Knapp zehn Monate nach dem Selbstmord ist die Biografie von Robert Enke erschienen. Das Buch ist Erbe und Mahnung zugleich.
Hamburg. Das Buch ist 432 Seiten stark. Es hat 432 starke Seiten. Das Unfassbare wird wieder zum Greifen nah. „Robert Enke - Ein allzu kurzes Leben“ lautet der Titel des Werkes. Es ist die Biografie von Deutschlands ehemaligem Nationaltorhüter, der sich am 10. November 2009 von Depressionen geplagt das Leben nahm. Enke war ein Mann, der auch die unhaltbaren Bälle aus dem Winkel fischte. Er konnte klar analysieren und mit seinem Lachen anstecken. In seinem Inneren war er jedoch zerrissen. Dunkelheit legte sich immer wieder auf seine Seele.
„Robert wollte immer eine Biografie. Natürlich hatten wir uns bei den Plänen aber immer alle gemeinsam im Jahr 2015 auf Roberts und Teresas Terrasse in Lissabon gesehen, um mit Ronnie auf das Buch anzustoßen. Leider ist es anders gekommen“, sagte Enkes langjähriger Berater und Freund Jörg Neblung: „Es ist ein sehr emotionales Buch und sehr nah dran. Es gewährt viele Einblicke. Damit musste man sich erst einmal arrangieren.“
Während seiner Karriere sollte niemand von Enkes psychischer Erkrankung erfahren. Nur seine Familie und enge Vertraute waren eingeweiht. Zu groß war die Angst des Torhüters von Hannover 96, in seinem Leid nicht verstanden zu werden und auf Ablehnung zu stoßen. Autor Ronald Reng, ein guter Freund Enkes, beschreibt Laufbahn und Leidenszeit des Schlussmannes. Einfühlsam und vorsichtig. Offen, doch nie voyeuristisch.
Besonders einige Auszüge aus Enkes Tagebuch verdeutlichen die Verzweiflung, die Enke immer wieder heimsuchte. Den Leser lassen sie zuweilen atemlos zurück. „Vergiss nicht diese Tage“, ist auf der letzten Seite von Enkes Aufzeichnungen zu lesen. Eine Aufforderung, die Kleinigkeiten des Lebens zu genießen. Eine Hinterlassenschaft an alle, die rast-, ruhe- und rücksichtslos durch die Gegenwart hecheln.
Für Enkes Umfeld um seine Witwe Teresa waren die Monate bis zum Erscheinen der Biografie schwierig. Immer wieder holte sie die Vergangenheit ein. „Natürlich holt so etwas alles wieder hoch. Es ist nicht leicht, das aufzuarbeiten“, sagt Neblung.
Neben ihm liegt auf dem Schreibtisch des Kölner Büros die Biografie seines Freundes. Bisher hat Neblung nur die Vorabfassung gelesen. „Ich habe mich noch nicht getraut, das fertige Buch zu lesen“, gibt Neblung zu: „Als ich es das erste Mal in der Hand hatte, war es schon ein ergreifender Moment.“ Nur zu gern hätte er ihn mit Enke geteilt.
Die Fußball-Welt schien nach Enkes Tod zumindest für einen Moment tatsächlich innezuhalten. Stellvertretend für viele sagte DFB-Präsident Theo Zwanziger bei der Trauerfeier vor rund 35.000 Menschen: „Fußball ist nicht alles. Denkt nicht nur an den Schein, Fußball darf nicht alles sein. Man darf nicht nur wie besessen Höchstleistungen hinterherjagen.“
Auch der heutige Bundespräsident Christian Wulff forderte damals zu einem Umdenken auf. „Die Welt ist nicht im Lot. Wir brauchen doch keine fehlerfreien Roboter. Wir brauchen Menschen mit Ecken und Kanten und mit allen ihren Schwächen und ihren wunderbaren Eigenschaften“, sagte der CDU-Politiker. Ob sich knapp zehn Monate später wirklich etwas geändert hat, scheint zumindest fraglich.
„Diejenigen, die gehofft hatten, dass sich etwas Grundlegendes ändert, muss man wohl enttäuschen. Im Kleinen hat sich aber durchaus Bemerkenswertes getan“, sagt Neblung und verweist auf Gespräche mit Therapeuten: „Da wird deutlich, dass es Roberts Fall einigen ebenfalls von Depressionen betroffenen Menschen erleichtert hat, sich in Behandlung zu begeben. Wenn man nur einen Menschen rettet, ist schon etwas erreicht.“
Stellvertretend dafür könnte die Geschichte von Andreas Biermann stehen. Der ehemalige Profi des FC St. Pauli hatte sich wenige Tage nach Enkes Tod in stationäre Behandlung begeben. Auch Biermann litt viele Jahre an Depressionen. Lesen Sie dazu den Abendblatt-Bericht von Caroline Rudelt:
"Enkes Geschichte hätte meine sein können"
Seine Finger spielen mit einem breiten Silberring. Drehen ihn hin und her, immer wieder. Es ist das einzige Anzeichen von Nervosität. Seine Stimme ist ruhig und fest, sein Blick offen. Der junge Mann weicht nicht aus. Manchmal lächelt er zwischendurch. Als ob er die Unsicherheit spürt. Nicht die eigene, sondern die seines Gegenübers. Etwa wenn der 20. Oktober 2009 zur Sprache kommt. Der Tag, an dem er versuchte, sich das Leben zu nehmen.
Beinahe ein Jahr später sitzt Andreas Biermann, 30, in der Lobby des Hotels Le Royal Méridien. Der ehemalige Fußball-Profi des FC St. Pauli soll als Talkshow-Gast bei Reinhold Beckmann auftreten und erzählen. Wie es sich lebe mit einer unsichtbaren, kaum greifbaren Krankheit - der Depression. Andreas Biermann wirkt gefasst. Es gehe ihm gut so weit, erklärt er. Die Tabletten würden ihm helfen, die psychologische Betreuung ebenso. Verarbeitet, sagt er, habe er das Geschehene noch nicht. "Das braucht Zeit."
Zu lange gärte es in dem Abwehrspieler. Zu lange hat er sich nicht eingestanden, dass er Hilfe braucht. Zweimal versuchte Andreas Biermann, sich umzubringen. 2004 nahm er Schlaftabletten. Der Suizidversuch scheitert, ein Bekannter findet ihn rechtzeitig. Burn-out, diagnostizieren die Ärzte später. Eine missglückte Knieoperation und die Angst, deshalb die Profi-Karriere aufgeben zu müssen, seien zu viel für den ehrgeizigen Berliner gewesen.
Andreas Biermann macht weiter, spielt in der Saison 2006/07 für Union Berlin. Meist mit Schmerztabletten. Er merkt, dass er krank ist. Nicht nur körperlich, auch seelisch. Er schläft kaum noch, Gefühle kann er nicht empfinden.
In dem Jahr, als er sich erstmals umbringen will, ändert sich das kurzfristig. Er lernt Juliane, seine spätere Frau, kennen. Er fühlt sich gut. "Seltener schlecht", wie er es nennt. Und doch kommen sie zurück, die Grübelphasen, in denen er sich schlaflos im Bett wälzt. Eine Therapie kommt nicht infrage.
"Ich hatte Angst, dass ich den Fußball aufgeben muss." Es ist das Einzige, bei dem er Glück empfinden kann: auf dem Platz, wenn er spielt. Seit seiner Kindheit ist das sein Halt. Hier wird er, der blasse Junge mit den roten Haaren, nicht gehänselt. Hier ist Andreas Biermann der Beste. Doch nagt es weiter an ihm, das Gefühl, minderwertig zu sein.
Seine Karriere ist geprägt von Verletzungen, doch macht er seinen Weg. 2008 wechselt er in die Zweite Liga zum FC St. Pauli. Im gleichen Jahr wird seine Tochter Talea geboren, sein erstes Kind. Einer der emotionalsten Momente im Leben eines Menschen. Nicht für Andreas Biermann. "Ich habe das vermutlich nicht so wahrgenommen, wie es andere können." Seine Eltern und seine Frau spüren, dass er leidet, doch sie finden keinen Zugang. Er zieht sich zurück, pokert viel. Bei St. Pauli läuft es nicht wie gewünscht, Krankheiten werfen ihn erneut zurück. Jetzt findet er beim Kartenspiel seine Anerkennung. Für eine kurze Zeit.
Im Oktober vergangenen Jahres beschließt Andreas Biermann, sich mit Autoabgasen das Leben zu nehmen. Er ist mittlerweile Vater von zwei Kindern. Er denkt an seine kleine Familie, als er einen Abschiedsbrief schreibt, weiß, was er ihnen antut. Trotzdem kann er nicht anders. Auch dieser Selbstmordversuch misslingt. Andreas Biermann beginnt eine Therapie gegen Spielsucht. Bis zum Freitod von Robert Enke. "Ich habe den Auftritt von Theresa Enke im Fernsehen verfolgt. Die Geschichte, die sie erzählte, hätte meine sein können. Das öffnete mir die Augen."
Am nächsten Tag lässt er sich für acht Wochen in die Klinik-Nord in Ochsenzoll einweisen. Die Diagnose ist eindeutig: Depression. Andreas Biermann macht daraufhin seine Krankheit öffentlich. Er, der Introvertierte, der Scheue, steht plötzlich im Mittelpunkt des Medieninteresses. Enkes Selbstmord wirkt noch nach, die Diskussionen um Leistungsdruck im Fußball reißen nicht ab. "Ich wollte Betroffenen Mut machen und das Bewusstsein dafür schärfen", erklärt er. Der Verein steht zu ihm, und DFB-Präsident Theo Zwanziger geißelt öffentlich: "Der Fußball muss menschlicher werden."
Viel, sagt Andreas Biermann heute, ist davon nicht geblieben. Der Ball rollt weiter, in Hannover und anderen deutschen Stadien. Auch bei St. Pauli, ohne ihn. Im Sommer hat er den Verein verlassen. Es war ein stiller Abschied, nicht nur im Guten. Er wäre gern geblieben, hätte in der zweiten Mannschaft gespielt und als Trainer bei der Jugend einzelne Aufgaben übernommen. "Aber das Angebot des Vereins hat mich sehr enttäuscht." So viel sei geredet worden über die großen Veränderungen, die der Fußball machen müsse. Das Resultat: "Man hat mich fünf Monate hingehalten. Ob das der richtige Umgang mit einem depressiven Menschen ist, wage ich zu bezweifeln."
Andreas Biermann zieht zurück in seine Heimat, nach Falkensee bei Berlin. Sein Berater spricht mit mehreren Vereinen. Überall die gleiche Reaktion: Den Fußballer Biermann wollte man haben, die Krankheit nicht. "Es hieß, ich würde die Verantwortung nicht verkraften", sagt er. Letztlich habe ihn das Bekenntnis zur Depression die Karriere gekostet. Es klingt ehrlich, wie er das sagt. Verletzt.
Momentan spielt er keinen Fußball. Wegen der Beschwerden im rechten Knie ist er krankgeschrieben. Der Anker in seinem Leben existiert nicht mehr. Andreas Biermann versucht dennoch, nach vorne zu blicken. Er will Psychologie studieren, weil er überzeugt ist, Betroffene besser zu verstehen. Weil er selbst betroffen ist. Dazu schreibt er gemeinsam mit dem Journalisten Rainer Schäfer an einem Buch. "Rote Karte Depression" soll es heißen und im kommenden Jahr erscheinen. Eine Form der Therapie sei das. Außerdem wolle er ein Zeichen setzen.
"Ich bin kein Held", sagt er. "Es ist nichts Tolles, was ich gemacht habe. Aber ich hoffe, dass ich anderen helfen kann." Andreas Biermann hat sich zu seiner Krankheit bekannt. Und er kämpft. Vor allem für seine Familie. Er ahnt, wie schlimm es sein muss, wenn der Vater freiwillig aus dem Leben geht. Doch er kennt auch die andere Seite. Wie es ist, wenn man gehen möchte.