Kreis Pinneberg. Übergriffe in Kliniken nehmen zu: Medizinisches Personal setzt jetzt auf Selbstverteidigung und Deeskalation. Was die Verbände sagen.

Die Angebotspaletten von schleswig-holsteinischen Sportvereinen oder anderen gesellschaftlichen Einrichtungen sind um eine Facette reicher. Denn bei Selbstverteidigungstrainings, Deeskalationsschulungen oder Gewaltprävention besteht die Zielgruppe nicht mehr nur aus allgemein Interessierten oder Frauen und Kindern. Neu hinzugekommen sind Ärzte und medizinisches Personal aus Krankenhäusern und Praxen.

In einer Vorreiterrolle befindet sich dabei der Verein der niedergelassenen Ärzteschaft im Kreis Steinburg. Schon seit 2018 richtet der VNÄ.KS in Kooperation mit dem SC Itzehoe einen zweiteiligen Kursus aus. Zu diesem gehört nach einer rechtlichen Grundlagenschulung auch eine recht „handfeste“ Übungseinheit. In dieser wird vermittelt, wie dem Angriff eines aggressiven Patienten oder Angehörigen ausgewichen oder dieser im schlimmsten Fall direkt abgewehrt werden kann.

Selbstverteidigung für Ärzte: Kursus in Itzehoe wird gut angenommen

„In den Coronajahren mussten wir aussetzen, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den praktischen Einheiten auf der Matte sehr eng miteinander interagieren“, sagt Maike Wenckebach, Geschäftsstellenleiterin des VNÄ-KS und Mitorganisatorin des Kurses. Aber war ein Bedarf denn wirklich gegeben, dass Kursusinitiator Dr. Alexander Schmied dieses Training aus der Taufe heben musste? „Doch, der Ton ist rauer geworden und der Kursus wird sehr gut angenommen“, sagt Maike Wenckebach.

Einzelfälle? Anscheinend nicht, denn die Ärzteverbände in Schleswig-Holstein sind alarmiert. Kassenärztliche Vereinigung und Ärztekammer haben wahrgenommen, dass es nicht nur die schon seit längerem beobachteten Übergriffe gegenüber Rettungspersonal sind, die von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft gegenüber medizinischem Personal und Einsatzkräften zeugen. Auch Praxis und Krankenhaus werden zunehmend Krisenherd.

Ärztevereinigung ist alarmiert: 80 Prozent der befragten Mediziner haben 2023 eine Form von Gewalt erlebt

„Es sieht so aus“, sagt Marco Dethlefsen, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH). „Unser Bundesverband hat gerade eine Umfrage zu dem Thema abgeschlossen und ausgewertet; da können wir gute Erkenntnisse draus ziehen.“ Ein Blick in die Zahlen macht deutlich: „Ernüchternd“ wäre das zutreffendere Wort für den Status quo in deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern.

Von 7580 Medizinern, Psychotherapeuten sowie medizinischem Fachpersonal haben rund 80 Prozent im Jahr 2023 „Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen“ erlebt. Dieses mittlerweile nicht nur in den Praxen, sondern auch am Telefon oder im Internet. 14 Prozent der Vorfälle kamen zur Anzeige oder zur Hinzuziehung der Polizei.

Gewalt gegen medizinisches Personal: Fast die Hälfte der Befragten ist seit 2019 attackiert worden

Und dass das Kursangebot der Kollegen in Itzehoe nicht überzogen ist, verdeutlicht eine weitere Kennzahl der bundesweiten Umfrage: „43 Prozent der Befragten haben in den vergangenen fünf Jahren auch körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt. Im Jahr 2023 wurden 60 Prozent von ihnen Opfer. Die Fälle reichen von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen“, heißt es in dem Bericht.

Eine Tendenz, die der Verbandsführung im nördlichsten Bundesland nicht verborgen geblieben ist. „Es kommt leider immer öfter vor, dass sich Patienten im Ton vergreifen oder aggressiv werden“, sagt Dr. Bettina Schulz, Vorstandsvorsitzende der KVSH. „Dabei spielt sicherlich die allgemeine gesellschaftliche Verrohung eine Rolle und manchmal geht es Patienten mit ihren Terminen einfach nicht schnell genug. Den geballten Frust bis hin zu Drohungen kriegen dann oft zuerst die Medizinischen Fachangestellten ab.“

Ärzteverband fordert Aufnahme ihrer Berufsgruppe ins Gesetzbuch als schützenswerte Personen

Unter diesem Aspekt formuliert die Ärztevereinigung einen ganz klaren Anspruch an den Gesetzgeber: „Die KVSH fordert daher, dass niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende direkt im Strafgesetz in den Kreis der schützenswerten Personen aufgenommen werden“, sagt Bettina Schulz. „Gleiches gilt für die Mitarbeiter der ärztlichen Bereitschaftsdienste und Anlaufpraxen. Dabei geht es auch um eine gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Arbeit.“

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Und auch die Ärztekammer Schleswig-Holstein (AKSH) sieht sich zum Handeln genötigt: „Unser Präsidium hat an diesem Mittwoch beschlossen, unter den schleswig-holsteinischen Ärzten eine Befragung zum Thema Gewalt zu starten“, teilt Nicole Brandstetter aus der Öffentlichkeitsarbeit der Ärztekammer mit. „Daraus sollten uns dann bestmöglich zu Jahresbeginn Zahlen vorliegen.“

Gewalt gegen Ärzte in Regioklinik: „Toleranzgrenze ist bei manchen Menschen schnell erreicht“

Und auch „an der Front“, sprich in Kliniken und Praxen, wird die Ansicht der Verbände geteilt. „Verbale Gewalt erleben unsere Mitarbeitenden nahezu täglich, auch physische Angriffe kommen vor“, sagt Dr. Stefan Sudmann, Chefarzt des Zentrums für Notfall- und Akutmedizin (ZNA) in den Regio Kliniken Elmshorn. Er unterteilt die Gewaltformen. „Teilweise handelt es sich um Patienten, die an Erkrankungen wie Demenz oder Verwirrung leiden und für ihr Handeln nicht oder nur bedingt verantwortlich gemacht werden können. Solche Situationen können wir in der Regel gut auffangen.“

Sudmann
Dr. Stefan Sudmann, Chefarzt des Zentrums für Notfall- und Akutmedizin (ZNA) in den Regio Kliniken Elmshorn, ist über die zunehmende Gewalt gegenüber medizinischem Personal besorgt. © Regio Kliniken | Christina Clasen

Anders sei es hingegen bei bewusst gewalttätigem Verhalten. „Das tolerieren wir nicht und setzen klare Grenzen – etwa durch begrenzten Zutritt oder Hausverbote“, sagt Sudmann. „Die teils massiven Beleidigungen und Eskalationen zeigen leiden deutlich, wie schnell die Toleranzgrenze bei manchen Menschen erreicht ist.“

Regiokliniken bieten für ihr Personal Deeskalations- und Gewaltpräventionsseminar an

Wie das erwähnte „gut auffangen“ erreicht werden kann, weiß Sebastian Schmieds zu berichten. „Die Regio Kliniken bieten seit zwei Jahren das Deeskalations-Seminar ,ProDeMa‘ an“, sagt der Bereichsleiter Pflege Psychiatrie an den Regio Kliniken. „Diese Fortbildung richtete sich zunächst an Mitarbeitende der Klinik der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Seit einem Jahr ist sie aber auch für die Mitarbeitenden der Zentralen Notaufnahmen (ZNA) und der Intensivstationen an beiden Standorten offen.“

Schmieds
Sebastian Schmieds, Bereichsleiter Pflege Psychiatrie an den Regio Kliniken. © Regio Kliniken | Regio Kliniken

Und anders als die praktischen Übungseinheiten in Itzehoe haben die Lerneinheiten der Regio Kliniken – wenig überraschend – zu einem großen Teil einen anderen Ansatz: „Ziel ist es, Gewalt, sowohl verbal als auch körperlich, zu vermeiden. Im Fokus steht die Prävention: Die Teilnehmenden lernen, wie Konflikte und angespannte Situationen frühzeitig erkannt und entschärft werden können, um eine Eskalation zu verhindern“, berichtet Schmieds.

Manchmal hilft Reden einfach nicht mehr: Auch in Elmshorn werden Befreiungsgriffe und Ähnliches geschult

Gleichzeitig werden aber auch Strategien und Techniken vermittelt, um im Ernstfall sicher und professionell zu handeln und sich selbst zu schützen. „Dazu gehören auch beispielsweise Befreiungsgriffe, die es ermöglichen, sich selbst im Ernstfall zu verteidigen“, erläutert Sebastian Schmieds und bestätigt, dass es bei aller Friedfertigkeit nicht mehr ganz ohne die Inhalte des Trainings geht, wie es seit 2018 schon in Itzehoe praktiziert wird.