Hammoor. Form des Wohnens und Pflegens in Hammoor ist eine Alternative zum Heim. Angehörige und Bewohner erzählen.
Eine ruhige Wohnstraße in Hammoor. Vor dem weißen Einfamilienhaus mit dem anthrazitfarbenen Dach blühen rosa Blumen.
Hecken säumen den gepflasterten Weg, der zur Eingangstür führt. Nichts weist darauf hin, dass dies das Zuhause einer besonderen Gemeinschaft ist. Bis auf das Bushaltestellenschild, das auf dem Grundstück steht. Eine Attrappe – jedoch nicht unbedingt als solche von den Hausbewohnern zu erkennen. Denn die acht Menschen, die hier leben, leiden unter massiven kognitiven Einschränkungen aufgrund einer Demenz oder anderer Ursachen. Sie sind daher nicht in der Lage, ihren Alltag selbstständig zu meistern.
Die acht Bewohner dieser Demenz-WG werden rund um die Uhr von einem Team des Bargteheider Pflegediensts Zwick
betreut. Am großen Tisch in der geräumigen Wohnküche sitzen kurz nach 10 Uhr an einem sonnigen Vormittag ein Mann und eine Frau beim Frühstück. Eine zweite Frau, die offensichtlich zum Personal gehört, steht an der Spüle. Direkt an die Küche grenzt der Wintergarten an. Dort haben es sich die meisten Bewohner bequem gemacht. Auf den Gruß des fremden Besuchs ertönt im Chor ein freundliches „Moin“. Einige schauen fern, andere dösen vor sich hin. Vielleicht warten sie auch darauf, bis sie an der Reihe sind. Denn in der Mitte des Raums geht eine Fußpflegerin ihrer Arbeit nach.
Pflege: In der Demenz-WG am Hamburger Stadtrand gibt‘s eine Bushaltestele im Garten
Marion Petersen lebt seit 2015 in der WG. Gerade sind ihre Tochter Marina Christoff und deren Mann Achim zu Besuch. Die beiden haben ihren Hund Zambo mitgebracht. „Süß“ sei der, findet Petersen. Viel spricht sie nicht. An den Vornamen ihrer Tochter könne sich die 85-Jährige schon nicht mehr erinnern, sagt Achim Christoff. „Aber sie freut sich, uns zu sehen.“
Vor ihrem Umzug in die Demenz-WG lebte Petersen mit ihrem Mann Rolf im eigenen Haus in Delingsdorf. Wegen Diabetes bekam er Insulin gespritzt. Sie hatten Unterstützung von einem Pflegedienst, eine Putzhilfe machte sauber. „Sie haben ihren eigenen Verfall nicht bemerkt“, beschreibt Christoff die damalige Situation der Schwiegereltern. „Es mussten immer mehr Aufgaben für sie übernommen werden.“ Als Rolf Petersen wegen einer Operation ins Krankenhaus kam, konnte seine Frau nicht allein bleiben. Eine Vollzeitbetreuung konnten die Christoffs selbst nicht leisten. Ein Pflegeheim kam genauso wenig infrage. „Da wurde in der WG ein Zimmer frei“, sagt Achim Christoff.
Alternative Wohnform: So lebt es sich in der Demenz-WG in Hammoor
Es habe etwas gedauert, bis sich ihre Mutter an die neuen Lebensumstände gewöhnt habe, sagt Marina Christoff. „Anfangs war sie allein dort.“ Sie hätten ihr erzählt, dass die WG ein Hotel sei. Ihre Mutter habe nicht verstanden, warum der Umzug nötig gewesen sei, und sie immer wieder verbal angegriffen. Für das Krankheitsbild ist es typisch, dass die Betroffenen sich ihre Defizite nicht eingestehen und vor anderen zu verbergen versuchen. Die damalige Teamleitung der WG riet Christoff, dass sie vor ihrem nächsten Besuch 14 Tage abwarten solle. Das half. „Danach war sie nicht mehr so böse auf mich.“
Demenz-WG: Eine Fußmatte mit Sensor meldet sofort, wenn nachts jemand das Bett verlässt
„Sie hat gemerkt, dass sie nicht waschen, putzen oder kochen muss“, meint Achim Christoff. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zog Rolf Petersen zu seiner Frau. Auch er ging davon aus, dass er sich in einem Hotel befand. „Und so hat er sich auch benommen“, sagt Christoff augenzwinkernd. Er habe seine Wünsche geäußert und erwartet, dass sie erfüllt würden. Ein Jahr später starb Petersen. Seitdem wohnt seine Witwe allein in dem Zimmer.
Es liegt im ersten Stock. Der Treppenlift ist defekt – zumindest offiziell. Denn Bewegung hält mobil, und solange die Bewohner die Treppe aus eigener Kraft bewältigen können, sollen sie auf den Lift verzichten. Achim Christoff öffnet die Tür von Petersens Zimmer. Auf dem Nachttischschrank steht ein Foto, das sie mit ihrem Mann zeigt. Über einer Kommode hängt ein Bilderrahmen mit vielen Familienfotos und dem Schriftzug „50 Jahre Marion & Rolf“. Daneben steht eine Bodenvase, vor der Fußleiste sind Schuhe aufgereiht. Ein großer Schrank, drei Stühle, ein zusammengeklappter Rollstuhl, ein Rollator, eine fertig gepackte Notfalltasche. Die Atmosphäre erinnert tatsächlich etwas an ein Hotelzimmer.
Demenz-WG: Das Haus ist zurzeit voll belegt
Eine Matte mit Sensor wird nach dem Zubettgehen vor dem Bett platziert. Wenn die Bewohner nachts aufstehen, treten sie darauf, und der Sensor sendet ein Signal an einen mit ihrem Namen beschrifteten Empfänger. Gero von der Heide, stellvertretender Leiter des Pflegeteams, zeigt, wo die Empfänger stehen: in einem seitlich an die Küche angrenzenden Eckbereich. So weiß der Nachtdienst immer, wer gerade aufgestanden ist, und kann abschätzen, ob Handlungsbedarf besteht. Wenn es sich beispielsweise um sturzgefährdete Personen handelt oder solche, die Hilfe benötigen.
Für von der Heide ist es Zeit für die Dokumentation. Er erledigt sie von dem kleinen Sofa im Eckbereich aus. Vor ihm steht ein Tisch. Für ein richtiges Büro, einen Rückzugsbereich oder extra sanitäre Anlagen für die Angestellten ist kein Platz in der WG: Alle Zimmer sind belegt. „Bei uns steht der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen im Vordergrund“, sagt er über das Konzept. Es sei wichtig, dass die Bewohner sich wohlfühlten und ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen könnten. Schon als Schüler habe er bei einem Pflegedienst ausgeholfen. Sein Beruf erfülle ihn, fügt der 38-Jährige hinzu. „Ich komme gern hierher und mache gern meine Arbeit.“
Demenz-WG: Pflegeteamleiter kommt gern zur Arbeit, weil ihn der Beruf erfüllt
Seine Kollegin füttert unterdessen eine alte Dame, die Schluckschwierigkeiten hat, mit Brei. Als die Frau satt ist, beginnt sie mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen. Das Menü steht auf einer Tafel. Von der Heide springt immer mal auf, weil die alte Dame laut „Hallo“ ruft. „Mein Helfersyndrom“, sagt er und lächelt entschuldigend. Meist will sie trinken und braucht Hilfe. Kaum hat er sich wieder hingesetzt, geht alles von vorn los. Dann wieder ist ihr kalt, und er zieht ihr die Decke bis hinauf zu den Schultern. Er bringt eine Engelsgeduld auf, bleibt ruhig und stets zugewandt. Nach beendeter Arbeit nutzt die Fußpflegerin die Gelegenheit zu einem kleinen Schnack mit der Pflegerin in der Küche.
Der Mann, der vorhin gefrühstückt hat, ist inzwischen eingenickt. Seine Lebensgefährtin Julie Pokar berichtet, dass der 69-Jährige bei einem Unfall eine Hirnschädigung erlitten hat. „Dadurch ist seine innere Planung komplett weg, jede Handlung muss initiiert werden“, erläutert sie. Ihrer Ansicht nach ist diese Wohnform eine gute Alternative zum Heim. „Er kann morgens so lang im Bett bleiben, wie er will.“ Die Pfleger seien sehr flexibel. Je nach Bedarf könne um 7 oder auch 10 Uhr gefrühstückt werden. Die Betreuer würden auch Geschichten vorlesen, mit Bewohnern spazieren gehen und singen. Für ihren Lebensgefährten sei das nichts, Volkslieder entsprächen nicht seinem Geschmack. Bei Demenzkranken ist das anders: Sie erinnern sich am besten an die Lieder, die sie in der Kindheit gelernt haben. Oder, wie Achim Christoff es formuliert: „Demenz ist wie ein Bücherregal. Am Anfang lernt man Sprechen, und für jeden neuen Lebensabschnitt kommt ein Buch hinzu. Die Bücher, die zuletzt hineingestellt wurden, fallen als erste heraus.“ Eine Reise in die Vergangenheit – ohne Rückfahrschein.
Betreuer lesen Geschichten vor, singen oder gehen mit Bewohnern spazieren
So ist das auch bei Annemarie Amon, die seit Anfang Februar in der WG lebt. Sie versuchte lange, die Fassade aufrechtzuerhalten. Als die Krankheit immer deutlicher fortschritt, holten ihr Sohn Alexander und seine Frau Hilke sie nach Stormarn. „Die WG war für uns die beste Möglichkeit, weil das ein kleiner Rahmen ist“, sagt Hilke Amon. Für sie sei der Geruch beim Betreten des Hauses ein entscheidendes Kriterium gewesen, weil er auf einen guten Hygienezustand habe schließen lassen. Auch Julie Pokar rät Angehörigen, bei Pflegeeinrichtungen, „ganz genau hinzuschauen, ob der gute Eindruck nur nach außen aufrechterhalten wird“. In der WG habe die Pflegedienstleitung alles im Griff. Das Team sei sehr engagiert. „Die Pflege läuft super“, stimmt Hilke Amon zu. „Zwei- bis dreimal pro Woche wird geduscht, die Kleidung wird öfter gewechselt.“
Der Umgang sei „viel persönlicher, weil die Pflegekräfte die Vorlieben und Eigenschaften der Leute sehr viel besser kennen“. Feste Abläufe sorgten für Struktur. Neben der Fußpflege kämen regelmäßig Sänger, Friseur und Therapiehund ins Haus. Manchmal rufe ihre Schwiegermutter an und sage, dass sie ganz allein sei. Dann rate sie ihr, im Wintergarten oder der Wohnküche nachzusehen. Mit dem Ergebnis, dass Annemarie Amon feststelle, da sei ja doch jemand. Auch wenn sie mit anderen von sich aus wenig agiere, suche sie die Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft in der WG spielt für die Bewohner eine wichtige Rolle
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Für Marina Christoff ist die Gesellschaft ebenfalls ein wichtiger Punkt. „Das Zwischenmenschliche findet nicht in einem Pflegeheim statt.“ In der WG regten Pfleger Gespräche an, spielten oder tanzten mit den Senioren. „Auch die Bewohner sind füreinander da, da ist eine innere Verbindung zwischen ihnen“, glaubt sie. Und die Angehörigen können jederzeit kommen, es gibt keine festen Besuchszeiten. Der Kontakt ist gut, sie tauschen sich in einer Whatsapp-Gruppe und per E-Mail aus, planen Ausflüge. Bei den regelmäßigen Treffen im Aufenthaltsraum ist der Pflegedienst willkommen. Welchen sie sich ins Haus holen, bestimmen sie selbst. Das Haus gehört übrigens einem zu diesem Zweck gegründeten Verein, die Pflege finanzieren die Bewohner beziehungsweise deren Angehörige selbst.
Nicht nur die Demenzkranken, auch die Pfleger profitieren von dem Konzept. Dass sie sich zu zweit um acht Menschen kümmern können, ist etwas, von dem das Personal eines Pflegeheims nur träumen kann. Pokar bringt es auf den Punkt: „Wenn ich pflegen und mich mit den Bewohnern befassen wollte, würde ich in die Demenz-WG gehen.“ Marion Petersen sagt: „Ich bin so glücklich hier.“
Was aber hat es denn nun mit der Bushaltestelle im Garten auf sich? Sie bringt desorientierte Bewohner dazu, dort auf den Bus zu warten, der niemals kommt – bis ein Pfleger sie dort aufsammelt und wieder ins Haus zu den anderen bringt.