Quickborn/Itzehoe/Leipzig. Landgericht Itzehoe hat Irmgard F. im Dezember 2022 schuldig gesprochen. Warum sich nun der Bundesgerichtshof mit dem Fall befasst.
Der Stutthof-Prozess – er kommt vor das höchste deutsche Gericht: Am Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof in Leipzig über den Einspruch der als KZ-Sekretärin bekannt gewordenen Irmgard F. aus Quickborn. Die mittlerweile 99-Jährige war am 20. Dezember 2022 vom Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen worden.
Die Richter hatten die betagte Angeklagte, die von 1943 bis 1945 rechte Hand des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig war, wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und fünf Fällen des versuchten Mordes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt – ausgesetzt zur Bewährung
Stutthof-Prozess: Verteidiger hatten fristgerecht Revision eingelegt
Bereits am Tag des Urteils hatten die Verteidiger Wolf Molkentin und Niklas Weber moniert, dass keine der von ihnen aufgeworfenen Rechtsfragen in der mündlichen Urteilsbegründung Erwähnung fanden. Dies betreffe die aus Sicht der Verteidiger problematische Rolle des historischen Sachverständigen Stefan Hördler sowie den Ortstermin im KZ Stutthof außerhalb der Hauptverhandlung, dessen Ergebnisse die Juristen für nicht verwertbar hielten.
Sie legten daraufhin fristgerecht Revision ein. Nach Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe hat sich an der Auffassung der Verteidigung nichts geändert. Molkentin und Weber sehen nach wie vor die wesentlichen Rechtsfragen als ungeklärt an. Diese Position wurde durch den Generalbundesanwalt gestützt.
Generalbundesanwalt: Revision der Angeklagten „werfe grundsätzliche Fragen auf“
Der hat die Revision nicht wie häufig üblich als unbegründet zurückgewiesen, sondern selbst einen Termin zur Revisionshauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof beantragt. Laut dem Generalbundesanwalt werfe die Revision der Angeklagten „grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord durch die Dienstverrichtung in einem Konzentrationslager, das nicht zugleich ein reines „Vernichtungslager“ gewesen sei, auf“.
Der zuständige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ist dem Antrag des Generalbundesanwalts gefolgt. Laut der Verteidigung „besteht also insoweit Einigkeit darüber, dass die mit der Revision aufgeworfenen Fragen einer grundsätzlichen Klärung zugeführt werden sollen“.
Dazu habe der Senat allen Beteiligten einen Fragenkatalog übersandt, an dem sich das Rechtsgespräch in der Revisionshauptverhandlung orientieren wird. Diese beginnt am 31. Juli um 10 Uhr im Großen Sitzungssaal des Reichsgerichtsgebäudes (Sitz des Bundesverwaltungsgerichts) in Leipzig.
Die betagte Angeklagte muss an dem Termin nicht teilnehmen und wird es auch nicht tun. Er dient in erster Linie dazu, dass die Beteiligten ihre Rechtspositionen austauschen. Eine Entscheidung wird am Mittwoch noch nicht verkündet. Der Bundesgerichtshof nennt zwei mögliche Verkündungstermine – den 6. oder den 20. August.
Stutthof-Prozess: Muss das Landgericht Urteil gegen KZ-Sekretärin nachbessern?
Die Richter des 5. Strafsenats können das Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe bestätigen, in dem sie die Revision der Angeklagten letztlich zurückweisen. Oder sie können der Revision folgen und das Urteil der Vorinstanz ganz oder teilweise aufheben. In diesem Fall müsste eine andere Kammer des Landgerichts Itzehoe nachbessern.
Sollte dies der Fall sein, dürfte es keine Wiederholung der aufwendigen Beweisaufnahme geben. Es geht dann lediglich um die Höhe der Strafe – oder um die Möglichkeit eines Freispruchs. Die Beweisaufnahme hatte 41 Prozesstage in Anspruch genommen, das Verfahren dauerte von September 2021 bis kurz vor Weihnachten 2022. Das Landgericht hatte für das Mammutverfahren, dem sich 30 Nebenkläger angeschlossen hatten, extra einen Gerichtssaal angemietet, der groß genug für die Vielzahl der Beteiligten war.
Irmgard F. schwieg im Prozess. In ihrem letzten Wort drückte sie ihr Bedauern aus
Acht Nebenkläger sagten vor Gericht persönlich aus, die meisten aufgrund ihres Alters per Videovernehmung. Nur einer konnte persönlich in Itzehoe erscheinen. Teile des Gerichts reisten extra nach Stutthof, um sich die dortige Gedenkstätte anzusehen, die auf dem Gelände des Konzentrationslagers entstanden ist.
Irmgard F. hatte in dem Prozess von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Lediglich in ihrem letzten Wort drückte sie ihr Bedauern für die in Stutthof begangenen Verbrechen aus. „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen“.
Die beiden Verteidiger hatten am Ende des Verfahrens einen Freispruch gefordert, weil aus ihrer Sicht Zweifel blieben. Für eine Verurteilung sei ein Vorsatz seitens der Angeklagten erforderlich, dieser sei jedoch nicht zweifelsfrei festzustellen gewesen. Über die genaue Tätigkeit von Irmgard F. in der Kommandantur des Konzentrationslagers sei nur wenig Konkretes herauszufinden gewesen. Auch sei unklar geblieben, welche Kenntnisse die damals 18- beziehungsweise 19-jährige Frau tatsächlich über die Gräueltaten im Lager hatte.
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„Das Landgericht hat zu Unrecht angenommen, dass sich der Fall bruchlos in die jüngere Rechtsprechung zu NS-Beihilfetaten einordnen lässt“, sagt Verteidiger Wolf Molkentin kurz vor der Revisionsverhandlung. Und er sagt weiter: „Das Ergebnis der Beweisaufnahme macht es aber erforderlich, die Maßstäbe weiterzuentwickeln. Dies gilt für das in den Urteilsgründen zentrale Konstrukt ‚psychische‘ Beihilfe und namentlich die Anforderungen an eine vorsätzliche Beteiligung durch sogenannte neutrale Handlungen.“
Molkentin bezeichnet diese aus seiner Sicht notwendige Weiterentwicklung als „Rechtsfortbildung“. Diese unterstreiche den Wert des langwierigen Verfahrens – auch für die Angeklagte und ihre Familie. Molkentin: „Wenn das Ergebnis nicht Freispruch lautet, wird so zumindest die Verurteilung besser nachvollziehbar.“
Das Landgericht Itzehoe war in dem spektakulären Verfahren – einem der letzten seiner Art – war zu der Überzeugung gelangt, dass die Angeklagte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur des KZ Stutthof die Haupttäter willentlich dabei unterstützt habe, Gefangene durch Vergasungen, durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten oder dies versucht zu haben.
Stutthof-Prozess: Hochbetagte Angeklagte wird nach Jugendstrafrecht verurteilt
Ihre Arbeit war nach Meinung der Richter für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig gewesen. Weil Irmgard F. zur Tatzeit 18 beziehungsweise 19 Jahre alt und damit Heranwachsende war, hatten die Richter das Jugendstrafrecht angewandt. Dies wurde möglich, weil Reifeverzögerungen bei der Angeklagten zum Zeitpunkt der Taten zumindest nicht ausgeschlossen werden konnten.