Pinneberg. Die weltweite Hysterie um den US-Star befeuert auch im Kreis Pinneberg das Comeback in Sportvereinen und Tanzschulen. Eine Übersicht.
„Resi, i‘ hol dir mit ‘m Traktor ab“, ein Ohrwurm aus den 80er-Jahren schallt durch den Saal 2 im Vereinsheim des VfL Pinneberg. Ein Dutzend weibliche Best-Ager bewegt sich geschmeidig in Schrittkombinationen übers Parkett. Jede für sich und doch alle gemeinsam. „Seit‘-seit‘ … Wechselschritt … Rück-rück-vor“, dirigiert Kursleiterin Anke Kuhlenschmidt. Was immer man von dem besagten Titel aus deutscher Schlagerproduktion halten mag – gut tanzen lässt sich darauf.
Fast ebenso wie auf modischere Klänge, etwa auf Songs von Mega-Star Taylor Swift. Dass die US-Amerikanerin sich auf einem beispiellosen Siegeszug um den Erdball befindet, gehört mutmaßlich wohl auch zu den Gründen für den Ansturm auf Line-Dance-Kurse in jüngerer Vergangenheit.
Line Dance: Mit „Saturday Night Fever“ ging es 1977 los
Diese Auffassung vertritt zumindest auch Taktgeberin Kuhlenschmidt: „Natürlich puscht es, wenn ein Weltstar wie Taylor Swift bei ihren Shows in ausverkauften Stadien mit Elementen und Accessoires des Line Dance arbeitet.“ Das bleibe nicht folgenlos. Auf Bitten jüngerer Teilnehmerinnen hat sie schon bestimmte Choreografien des Megastars mit ihren Gruppen nachvollzogen und eingeübt.
Dabei gehört normalerweise die Kreation eigener Schrittfolgen und Figuren zum Wesen des Tanzes. Zahllose Videotapes auf Youtube zeugen von dieser spezifischen Schaffenskraft. Mediale Beachtung erhielt Line Dance übrigens schon viel früher, namentlich durch eine szenische Darstellung im Jahrhundert-Tanzfilm „Saturday Night Fever“ von 1977.
Line Dance: europäische Spielart des ur-amerikanischen Squaredance
Vereinfacht dargestellt, gibt es vier Musikrichtungen, nach denen das „Linientanzen“ in Sportvereinen und Tanzschulen funktioniert: lateinamerikanisch, Standard, Funky-Disco und selbstverständlich Countryklänge. Denn aus dieser Sparte stammt der Line Dance als quasi europäische Spielart des ur-amerikanischen Squaredance, der sich bei näherem Hinsehen doch gravierend unterscheidet.
Zumindest bei öffentlichen Anlässen tragen die Männer langärmelige Westernhemden mit Kragenecken und einem Halstuch oder einer Krawattenschnur. Auch Cowboyhüte werden gern aufgesetzt. Signifikantes Ausstattungsteil der Frauen: weitschwingende Petticoat-Röcke.
Line Dance im Kreis Pinneberg
Entsprechend der gestiegenen und weiter steigenden Nachfrage bieten zahlreiche Sportvereine im Kreis Pinneberg Line-Dance-Kurse an. Hier eine kleine Auswahl:
Jolly Dancers Quickborn, TuS Holstein, Ziegenweg 1, 25451 Quickborn
Line Dance Gruppe Rellinger TV, Kleine Turnhalle Egenbüttel, Schulweg 2-4, 25462 Rellingen
Rose-Liners Uetersen, Jugendraum Heidgraben, Uetersener Straße 3a, 25436 Heidgraben
Wedel Line Dancer, Kommunikationsräume des Wedeler TSV e.V.-Vereinszentrums
Sky Dancers, Schenefeld, Blau-Weiß 1896, Tanzschule Lüthje, Friedrich-Ebert-Allee 21, 22869 Schenefeld
Hinzu kommen diverse Tanzschulen im Kreis, beispielsweise das „Step-by-Step“ in Elmshorn oder die „Tanzzeit“ in Halstenbek.
Außerdem werden grundsätzlich paarweise einstudierte Figuren getanzt, womit männliche Akteure automatisch die Hälfte der Teilnehmer bilden. Im Kontrast dazu ist Line Dance zwangloser, entspannter – zu beobachten auf einschlägigen Partys, auf denen mitunter zweihundert – oder mehr – einander unbekannte Personen sich zur Musik bewegen.
Sportliche Vorerfahrungen erleichtern das Erlernen der Schritte
„Es ist reiner Sport, pure Bewegung ohne irgendeine Gesinnungsrichtung“, erklärt Anke Kuhlenschmidt. Hinzu komme, dass es keine Altersbeschränkung gebe. An ihren Kursen nähmen zuweilen Frauen teil, die hart auf die 90 zugehen. Generell gilt: Sportliche Vorerfahrungen erleichtern das Erlernen der Schritte und Choreos beim Line Dance.
Kuhlenschmidts Prognose: „Der Singletanz ist in den letzten Jahren immer populärer geworden, und ich erwarte, dass der Zulauf weiter anhalten wird.“ Eine gesellschaftliche Ursache dürfte im Rückgang der Zahl von Eheschließungen liegen, flankiert von Partnerschaftsformaten, die nicht in klassischen Familien- oder Wohnstrukturen stattfinden, sondern in offenen oder zumindest lockereren Beziehungen.
Line Dancer können auch ein Sportabzeichen erwerben
Ein ganz praktischer Vorteil besteht darin, dass niemand sich spezielles Equipment anschaffen muss, ohne die Gewissheit, dass Line Dance ihr oder ihm überhaupt zusagt. Mit einer Ausnahme: Tanzschuhe erleichtern das Gleiten über den Tanzboden und sind gewöhnlichen Turnschuhen vorzuziehen. Ansonsten genügt die Freizeit- oder Sportkleidung, die ohnehin im heimischen Kleiderschrank hängt. Bluejeans gehen immer.
Was manchen möglicherweise reizen könnte: Es lässt sich auch ein Tanzsportabzeichen für Line Dancer in Form einer Urkunde oder einer Anstecknadel erwerben. In Sportvereinen gibt es in der Regel jährliche Abnahmen durch geschulte Prüfer.
Tanzen zum Taylor-Swift-Hit „Shake It Off“
Anke Kuhlenschmidt gibt bei verschiedenen Anbietern einschlägigen Unterricht – jeden Donnerstagabend beim VfL Pinneberg. Unter ihren Teilnehmerinnen ist die abgefragte Motivationslage durchaus vielfältig. Sie reicht von den Vorzügen partnerunabhängigen Solo-Tanzens, über die Musikstile, Choreografien und die Geselligkeit bis hin zum gesundheitlichen Nutzen, sprich: dem mit den Bewegungsabläufen verbundenen Koordinations- und Gedächtnistraining. Auch genannt: die Produktion guter Laune durch Stressabbau. Ganz gemäß dem Titel des Taylor-Swift-Hits „Shake It Off“.
Auch beim Lokalrivalen SC Pinneberg sind sie längst auf den Zug aufgesprungen. Geschäftsstellenmitarbeiterin Karin Borchardt stellt fest: „Alle Sportarten, die in Verbindung mit Musik ausgeübt werden, gehen momentan durch die Decke, Latin Dance und Zumba beispielsweise.“ Und dazu natürlich die Line-Dance-Kurse, die auch Borchardt selbst regelmäßig besucht. Die Kehrseite des Andrangs: Ihr Verein vermag bis auf Weiteres keine Interessenten mehr aufzunehmen.
Beim Line Dance herrscht signifikanter Männermangel
Jenseits dessen herrscht in den einschlägigen Kursen signifikanter Männermangel. Soziologen führen dieses Defizit zum einen darauf zurück, dass sich das maskuline Geschlecht mehr von Ball- oder Kraftsportarten angezogen fühlt, zum anderen darauf, dass Frauen in späteren Lebensabschnitten oftmals beweglicher sind als ihre Lebenspartner. Kennwort: Couch Potatoe.
Einer, der die Teilhabe der Trägheit vorzieht, ist Svend Neubert. Als solitärer Mann im femininen Übungsensemble des SC Pinneberg zu performen, „das macht mir überhaupt nichts aus“, sagt der 59-jährige IT-Systemprogrammierer. „Ich bewege mich halt gern zu Musik, und Paartanz ist nicht so mein Ding.“
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Er trägt zum Anlass Jeans, kariertes Hemd und Cowboyhut, ein genormtes Outfit, das sich die gesamte Truppe zulegte, als sie für öffentliche Auftritte etwa im Rahmenprogramm beim Jahrestreffen der deutsch-amerikanischen Gesellschaft, beim Internationalen Mädchentag oder bei Weihnachtsfeiern in Seniorenheimen angefragt wurden.
Line Dance: Zu jedem Song gibt es eine eigene Choreografie
Wer härtere Herausforderungen sucht, kann sich auch mit anderen messen. Verschiedene, teils weltweit agierende Organisationen veranstalten neben lokalen und nationalen Turnieren sogar Welttitelkämpfe. Eine Deutsche Meisterschaft wird vom Bundesverband für Country- und Westerntanz ausgerichtet.
Doch auch ohne Konkurrenz und Wettstreit sollte man sich die Sache nicht allzu simpel vorstellen, denn der Line Dance unterscheidet sich von Standardtänzen vor allem dadurch, dass zu jedem einzelnen Song eigene Choreografien kreiert und einstudiert werden. Konzentration und Beharrlichkeit sind gefordert, bis die Schrittfolgen sitzen.
Wir lernen also: Beim Line Dance verhält es sich wie im richtigen Leben. Manches sieht leichter aus, als es tatsächlich ist.