Vor neun Jahren war Hamburg “Feuer und Flamme“ für Olympia – doch die Bewerbung scheiterte. Das Abendblatt zeigt, wie es jetzt hätte sein können.
Hamburg. Dieses Olympia ist wirklich ein Traum. Wie es diese Fröhlichkeit und Gelassenheit in die Gesichter der Menschen zaubert; wie sie nicht müde werden, die Arme auszubreiten, gerade so, wie man einen Besuch empfängt, auf den man sich schon so lange freute. Mehr als eine halbe Million Gäste aus Deutschland und der Welt haben sich für die nächsten drei Wochen in Hamburg angesagt. Die Hotels der gesamten Metropolregion sind ausgebucht, und auch auf den 20 Kreuzfahrtschiffen im Hafen, die eigens für Olympia in den vergangenen Tagen die Elbe flussaufwärts gefahren sind, ist keine Kabine mehr frei.
Und wie diese Spiele das Bild der Stadt verändern, ja verschönern, bunter machen; allein das Millerntor, diese traditionsreiche Kultstätte des FC St. Pauli. Das Grün im Zentrum der Arena ist verschwunden. Der neue Kunstrasen leuchtet im hellen Blau, die Umrandung in einem frechen Pink. Selbst dem alten Betonbunker, der von der Haupttribüne aus links über das Stadion ragt, haben sie eine Art riesigen Zylinder aufgesetzt, in Schwarz, Rot, Gold - natürlich. Durch den breiten Sockel unter dem Hut sieht es aus, als wenn das alte Betonmonster mit einem Lächeln auf das farbenfreudige Treiben im Stadion herabschaue.
„Papa, wo holen wir eine Goldmedaille“, hatte mich mein sechsjähriger Sohn schon vor Wochen gefragt. „Na ja, vielleicht beim Hockey, da gewinnen wir doch immer“, habe ich ihm geantwortet. Es muss für ihn wie ein Versprechen geklungen haben. „Dann will ich da hin!“, hatte er entschieden und keinen Widerspruch geduldet. Jetzt leiden und bangen wir in Reihe 18 auf der Haupttribüne des St.-Pauli-Stadions. Im finalen Kampf um Gold steht es 2:2 zwischen Deutschland, dem Olympiasieger von 2008 in Peking, und Australien, dem amtierenden Weltmeister. Seit mehr als einer halben Stunde schon.
Die Sonne brennt, und die Zeit rennt den unseren davon, ihre Kräfte scheinen zu schwinden. 30.000 Besucher schwitzen mit uns, die Buntbemalten unter den Fans haben längst ihre Oberkörper entblößt. Nur noch Minuten sind zu spielen, die Australier werden stärker und stärker. Wieder leiten sie einen ihrer gefährlichen Angriffe über die rechte Seite ein. Ich spüre, wie sich die kleinen Finger meines Sohnes in meiner Hand verkrampfen. Plötzlich wirft sich Moritz Fürste, der Hamburger, der Kapitän der Nationalmannschaft, im Mittelfeld dazwischen, erobert die Kugel. Blitzschnell dreht er sich, schlenzt einen Steilpass nach vorn. Oliver Korn, auch er ein Hamburger, hat die Aktion aus den Augenwinkeln beobachtet und sich sofort freigelaufen. Im Schusskreis hält er seinen Schläger in den Lauf des kleinen weißen Runds. Die Kugel spritzt hoch: „Tooor! Tooor! Tooor!“ Deutschland führt 3:2.
Mitten in dem Geschrei, dem Toben und dem wallenden Fahnenmeer schaue ich zu meinem Sohn. Er ist ganz still, er wirkt überwältigt von dem Jubel, der sich vor ihm und unten auf dem Feld abspielt, wo junge Männer übereinander liegen und in ihrer Freude nicht mehr voneinander lassen wollen. In den kleinen Rinnsalen unter seinen Augen vermischen sich die Farben Schwarz-Rot-Gold, mit denen die Mutter ihm am Morgen die Deutschlandfahne ins Gesicht malen musste. Für einen Augenblick eilen meine Gedanken voraus. Und ich weiß, auch wenn mir eines Tages mein Sohn mit der eigenen Tochter oder dem eigenen Sohn im Arm entgegenkommt, ich werde ihn dann wieder als Sechsjährigen bei Olympia in Hamburg sehen - mit diesem Staunen und diesem Glück in den Augen. Und er wird diese Erinnerung mit in sein Leben nehmen. Er wird einst seinen Kindern und auch noch seinen Enkel von dem Tag erzählen: „Das war der Tag, an dem ich mit meinem Vater dabei war, als Deutschlands Hockeyspieler in Hamburg Olympiasieger wurden.“
Es gibt aber auch die andere Seite dieses Traums, dieser heiteren Spiele, der ersten in Deutschland seit jenen in München 1972, die immer mit dem Überfall eines palästinensischen Kommandos auf die israelische Olympiamannschaft verbunden bleiben werden. Auf den Dächern von Hotels und Hochhäusern liegen Scharfschützen, auf den höchsten Gebäuden der Stadt sind Flugabwehrraketen installiert. Die Proteste der Anwohner, die fürchten, jetzt bessere Zielscheibe abzugeben, sind vom Oberlandesgericht nach zweitägiger Beratung zurückgewiesen worden. Die Maßnahmen seien angemessen, entscheiden die Richter den Eilantrag. Auf der Elbe patrouillieren zwei Schiffe der Bundesmarine, die Geheimdienste der G20-Staaten haben ihre Terrorspezialisten nach Hamburg geschickt. Mitarbeiter des amerikanischen CIA, des britischen MI5 und des russischen FSB haben schon vor Monaten in aller Stille Quartier in der Nähe des Rathauses bezogen. Die Piraten-Partei fordert, ihre Profile im Internet zu veröffentlichen.
Innensenator Michael Neumann lässt in einer Erklärung über Facebook die Bevölkerung wissen, „alles sei unter Kontrolle, niemand müsse Angst haben“. Hamburg sei momentan der sicherste Platz auf der Welt. „Auf einem Familienfest sind Sie weit größeren Gefahren ausgesetzt“, sagt Neumann im Exklusiv-Interview mit dem Abendblatt. Der Sicherheitsschirm hat seinen Preis. Mehr als eine Milliarde Euro geben Bund und Stadt für den Schutz Olympias aus. Der Bund der Steuerzahler protestiert. An den Börsen explodieren die Kurse für Security-Firmen. Der Euro bleibt stabil. Die Preise klettern schneller, höher, stärker. Bier und Bratwurst kosten das Doppelte. Auf St. Pauli kommen die Liebesdienerinnen trotz aufgestockten Personals der gestiegenen Nachfrage nicht mehr nach. Das Abendblatt erscheint zweimal täglich, eine Ausgabe wird in englischer Sprache gedruckt. US-Präsident Barack Obama, überwältigt von der multikulturellen Eröffnungsfeier, mailt an Bürgermeister Olaf Scholz: „Yes, you can!“ „That‘s right!“, das stimmt, antwortet Scholz in gewohnter Präzision.
Eine kleine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Ein Schatten fällt auf das St.-Pauli-Stadion. Von Reihe 18 aus, in der ich in diesem Augenblick ganz allein sitze, kann ich zusehen, wie Arbeiter gegenüber die ersten Betonpfeiler für die neue Gegentribüne setzen. Das Millerntorstadion ist in diesen Tagen Ende Juli, wenn die Sommerspiele der 30. Olympiade beginnen sollten, immer noch nicht fertig. Olympia in Hamburg – das ist ein Traum geblieben.
Vor neun Jahren haben viele Menschen in dieser Stadt ganz fest an ihn geglaubt. Die nationale Bewerbungskampagne lief auf Hochtouren. 90 Prozent der Hamburger waren vom Konzept der CityOlympics im Hafen und der Innenstadt begeistert, hatten Umfragen ergeben. 50.000 sollten am Nachmittag des 12. April 2003 die Entscheidung auf dem Rathausmarkt live auf einer Videowand verfolgen. Von riesigen Plakaten leuchteten in jenen Tagen Versprechungen wie diese: „Hier werden 2012 die Olympischen Spiele im Schwimmen entschieden.“ Oder „Hier läuft Ihnen 2012 der schnellste Mann der Welt entgegen.“
Daraus und aus vielem anderen ist nichts geworden. Die Mehrheit des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) schien zu glauben, mit Leipzig bessere Chancen auf den internationalen Zuschlag zu haben. Die Sachsen aber überstanden ein Jahr später nicht einmal den Faktencheck des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), eine Art Vorauswahl. 2005 erhielt London die Spiele, wo sie nun vom 27. Juli bis 12. August stattfinden werden. Das Urteil des IOC war eine Ohrfeige für das NOK. Städte wie Leipzig mit nur 500.000 Einwohnern seien einfach zu klein für die Austragung von Sommerspielen, hieß es. Diese Einschätzung war den mehr als 100 Delegierten vor der Abstimmung im Münchner Hilton-Hotel allerdings bekannt. Führende NOK-Funktionäre hatten sie noch am Vorabend zu verbreiten versucht. Doch Hamburg, das Tor zur Welt, die Stadt mit dem anerkannt besten Olympiaplan, sollte es offenbar nicht werden.
Ole von Beust, 57, war damals Hamburgs Bürgermeister. Heute arbeitet der CDU-Politiker wieder als Rechtsanwalt. In seinem Büro an der Esplanade stapeln sich Akten, Schreiben und Faxe. „Ich kann über Arbeit nicht klagen“, sagt er. Er wirkt entspannter als an seinen letzten Tagen als Berufspolitiker, braun gebrannt, zufrieden und ausgeglichen. Beim Blick zurück auf die Bewerbungsphase, gesteht er, befalle ihn schon ein bisschen Wehmut. „Wir hatten von allen Seiten Lob für unser Konzept erhalten. Olympische Spiele direkt am Wasser und im Zentrum einer Stadt, mit kurzen Wegen zu fast allen Sportstätten, so etwas hatte es bislang nicht gegeben.“ Es sei dann auch eher der Kleinmut der Sportfunktionäre gewesen, die eine Umsetzung dieser Pläne verhindert hätten. „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass man im NOK nicht an die Chancen einer deutschen Olympiabewerbung beim IOC glaubte“, sagt von Beust. Und vielleicht deshalb hätten sich viele Fachverbände entschlossen, mit ihrem Votum für Leipzig lieber den Aufbau Ost zu fördern, als die Pfeffersäcke in Hamburg zu unterstützen, die über Jahrzehnte wenig bis nichts für den Spitzensport getan hatten. Entsprechende Signale sendete im Frühjahr 2003 die Bundesregierung. Und Kanzler Gerhard Schröder sollte sich nach dem Sieg Leipzigs damit brüsten, eine Flasche Rotwein gegen NOK-Präsident Klaus Steinbach („Das war eine rein politische Entscheidung“) gewonnen zu haben, weil er auf genau diesen Wahlausgang gewettet hatte. „Wir genossen sehr viel Respekt, hatten aber zu wenig Freunde“, beschreibt von Beust die damalige Stimmungslage.
Olympia, da ist er noch heute sicher, hätte viele Entwicklungen in Hamburg beschleunigt. „Die Elbphilharmonie wäre fertig, die U4 weiter ausgebaut, der Sprung über die Elbe geschafft.“ Die Hamburger, warnt der Alt-Bürgermeister, dürften nur jetzt nicht den Fehler begehen, in die Selbstzufriedenheit und Selbstverliebtheit der 1990er-Jahre zurückzufallen. „Wir müssen uns weiter ehrgeizige Ziele setzen, in der Wissenschaft, der Kultur und im Sport. Und wir müssen die Interessen des Gemeinwohls über die eigene Befindlichkeit stellen. Nur dann geht es mit der Stadt auch in Zukunft voran.“
Auf dem Kleinen Grasbrook im Freihafen, dort, wo für 2012 Schwimmhalle, Sporthalle, Olympiaboulevard und Olympiastadion vorgesehen waren, zäunt eine grün gestrichene Spundwand das Gelände des Überseezentrums des Hafen-Logistikers HHLA ein. Sie soll die Lagerhallen und Container vor möglichem Hochwasser schützen. Die Straße entlang der Norderelbe ist nach 500 Metern wegen Schäden im Asphalt gesperrt. Eine Schranke verhindert die Weiterfahrt. Zwei Frachtschiffe liegen in der Norderelbe auf Reede, gegenüber im Baakenhafen herrscht rege Betriebsamkeit. Bagger schaufeln Schutt auf Lastwagen, Raupen planieren den Untergrund, Kräne schütten in zwei an der Kaimauer liegende Schuten Sand und Steine. Auf dieser Baustelle war das olympische Dorf geplant, jetzt wird hier die Osterweiterung der HafenCity vorbereitet.
Professor Jörn Walter, 55, ist Hamburgs Oberbaudirektor. Auf der Rückwand seines Büros an der Stadthausbrücke klebt eine Luftbildaufnahme von Hamburg und seiner Umgebung. Walter geht auf die Karte zu, kreist mit seiner rechten Hand über den Hafen und die Innenstadt und sagt, nein er schwärmt: „Hier haben wir Olympia geplant, Spiele im Herzen Hamburgs und am Wasser, einmalig. Eine Stadt als Bühne des Sports, die meisten Wettkampfstätten in einem Radius von 15 Kilometer, viele im Spaziergang zu erreichen, das war‘s. Einfach perfekt. Keine andere Metropole auf der Welt könnte Ähnliches leisten.“ Es sei sein bestes Planungswerk gewesen, das er zudem in nur sechs Monaten um die Jahreswende 2001/2002 hatte realisieren müssen, sagt Walter. „Sie reißen alte Wunden auf. Die Chance auf ein solches Projekt, auf eine derartig umfassende Herausforderung bekommt man wahrscheinlich nur einmal im Leben.“
Er holt noch einmal Bild- und Kartenbände der Olympiabewerbung aus einem Schrank. Die Bücher haben Staub angesetzt, Walter wischt ihn vorsichtig, beinahe liebevoll mit dem Handrücken weg. Das sei alles zwar zehn Jahre her, „aber immer noch hochaktuell“, sagt er. Die meisten einst für Olympia vorgesehenen Flächen gehörten weiter der Stadt, nur der Baakenhafen sei inzwischen verkauft. Dort entstehen in den nächsten Jahren 3000 Wohnungen. „Sollte sich Hamburg in zehn oder 15 Jahren noch einmal um die Spiele bewerben, müssten wir das olympische Dorf nur nach Süden hin Richtung Moldauhafen verlagern. Am Grundkonzept wären in absehbarer Zeit höchstens Marginalien zu verändern. Das meiste passt doch immer noch.“
Auch die Schwierigkeiten eines gewaltig steigenden Verkehrsaufkommens während Olympias hätten elegant gelöst werden können. „Hamburg hat kein strukturelles Problem, eine halbe Million Besucher am Tag zu verkraften.“ Das ginge allerdings nur über den öffentlichen Nahverkehr, über Shuttles, nicht mit privaten Pkws. „Wir haben den großen Vorteil, dass alle S- und U-Bahn-Linien eigene Gleisbette und Röhren haben. Da reicht eine Taktverdichtung, um große Mengen Mensch von A nach B zu transportieren.“ Die S-Bahn sollte an den Elbbrücken zwischen Baakenhafen und Kleinem Grasbrook halten. Name der Station: Olympiastadion.
Walter ist jemand, der in Bildern denkt. Für ihn besteht Hamburg aus Perspektiven, zum Beispiel von der Alster zum Hafen, vom Süden auf die HafenCity, vom Hafen auf die Elbbrücken. Der Blick muss frei sein, keine hohen Gebäude sollen ihn verstellen. Die Schönheit der Stadt darf nicht hinter Mauern verschwinden. Mauern sind Grenzen, sagt Walter. Hamburg besteche durch seine Weite, seine Fernansichten, sein Panorama. „Hätten die Sportler in der Olympiaschwimmhalle am Westende des Kleinen Grasbrooks auf dem Sprungturm gestanden, hätten sie durch eine Glasfront in den Hafen, auf die Silhouette der Stadt schauen können. Die lag in ihrer ganzen Herrlichkeit vor ihnen. Die Athleten wären quasi in die Elbe gesprungen.“ Wir hatten viele solcher Themen, sagt Walter. Das wären alles Bilder gewesen, die um die Welt gegangen wären, die Eindruck hinterlassen hätten. Die Hamburg gedient hätten, noch bekannter zu werden.
Was also wäre, wenn Hamburg die Spiele doch bekommen hätte?
Die Innenstadt brummt. Die Geschäfte sind voll. Immer wieder sieht man Sportler in ihren farbenprächtigen Trainingsanzügen durch die Mönckebergstraße und über den Rathausmarkt schlendern, mit Namen und Emblemen ihrer Heimatländer. Kameras werden - vor allem von ausländischen Touristen - gezückt, Erinnerungsfotos mit Olympiasiegern geschossen, Autogramme geschrieben. Hamburg ist eine Stadt, die nicht mehr schläft. Viele Restaurants an Elbe und Alster haben rund um die Uhr geöffnet, in den Kinos laufen Nachtvorstellungen. Die Hamburger sind stolz auf sich und ihre Stadt, noch stolzer als ohnehin schon. In den vergangenen Jahren hat der Sport einen kräftigen Schub erhalten. Deutsche Olympiakandidaten haben sich Hamburger Vereinen angeschlossen, die Belegschaft am Olympiastützpunkt am Dulsbergbad wurde deutlich aufgestockt. Die Förderung des Sports ist in der Landesverfassung verankert, die Stiftung Leistungssport freut sich über Spenden von zehn Millionen Euro im Jahr. Der Hamburger Sportbund (HSB) registriert weiter steigende Mitgliederzahlen, Präsident Günter Ploß begrüßt kurz vor Eröffnung der Olympischen Spiele das einmillionste Mitglied im neuen Sportzentrum des Verbandes am U-Bahnhof Schlump. Vor allem immer mehr Kinder finden den Weg in die Klubs, die tägliche Sportstunde ist längst Pflicht an den Hamburger Schulen.
Ohne Olympia sieht heute vieles anders aus. Der HSB zählt 550.000 Mitglieder, was durchaus stattlich ist, der Sportpark Dulsberg wächst, harrt aber seinem längst beschlossenen Endausbau. Am Olympiastützpunkt fehlen weiter qualifizierte Mitarbeiter, Spitzensportler, zumindest die Besten unter ihnen, machen noch immer eher einen Bogen um die Stadt. Die Stiftung Leistungssport kämpft um jeden Cent, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Die dritte Sportstunde steht zwar auf dem Stundenplan, ihre Umsetzung fällt indes vielen Schulen schwer. Gesellschaftlich vermisst der Sport weiter jene Anerkennung, die er glaubt aufgrund seiner sozialen und integrativen Leistungen zu verdienen. Die Sanierung öffentlicher Sporthallen und –plätze, das ist immerhin der größte Fortschritt, wird seit Kurzem konsequent angepackt. Das ist der Status der Sportstadt Hamburg im Jahre 2012. Es gibt ein Fundament, zweifellos, manches stockt, doch vieles ist im Fluss. Das lässt hoffen – auch ohne Olympia.
Reinhard Wolf ist Syndikus der Handelskammer Hamburg. Der 60-jährige ist zuständig für Strukturpolitik. An der Stirnseite seines Büros am Adolphsplatz hängt in Augenhöhe ein Bild mit der Anmutung des Hamburger Olympiageländes. Wenn er den Raum verlässt, fällt sein Blick stets auf das Olympiastadion. Er will es so. Wolf, der Marathonläufer, ist immer noch Feuer und Flamme für die Spiele. Und er wird den Kampf um sie nicht aufgeben. „Wie wären wir alle stolz, wenn jetzt die Welt bei uns zu Gast wäre“, sagt Wolf. Seine Hände scheinen bei diesen Worten nach den fünf Ringen greifen zu wollen. Was die Ausrichtung Olympias für Hamburg bedeutet hätte, das könne man in Städten wie München, Barcelona oder Sydney beobachten. „Die sind alle durch die Spiele in eine ganz andere Liga bei der weltweiten Wahrnehmung aufgestiegen.“
Olympische Spiele hätten Hamburg aus vielen Gründen gut getan. Gerade Städte aus der zweiten Reihe profitierten vom größten Sportfest der Welt, Hauptstädte wie London, Paris oder Berlin oder Metropolen wie New York weit weniger. Höhere Tourismuszahlen sind letztlich die wichtigste Münze, die auf das Milliarden-Investment Olympia einzahlt. Die Bekanntheit Londons oder New York ließe sich kaum steigern, die Hamburgs schon. 9,5 Millionen Gäste besuchten die Stadt im vergangenen Jahr, in Berlin waren es 2011 rund 14 Millionen. Hinzu kommt: Nur 20 Prozent der Besucher Hamburgs sind internationale Touristen, in anderen deutschen Städten liegt die Quote um die 30 Prozent. Ausländer aber, das haben Untersuchungen ergeben, verweilen länger an einem Ort und lassen mehr Geld liegen. Wolf: „Mit Olympia wäre Hamburg heute nicht nur ein Punkt auf der Weltkarte, sondern ein dicker Klecks.“
Was Olympia gebracht hätte, da sollte auch niemand die Softskills unterschätzen, mahnt Wolf. Die Identifikation der Hamburger mit ihrer Stadt wäre noch einmal merklich gestiegen, die gesellschaftliche Bedeutung des Sports über den HSV und St. Pauli hinaus breiter verankert worden. Hamburg, glaubt der Interessenvertreter der Wirtschaft, hätte mit Olympia einen Quantensprung in seiner Entwicklung gemacht, besonders in der öffentlichen Infrastruktur. „Wir ständen jetzt dort, wo wir nun vielleicht erst in zehn oder 20 Jahren stehen werden. Wir hätten wahrscheinlich eine Stadtbahn, die U4 führte bis auf die Elbinsel, Wilhelmsburg wäre an die Innenstadt angebunden und die Hafenquerspange gebaut.“ Hamburg wäre noch lebenswerter und damit noch attraktiver für die Ansiedlung von Unternehmen. „Das Wichtigste aber wäre gewesen, dass wieder eine Es-geht-Mentalität in der Stadt geherrscht hätte, dass wir uns wieder etwas zugetraut hätten.“ Heute, ohne Olympia, seien oft eine gewisse Verzagtheit zu spüren, auch Skepsis und Zukunftsängste. „Deshalb“, sagt Wolf, „brauchen wir neue Visionen.“ Olympische Spiele wären so eine.
Bürgermeister Olaf Scholz, 54, schließt dann auch eine erneute Kandidatur nicht aus. „Wir haben eine Dekadenstrategie entwickelt, um Hamburg beim Sport langfristig eine Perspektive zu geben. Eine dieser Perspektiven könnte später eine Bewerbung um die Ausrichtung Olympischer Spiel sein. Ich bin sicher: Hamburg ist eine Stadt, die sich einmal einen neuen Anlauf zutrauen kann.“ Der Nutzen Olympias bleibt für den SPD-Politiker unbestritten: „Hamburg ist eine weltoffene, am Neuen interessierte Stadt. So hätte sie sich auch den Olympioniken präsentiert. Hamburg wäre in der Welt noch bekannter geworden und hätte verstärkt Leute angelockt, die hier leben und arbeiten wollen. Die hätten der Stadt durch ihre Ideen und ihre Kreativität sicher weitere Impulse und Schwung gegeben. Und Hamburg hätte durch die Olympischen Spiele seinen bestehenden guten Ruf als Sportstadt gefestigt.“
Besonders gefreut, sagt der Bürgermeister, hätte er sich auf die Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen. „Es ist immer interessant, andere Sichtweisen zu erfahren und Geschichten zu hören, die unseren Horizont erweitern. Solche Erlebnisse am Rande großer Veranstaltungen sind oft der größte Gewinn.“ Dass fehlende Begeisterung der Hamburger eine erneute Olympiabewerbung ausschließt, glaubt Scholz nicht. „Ich bin Optimist. Begeisterung ist ansteckend. Und wenn man offensiv und ehrlich für sein Anliegen wirbt, kann man auch Leute überzeugen, die skeptisch sind.“ Allein schon die Bewerbung habe ihren Wert. Sie könne Bewegung dort bringen, wo vorher jahrelang Stillstand herrschte. Die Leichtathletik-Trainingshalle in Winterhude sei ein solches Beispiel, sagt Scholz. Sie ist 2002 geplant worden, um Hamburgs Bewerbungschancen zu verbessern. Und sie ist 2006 gebaut worden, als die fünf olympischen Ringe längst woanders hingen.
Olympische Sommerspiele 2012 in Hamburg, das wären 16 tolle Tage Party geworden, Hafengeburtstag, Alstervergnügen, Stadtfeste wie Marathon, Triathlon, Cyclassics, und das alles auf einmal. Es wären zwei Wochen geworden, die im Rausch der Ereignisse verflogen wären. Den Kater hätte wohl erst der Kassensturz danach gebracht. „Hamburg“, darin sind sich von Beust, Walter, Wolf und Scholz einig, „hätte durch Olympia zwar weit mehr Einnahmen, aber auch weit mehr Schulden als heute gehabt.“ Die hat nun London.
Als ich im St.-Pauli-Stadion am Millerntor dem Ausgang zustrebe, werfe ich einen letzten Blick zurück. An dem einarmigen Baukran baumelt ein Betonteil für die neue Tribüne. Ob sie wenigstens bis zum zweiten Heimspiel des Klubs Ende August fertig sein wird, weiß im Moment niemand.
Mitarbeit: Norbert Scheid, Thomas Metelmann