Boxlegende Muhammad Ali steht für einen radikalen Wandel: Aus dem rabiaten Großmaul wurde ein Kämpfer für Versöhnung und Frieden. Heute wird er 70.
Eine Boxlegende wird 70 Jahre alt: Schwer angeschlagen wirkte Muhammad Ali zuletzt, die Erkrankung am Parkinson Syndrom schreitet unaufhaltsam fort. So ist es eben. Der legendäre Box-Champion musste immer kämpfen, und meist hat er gesiegt. Am Sonnabend besuchte er seine Heimatstadt Louisville. Ali ist ein Idol - als Sportler wie als Mensch. Louisville feiert ihren größten Sohn seit Sonntag mit einer siebentägigen Veranstaltungsreihe. „Die Gemeinschaft ist ein wichtiger Teil in Alis Leben“, sagt Ehefrau Lonnie, „und Louisville hat Ali als erstes bei seinen sportlichen Zielen unterstützt.“
Ein Sprung zurück: Er redete und redete, brabbelte seinen Gegnern noch was vor, während er sie im Ring bearbeitete. Doch jetzt schrie Cassius Clay seinen Trainer Angelo Dundee an: "Ich kann nichts sehen. Meine Augen!" 22 war er gerade geworden, Olympiasieger in Rom knapp vier Jahre zuvor. Hatte die üblichen Polizei-Sheriffs und Feuerwehrleute geboxt, die als Profis durchs Land tingelten, um die Karriere anderer Talente aufzuhübschen. In seiner jungen Laufbahn hatte dieser einzigartig geschmeidige Bursche aus Louisville in Kentucky aber auch einige angesehene Schwergewichte der Branche ausgeknockt. Deshalb stand Cassius Marcellus Clay am 25. Februar 1964 in Miami als rechtmäßiger Herausforderer im Ring gegen Weltmeister Sonny Liston. Und nach Runde vier mit brennenden Augen.
Er wollte aufgeben, trotz klarer Führung gegen den 6:1-Favoriten Liston: "Schneid die Handschuhe auf, Angelo, wir fahren nach Hause." In den 60 Sekunden Ringpause trocknete Dundee seinen Schützling ab, wusch die Augen mit Wasser aus und schubste den immer noch halb Blinden in den Ring zurück: "Das ist eine Weltmeisterschaft hier." War Clay Listons Einreibemittel ins Auge gelangt? Wollte jemand den aufmüpfigen Herausforderer vergiften? Steckte womöglich Trainer Dundee hinter einem Manipulationsversuch? In einem der wichtigsten Kämpfe in 2600 Jahren organisierten Boxens ging Clay nach vorn - und schlug Liston in Runde sieben k. o.
"Beethoven hat ein paar seiner besten Sinfonien geschrieben, als er taub war", sagte Ringarzt Ferdie Pacheco lakonisch. Der Mann, der nach seinem Sieg hüpfte und brüllte "Ich bin der Größte!", der Experten und Zuschauer schockte, der sich noch am Abend offiziell in Muhammad Ali umbenannte - warum sollte der nicht auch blind boxen können?
Der Jahrhundertsportler - eine Kurzbiografie
Muhammad Ali nimmt Abschied von US-Boxlegende Joe Frazier
Die Geburt des Größten aller Zeiten - denn auch künftig wird kein Sportler die Welt so nachhaltig verändern - fand in dieser Nacht in Miami statt. Heute sabbern selbst ernannte Getto-Musiker ihr "Fuck you" ins Mikrofon, und es ist bestenfalls eine Provokation. Muhammad Ali, der erste Rapper überhaupt, war von Februar 1964 an eine echte Gefahr für Amerika. John F. Kennedy war gerade ermordet worden. Der Schwarzenführer Malcolm X würde der Nächste sein, der Versöhner Martin Luther King sollte im April 1968 folgen, Robert Kennedy zwei Monate darauf. Dem schwarzen Boxer Rubin Carter ("Hurricane") wurde Mitte der 60er-Jahre ein Doppelmord angehängt, erst nach 20 Jahren wurde er freigesprochen. Die Rassendiskriminierung tobte so heftig wie die Auseinandersetzung darüber.
Ali tat das Seine, die Nation weiter zu spalten. Als Boxer war er praktisch unschlagbar. Talent, Wille und Unbeirrbarkeit - er hatte alles. Wenn er mal niederging, stand er wieder auf. Er war der Mann, der mit seinen Sprüchen von "Waschweibern" und "hässlichen Bären" die Gegner erst verhöhnte und dann vermöbelte. Und er war am Beginn des Farbfernsehens und der Kommerzialisierung des Sports wirtschaftlich erfolgreich. Eine - durchweg weiße - Gruppe von Geschäftsleuten seiner Heimat Louisville war an seinen kämpferischen Unternehmungen beteiligt. Ali boxte auch im Ausland in vollen Fußballstadien, wie 1966 in Frankfurt gegen Karl Mildenberger.
Als konvertierter Muslim lobte Ali die radikale "Nation of Islam" und war einfach hinreißend in seiner Plapperhaftigkeit: "Ich bin so schnell: Wenn ich an der Zimmertür das Licht ausmache, bin ich schon wieder im Bett, bevor es erloschen ist." Oder: "Ich werde ihn so schnell von allen Seiten schlagen, dass er glaubt, er ist umzingelt."
So schüchtern er im Privaten, vor allem bei den wechselnden Partnerinnen war, so derb hieb er verbal auf die Tonne. Seinen Gegnern sagte er die Runde an, in der er sie auszuknocken gedachte. Er hatte den uramerikanischen Optimismus aufgesogen, sich hochgearbeitet, und nun bedrohte er mit seinem Status das US-Establishment im Kern. Was würde passieren, wenn ein Großmaul, ein Muslim, ein unkontrollierbarer Mann mit Geld und Ruhm die Revolution der Afroamerikaner anführen würde?
Man wollte ihn in den Krieg schicken. 1967 sollte Ali einberufen werden. Er sagte: "Ich hab kein Problem mit den Vietcong. Die haben mich nie ,Nigger' genannt." Weiße Heranwachsende gingen aufs College, schwarze in die Army. Als Ali sich dem Kriegsdienst verweigerte, nahm man ihm Weltmeistergürtel und Boxlizenz weg. Er sagte, er habe aus Wut seine Olympia-Goldmedaille in den Ohio geschmissen. Vermutlich hat er sie nur verschusselt. Oder einer seiner zahllosen Mitarbeiter hat sie verhökert. So wie ein Mann aus seiner Entourage einmal den Weltmeistergürtel für 500 Dollar verkaufte.
Nach drei Jahren im inneren Exil war der Boxer nicht mehr derselbe. Mit Ali ging nach seinem Comeback 1970 eine fundamentale Verwandlung vor sich, wie mit Elvis nach einem jahrelangen Hollywood-Ausflug oder Bob Dylan nach seinem Motorrad-Unfall. "Die Beine waren weg", klagte sein Doktor Ferdie Pacheco. Die Schnelligkeit war passé. Nach seinem Comeback wurde Ali in Kämpfen plötzlich selbst ernsthaft getroffen. "Boxen", hat der legendäre Trainer Fritz Sdunek (Klitschko-Brüder, Dariusz Michalczewski, Zsolt Erdei) einmal gesagt, "fängt im Kopf an, geht dann in die Beine und kommt am Ende bei den Fäusten raus."
Aber auch zwei Drittel reichten Ali, um nach einer ersten Niederlage gegen Joe Frazier doch wieder Weltmeister zu werden. Im Kampf gegen George Foreman 1974 in Kinshasa blitzte noch einmal Alis Instinkt auf, als er nach der ersten Runde spürte, diesen Koloss nur mit List besiegen zu können. Tagelang war er vorher durch Zaire gefahren und hatte selbst die Kinder singen gelehrt: "Ali bomaye!" - Ali, schlag ihn tot. Er hatte den Eindruck erweckt, in Foreman käme ein weißer Weltmeister wie ein Kolonialherr nach Afrika. Das war wie so oft nur die halbe Wahrheit.
Promoter Don King ließ Blues-Legende B.B. King spielen, platzierte den Diktator Mobutu Sese Seko auf einen Ehrenplatz (der Massenmörder zahlte zehn Millionen Dollar für die Austragung) und übertrug das Spektakel vor 60 000 Zuschauern um vier Uhr morgens Ortszeit zur amerikanischen Fernseh-Primetime. Über diese Ringschlacht sind diverse Bücher und Filme erschienen. Die Kurzform: Ali ließ sich windelweich prügeln, ging zum Gegenangriff über und knockte "Big George" in Runde acht aus.
Dieser "Rumble in the jungle" war noch mehr als der "Thrilla von Manila" gegen Joe Frazier ein Jahr später ein Zeichen für Alis schleichenden Wandel: vom Boxer und Lautsprecher zum gebrechlichen Friedensprediger. Das Kämpfen war ein Raubbau an seinem Körper. Er zitterte, vermutlich mit ersten Anzeichen von Parkinson, bereits vor dem letzten Kampf gegen Trevor Berbick 1981 auf den Bahamas. Aber gegen Ende seiner Karriere war mit ihm noch mehr Geld zu verdienen, als er selbst mit vollen Händen unter die Leute brachte - gerne bündelweise in bar an Bettler, Zimmermädchen, Taxifahrer. Er unterhielt vier Ex-Gattinnen, neun Kinder, clanweise Mitarbeiter, die oft in die eigene Tasche wirtschafteten.
Erst Ehefrau Lonnie, mit der er heute in Phoenix lebt, brachte Ordnung in Alis Gedanken und Geldangelegenheiten. Gemeinsam mit ihr nahm er den letzten Kampf seines Lebens auf.
"Einige leichte Zeichen des Parkinson-Syndroms" stand 1984 in seiner Krankenakte, "Ali spricht gut auf die Medikamente an." Der Patient leide nicht an der Dementia pugilistica, dem "Punch-Drunk-Syndrom" (wenn jemand vor lauter Schlägen keinen geraden Satz mehr herausbringt). Es wurde schlimmer. Ali hätte die Handschuhe früher an den Nagel hängen müssen, meinen Zeitzeugen und Experten in der gerade erschienenen deutschen Erstausgabe von Thomas Hausers Buch "Muhammad Ali: Ich" (Bombus Verlag).
Heute ist er eine Ikone - eine fast sprachlose, maskenhafte. Seine finale Botschaft: Frieden. Er traf sich schon in den 80ern mit dem damaligen sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew, warb bei Saddam Hussein für die Freilassung amerikanischer Geiseln. Und sagte nach dem 11. September 2001: "Dieses Verbrechen können keine gläubigen Muslime begangen haben. Der Islam ist die Religion des Friedens."
Das Thema Versöhnung hat ihn nie losgelassen. Der erste Reporter, der ihn wegen seines Glaubens scharf befragte, war Fernsehstar Howard Cosell in den 60ern. Ali blaffte vor laufenden Kameras zurück - dann wurden sie Freunde. Cosell war Jude. Er starb 1995 an Parkinson, von Ali tief betrauert. Er trauerte auch, als sein Erzfeind Joe Frazier 2011 zu Grabe getragen wurde.
Amerika und Ali haben sich spätestens 1996 versöhnt, als er in Atlanta zitternd die olympische Fackel entzündete - sogar Präsident Bill Clinton weinte. Mit seiner Gebrechlichkeit hat Ali in den USA mehr Mauern eingerissen und mehr Vorurteile abgebaut als mit seinen Boxer-Sprüchen. Dabei hatte sich der Champion, wie sein Trainer Angelo Dundee verriet, schon früh gegen radikale Einflüsterungen aus der schwarzen Gemeinde gewehrt. Sie wollten den hellhäutigen Coach nach der ersten Weltmeisterschaft loswerden. Ali verteidigte ihn: "Angelo ist kein Weißer. Er ist Italiener."