Quickborn. Spätes Entdecken der Behinderung bringt zwei Frauen Klarheit. Mit ihrer Aufklärungsarbeit wollen sie nun auch anderen Menschen helfen.
- Zwei Frauen aus Quickborn erhalten erst im Erwachsenenalter die Diagnose: Autismus
- In Gesellschaft mangelt es an Wissen über die angeborene Entwicklungsstörung des Gehirns
- Mit ihrer Autismus-Spektrum-Gruppe wollen sie einen Ort des Austausches schaffen
Mitten in Quickborn: Daniela Anders und Stefanie Hamer sitzen im Esszimmer und trinken Kaffee. Die Stimmung ist gelöst. Ein Besuch in einem Café hingegen wäre für beide mit massivem Stress verbunden. Die vielen Reize würden sie anstrengen. Warum ihnen scheinbar alltägliche Aktivitäten schwerfallen, wissen sie lange nicht. Bis beide die Diagnose Autismus erhalten. Nun wollen sie mit ihrer Autismus-Spektrum-Gruppe auch anderen Autisten helfen.
Daniela und Stefanie wollen für das Thema Autismus sensibilisieren. Vielleicht auch, weil sie selbst nicht immer auf Verständnis gestoßen sind. Die beiden Frauen erhalten die Diagnose Autismus erst im Erwachsenenalter. Beide sind zu diesem Zeitpunkt schon über 30. Eigentlich stehen ihre Kinder im Fokus der Untersuchungen. „Ich habe dann ein Fachbuch gelesen und mich gefragt, warum beschreiben die mich“, berichtet Daniela.
Autismus im Erwachsenenalter: Bestätigendes Ergebnis - „Ich habe den Test gesprengt“
Nach Gesprächen und einem Test steht die Diagnose Autismus. „Ich wusste dann, dass ich richtig bin“, berichtet Daniela. Stefanie hingehen unterzieht sich weitreichenden Tests. Ihr Ergebnis ist aber eindeutig: „Ich habe den Test gesprengt.“ Die Diagnose verändert einiges in den Leben der beiden Frauen. „Ich lerne mich jetzt neu kennen“, so Daniela.
Die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störungen“ beschreibt eine angeborene Entwicklungsstörung des Gehirns. Diese kann Einfluss auf die Fähigkeit zur Kommunikation und das soziale Miteinander nehmen. „Autist ist nicht Autist“, erklärt Stefanie. Verallgemeinerungen sind schwierig, denn die Probleme unterscheiden sich grundlegend. Ausschließlich Fachärzte für Psychiatrie und Psychologie sowie Psychotherapeuten dürfen die Diagnose stellen.
Autismus: „Diagnosen zu stellen, ist eine Katastrophe“
Besonders Erwachsene sehen sich hier vor Probleme gestellt. Bis Autismus schlussendlich diagnostiziert wird, werden häufig falsche Vordiagnosen wie Angststörung oder soziale Phobie gestellt. „Diagnosen zu stellen, ist eine Katastrophe“, so Stefanie. Es fehlt nicht nur an ausreichenden Diagnosestellen. Auch lange Wartelisten mit einer Dauer von bis zu 1 1/2 Jahren erschweren die Situation.
Unterschiede zeigen sich auch in der Diagnostik. Jungen und Männer werden doppelt so häufig mit Autismus diagnostiziert wie Mädchen und Frauen. „Vor allem Teenie-Mädchen maskieren sich super, weil sie dazugehören wollen“, so Stefanie. Das Diagnoseungleichgewicht wird auch durch gesellschaftliche Geschlechtererwartungen verstärkt. „Stille Jungen gelten als nicht normal. Stille Mädchen sind halt ein bisschen schüchtern“, erklärt die Quickbornerin.
Gesellschaftlicher Druck: „Todesursache Nummer eins ist Suizid“
Ständige Anpassung und die Erwartungen der Gesellschaft wiegen schwer. Neurodivergente Menschen haben eine geringe Lebenswahrscheinlichkeit. Der Begriff Neurodiversität umfasst beispielsweise Menschen mit Dyslexie, ADHS und Autisten. Im Durchschnitt sterben neurodivergente Menschen 12 Jahre früher als neurotypische Menschen. „Todesursache Nummer eins ist Suizid. Drogenmissbrauch ist die Nummer zwei“, erklärt Stefanie.
Der Druck, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, ist enorm. „Man muss dauerhaft schauspielern, um reinzupassen“, berichtet Daniela. Werden Verhaltensweisen unterdrückt, um nicht negativ aufzufallen, wird in Fachkreisen von „Masking“ gesprochen. Das ist auf Dauer nicht nur anstrengend, sondern auch ungesund.
Mutter gibt sich hoffnungsvoll: „Man muss nur die Schule überleben, danach wird es besser“
„Die Probleme bei neurodiversen Menschen entstehen nicht zu Hause“, erklärt Stefanie. Das Zuhause sei für die meisten neurodiversen Menschen ein safe space. Die Probleme kommen aus der Gesellschaft. „Zuhause bricht es aus, wenn das Fass zum Überlaufen gebracht wurde“.
Vor allem die Zeit in Kindergarten und Schule ist anstrengend. „Man muss nur die Schule überleben, danach wird es besser“, meint Stefanie. Fehlendes Verständnis oder Wissen führen zu unangenehmen und vermeidbaren Situationen. Der Umgang mit neurodiversen Menschen ist in vielen Ausbildungen kein Thema. Überforderung ist ein Ergebnis. „Man muss das Kind als Menschen akzeptieren.“
Unmut über Fachkräfte: „Da muss jemand hin, der Ahnung von Autismus hat“
Aber auch spezifische Anlaufstellen seien nicht immer auf die Bedürfnisse von Autisten angepasst. So berichten die beiden Frauen von unangenehmen Arztbesuchen. „Da muss jemand hin, der Ahnung von Autismus hat“, so Daniela. Der unsensible und übergriffige Umgang hat seine Spuren hinterlassen. „Wenn ich nur den Ort nenne, sagt mein Sohn: Nein, da will ich nicht hin“, gesteht Daniela.
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Es fehlt an Wissen über Autismus. Fremdbestimmtheit und Änderungen in der Tagesplanung sind laut Stefanie „der Horror“. Zu wissen, was kommt, hingegen gibt Sicherheit. Dafür bedarf es nicht nur an Wissen, sondern auch an Kommunikation und Rücksicht. „Im Fernsehen ist es super, wenn Kinder anders sind. Aber in der realen Welt wollen sie das nicht.“
Auf die Bedürfnisse eingestellt: „Wir wollen ein entspanntes Feeling haben“
Abhilfe können Daniela und Stefanie mit ihrer Autismus-Spektrum-Austausch-Gruppe nicht leisten. Vielmehr ist ein Ort des Austausches, des Verstehens und des Verständnisses entstanden. „Wir wollen, dass Menschen damit nicht allein sind“, äußert Stefanie. Einmal im Monat trifft sich die Gruppe.
Mittlerweile nehmen zwischen 6 und 40 Personen an den Treffen teil. Die Gruppe ist flexibel. Auf eine vorherige Anmeldung wird bewusst verzichtet. „Keiner soll sich verpflichtet fühlen, wir wollen ein entspanntes Feeling haben“, erklärt Stefanie. Zusätzlicher Druck nach einem anstrengenden Arbeitstag oder einer reizüberflutenden Bahnfahrt soll so vermieden werden.
Vorurteile aufbrechen: „Nicht alle Autisten sind Raymond“
Der Bruch mit Vorurteilen liegt ihnen besonders am Herzen „Nicht alle Autisten sind Raymond. Nicht alle sind Überflieger.“ Um noch mehr Menschen zu erreichen, leisten die beiden Quickbornerinnen Aufklärungsarbeit bei Instagram. Dort sind sie unter dem Namen autismus_spektrum_quickborn. „Wenn es ein paar Leute erreicht, die sich noch nicht damit auseinandergesetzt haben, ist das toll.“ Die Wertschätzung, die Ihnen dort entgegengebracht wird, freut und bestätigt die beiden Frauen.
„Wir sind immer dabei, uns weiterzubilden“, erklärt Stefanie. Neue Studien und Artikel, aber auch Empfehlungen teilen die beiden nicht nur auf Instagram oder in der Autismus-Spektrum-Gruppe, sondern auch in der zugehörigen Whatsappgruppe. „Vom Barriereabbau profitieren nämlich alle.“