungspläne, sie müssen regelmäßig Medientermine und Sponsorenverpflichtungen wahrnehmen. Kurzum: Für den Zufall ist in ihrem Alltag kein Platz.
Vielleicht wirken die skurrilen Geschichten von den Olympioniken der ersten Generation genau deshalb heute so erfrischend. Niemand sollte diesen Athleten den Siegeswillen absprechen, aber in erster Linie nahmen sie doch eine olympische Idee vorweg, die vor 104 Jahren von einem Londoner Bischof erstmals in Worte gekleidet wurde: Dabei sein ist alles.
Der Ruhm der olympischen Pioniere blieb bescheiden. Der Hamburger Wasserspringer Albert Zürner gewann 1908 Gold vom Dreimeterbrett. Seinen Start in London musste er trotzdem weitgehend selbst finanzieren, wie damals alle deutschen Athleten. Deren Lebensführung hat mit der heutiger Leistungssportler nur noch wenig gemein. Der Trainingsaufwand beschränkte sich auf ein bis zwei Einheiten pro Woche. "Nur einige wenige Athleten haben zu dieser Zeit häufiger trainiert", sagt der renommierte Olympia-Historiker Karl Lennartz. Multitalente wie Traun seien durchaus keine Ausnahme gewesen. Der Hamburger Abenteurer machte sich nach der Jahrhundertwende auch als Bobfahrer einen Namen. Und 1906 gehörte er zu den Gründern des feinen Hamburger Golf-Clubs.
Wer über das nötige Bewegungstalent verfügte, konnte es vergleichsweise schnell nach ganz oben schaffen - auch noch, als der olympische Sport bereits seine ersten Stars hervorgebracht hatte. So hatte Karl Hein vom SV St. Georg die Leichtathletik vor Jahren aufgegeben, als er sich Anfang 1934 noch einmal dem Hammerwurf zuwandte.
Inspiriert hatte ihn ein Film über die Olympischen Spiele 1932 in Los Angeles. Nur zwei Jahre nach seinen ersten Trainingsversuchen wurde Hein in Berlin selbst Olympiasieger.
Die Professionalisierung des Sports setzte erst mit dem Kalten Krieg ein. Der Wettlauf der Machtblöcke fand nun immer häufiger auf den olympischen Schauplätzen seinen Ausdruck. Hamburg, obschon Heimat vieler mitgliederstarker Vereine, konnte in einigen Sportarten das Tempo nicht mehr mitgehen. Das Leistungsspektrum verengte sich zusehends auf die angelsächsisch geprägten Disziplinen wie Rudern, Hockey, Tennis, Reiten oder Golf, die im großbürgerlichen Milieu der Stadt traditionell verwurzelt waren. Zweimal nur noch stellte die Stadt in der Nachkriegsära einen Olympiasieger in einer Einzeldisziplin: Dieter Kottysch, der 1972 in München das olympische Boxturnier im Halbmittelgewicht gewann. Und Rolf Danneberg, 1984 in Los Angeles Sieger im Diskuswerfen.
Danneberg, 59, ist seiner Geburtsstadt bis heute treu geblieben, auch wenn die Beziehung in seinen aktiven Zeiten nie ganz harmonisch war. Anders als an anderen deutschen Standorten fand Danneberg im Winter keine geeignete Trainingsstätte vor. Selbst die Sporthalle Hamburg mit ihrem viel zu weichen Linoleumboden stand ihm manchmal wochenlang nicht zur Verfügung. Für lange Trainingslager aber war kein Geld da. Danneberg musste mit 800 Mark monatlich über die Runden kommen.
Der Leistungssport habe damals in Hamburg nicht sehr viele Fürsprecher gehabt, sagt er heute. Erst die Olympiabewerbung für 2012 habe die Dinge wieder in Bewegung gebracht: "Da fiel Hamburg plötzlich ein, dass man etwas tun muss."
Die Kampagne ist 2003 frühzeitig gescheitert. Einige der angestoßenen Projekte und Ideen aber wurden weiterverfolgt. Hochmoderne Sportanlagen entstanden: eine Leichtathletik-Trainingshalle in Winterhude, wie sie sich Danneberg nur erträumen konnte. Dazu Sportstätten für Badminton, Volleyball, Handball, Basketball und Beachvolleyball in Dulsberg. Der dortige Olympiastützpunkt wurde ausgebaut, die Ruderregattastrecke in Allermöhe auf den neuesten Stand gebracht. Es gibt Nachwuchsförderprogramme für zahlreiche Sportarten und am Alten Teichweg eine Eliteschule des Sports. Und es gibt ein Olympiateam, das aus Mitteln einer Stiftung finanziert wird und den Besten dieser Stadt zumindest ein Grundeinkommen sichert.
"Viele Dinge sind auf den Weg gebracht worden", sagt der frühere Sportamtsleiter Hans-Jürgen Schulke, der inzwischen als Professor Sport- und Eventmanagement an der Macromedia-Hochschule lehrt, "aber einige Bausteine fehlen noch." Schulke, 66, plädiert für ein Steuerungsgremium, das er "Kompetenzzentrum der Sportentwicklung" nennt. Dessen Aufgabe wäre es, im Zusammenwirken mit Verbänden und Vereinen, Schulen und Universitäten, Wirtschaft und Wissenschaft Karrierewege aufzuzeigen, damit sich die Athleten langfristig an die Stadt binden: "Spitzensportler fühlen sich dorthin gezogen, wo sie wirtschaftlich abgesichert sind und sich eine berufliche Zukunft aufbauen können."
Viel scheint gar nicht zu fehlen, damit der Spitzensport in Hamburg bald wieder eine dauerhafte Heimat findet. Einige der Athleten, die in London starten, wurden sogar nach Hamburg angeworben: die Schwimmer Markus und Steffen Deibler, der Weitsprung-Europameister Sebastian Bayer. Sie können in London nun ihre Geschichte schreiben.