Quickborn/Leipzig. Wird Irmgard F. (99) doch freigesprochen? Bundesgerichtshof in Leipzig wird Urteil der Revisionsverhandlung im August verkünden.

Das Zuschauerinteresse ist groß. Vor dem Bundesgerichtshof in Leipzig hat am Mittwoch die Revisionsverhandlung im Stutthof-Prozess um die frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. (99) stattgefunden, die heute in einem Altersheim in Quickborn im Kreis Pinneberg lebt.

Das höchste deutsche Gericht war für den Revisionstermin extra in den großen Saal des Bundesverwaltungsgerichts umgezogen. Dort waren zu Befginn am Mittwochvormittag alle Zuschauerplätze besetzt.

Stutthof-Prozess: Viele Besucher dürften auf die betagte Angeklagte gewartet haben

Viele dürften auf die inzwischen 99 Jahre alte Angeklagte Irmgard F. gewartet haben. Doch die hochbetagte, ehemalige Schreibkraft im KZ Stutthof war nicht nach Leipzig gekommen. Das war auch nicht vorgeschrieben. Sie wurde durch ihre Verteidiger Wolf Molkentin und Niklas Weber vertreten.

Beide hatten Revision gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe eingelegt, das die damals 97-Jährige am 20. Dezember 2022 wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen hatte. An diesem Prozess, der von Ende September 2021 bis kurz vor Weihnachten 2022 dauerte, hatte Irmgard F. teilnehmen müssen.

Irmgard F. war am ersten Prozesstag vor dem Landgericht Itzehoe nicht erschienen

Am ersten Prozesstag war sie morgens aus ihrem Altenheim geflohen, ehe der Fahrdienst sie für den Transfer zum Gerichtsgebäude einsammeln konnte. Die auf den Rollator angewiesene Frau wurde einige Stunden später in Hamburg gefasst. Das Gericht erließ gegen sie einen Haftbefehl, der einige Tage später gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt wurde.

Seitdem ergab sich an allen Prozesstagen ein identsiches Bild. Irmgard F. wurde, in Begleitung eines Arztes, in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren. Ihre Augen versteckte sie meist hinter einer großen Sonnenbrille, den Rest des Gesichtes hinter einer FFP2-Maske. Sie blieb in dem Verfahren stumm, machte von ihrem Aussageverweigerungsrecht gebrauch.

Angeklagte schwieg im Prozess, nutzte lediglich ihr letztes Wort für eine Entschuldigung

Lediglich in ihrem letzten Wort drückte sie ihr Bedauern für die in Stutthof begangenen Verbrechen aus. „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen“.

 Die Leipziger Dienststelle des Bundesgerichtshofes, vor der der Fall der KZ-Sekretärin aus Quickborn verhandelt wird.
Die Leipziger Dienststelle des Bundesgerichtshofes, vor der der Fall der KZ-Sekretärin aus Quickborn verhandelt wird. © DPA Images | Jan Woitas

Bereits am Tag des Urteils hatten die Verteidiger Wolf Molkentin und Niklas Weber moniert, dass keine der von ihnen aufgeworfenen Rechtsfragen in der mündlichen Urteilsbegründung Erwähnung fanden. Nach Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe habe sich an dieser Auffassung nichts geändert.

Die Verteidiger warfen in der Revisionsverhandlung die Frage auf, ob die Angeklagte als junge Stenotypistin wirklich Beihilfe zu den Taten des Lagerkommandanten und anderen Haupttätern in dem KZ geleistet habe. Ihre Arbeit habe sich nicht wesentlich unterschieden von ihren vorherigen Aufgaben in einer Bank und ihrem späteren Job in einer Klinik. Sie habe „neutrale Handlungen“ verrichtet.

Stutthof-Verfahren: Im Revisionsverfahren kamen alle Beteiligten zu Wort

Auch ob ihr ein Vorsatz nachgewiesen werden kann, zogen die Anwälte in Zweifel. „Hat sich ihr tatsächlich aufgedrängt, was in dem Lager geschehen ist?“, fragte Molkentin.

Das Landgericht Itzehoe war davon ausgegangen, dass Irmgard F. durch ihre Arbeit eine „psychische Beihilfe“ geleistet hat. Der Großteil des Schriftverkehrs im KZ sei über ihren Tisch gegangen, sie habe dem Lagerkommandanten treu und ergeben gedient, ihn in seinem Tun bestärkt.

Rechtsanwalt Molkentin verwies dagegen auf die strengen Hierarchien in der Lagerverwaltung. „Es bedurfte keiner psychischen Bestärkung von unten“, sagte er. Molkentin beantragte einen Freispruch für Irmgard F. oder zumindest eine Zurückverweisung des Falls ans Landgericht, um ihn erneut zu verhandeln.

 Die Gedenkstätte Stutthof mit dem ehemaligen Kommandanturgebäude des Konzentrationslagers, wo die Angeklagte im Itzehoer Stutthof-Prozess, Irmgard F. (99), von Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin arbeitete. Im Hintergrund das nach dem Krieg wiederaufgebaute sogenannte Todestor.
Die Gedenkstätte Stutthof mit dem ehemaligen Kommandanturgebäude des Konzentrationslagers, wo die Angeklagte im Itzehoer Stutthof-Prozess, Irmgard F. (99), von Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin arbeitete. Im Hintergrund das nach dem Krieg wiederaufgebaute sogenannte Todestor. © DPA Images | Bernhard Sprengel

Der Generalbundesanwalt hatte die mündliche Verhandlung in Leipzig beantragt. Der Fall biete dem Bundesgerichtshof möglicherweise zum letzten Mal die Gelegenheit, wichtige Fragen zu klären, sagte der Sitzungsvertreter. Er erklärte, der Schuldspruch des Landgerichts Itzehoe sei gerechtfertigt.

Irmgard F. habe durch ihre Dienstbereitschaft für die Mordtaten im KZ Stutthof zur Verfügung gestanden. Er plädierte darauf, die Revision der Angeklagten zu verwerfen.

Anwältin eines Nebenklägers verliest Erklärung ihres Mandanten

Das forderten auch die Anwälte der noch verbliebenen 23 Nebenkläger – zwischenzeitlich waren es 30 Nebenkläger – in dem Verfahren. Die Anwältin eines inzwischen 96 Jahre alten Nebenklägers verlas am Ende der Verhandlung eine Erklärung des in Israel lebenden Mannes.

Das KZ Stutthof sei in der Zeit, in der er dort inhaftiert war, ein monströses Vernichtungslager gewesen, hieß es darin. „Diejenigen, die behaupten, sie hätten nur Anweisungen befolgt, sind meiner Meinung nach Komplizen der Vernichtungsmaschinerie.“ Er wünsche sich, dass die Angeklagte einen Fehler eingestehe und Bedauern äußere.

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Das Landgericht Itzehoe war in dem spektakulären Verfahren – einem der letzten seiner Art – zu der Überzeugung gelangt, dass die Angeklagte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur des KZ Stutthof die Haupttäter willentlich dabei unterstützt habe, Gefangene durch Vergasungen, durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten oder dies versucht zu haben.

Stutthof-Prozess: Urteil des Bundesgerichtshofs am 20. August

Ihre Arbeit war nach Meinung der Richter für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig gewesen. Weil Irmgard F. zur Tatzeit 18 beziehungsweise 19 Jahre alt und damit Heranwachsende war, hatten die Richter das Jugendstrafrecht angewandt.

Das Urteil des Bundesgerichtshofs konnte nicht am Mittwoch erfolgen, da sich die Richter im Anschluss an den Termin umfassend austauschen und beraten müssen. Der Vorsitzende Richter hat am Ende der Verhandlung angekündigt, das Urteil am 20. August verkünden zu wollen. (mit Material von dpa)