Halstenbek. Extremradler Martin Moschek ist das Silk Road Mountain Race durch Kirgistan gefahren. Was er unterwegs erlebt hat.
„Die sind wirklich wie tot. Gucken dich wie tot an.“ Wenn Martin Moschek so etwas erzählt, denkt er an die bislang härtesten Wochen seines Lebens zurück. An andere, die das Gleiche getan haben wie er: Der Halstenbeker, den als Extremradfahrer zu bezeichnen durchaus angemessen erscheint, hat am Silk Road Mountain Race 2021 in Kirgistan teilgenommen. Es gilt als das aktuell weltweit anspruchsvollste Bikepacking-Fahrradrennen. Moschek ist am Ziel angekommen. Die so tot aussahen nicht – ausgeschieden wegen Lebensmittelvergiftung. Und das ist beileibe nicht die einzige Gefahr auf dieser abenteuerlichen Radwanderung.
14 Tage lang abseits der Zivilisation Rad fahren. Zeitweise eher vom Rad gerädert werden. Wenn es nötig wird, das Gefährt samt jeglichen Gepäcks eine Piste mit 30 Prozent Steigung hochstemmen. 14 Tage lang hohen Risiken ausgesetzt sein, physische Schmerzen spüren, an Orten sein, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gibt. 14 Tage lang mit der Gewissheit leben, dass es jeden Augenblick vorbei sein könnte. Wer tut sich das an? Moschek, 46 Jahre alt, macht es. Es war sein Sommerurlaub.
„Sich selbst beweisen, dass man es schafft“
Aber warum? „Genau darum“, sagt Moschek, der beruflich als Kommunikationsleiter bei einem großen Softwareentwickler arbeitet. „Es ist dieses Gefühl, dass einen jeden Augenblick theoretisch alles erwarten kann, dieses sich physisch komplett selbst zu zerstören, aber am eigenen Leib zu erfahren, dass es trotzdem weitergeht. Sich selbst zu beweisen, dass man das schafft“, erklärt der Halstenbeker das für viele Menschen wahrscheinlich Unerklärliche.
Mit einer Kaffeetasse in der Hand sitzt er beim Gespräch, wirkt trotz seines beruflichen Erfolges in sich ruhend und geerdet. Ursprünglich kommt er aus Leipzig, zieht später in den Norden, nach Hamburg. Nun lebt er seit circa zehn Jahren mit seiner Frau Jessica und den beiden Söhnen, Rasmus (13) und Erik (10) in Halstenbek. Mit ihnen habe er ein sehr unterstützendes Umfeld, was sein ungewöhnliches Hobby angeht, sagt er. Während andere mit der Familie entspannt in der Sonne am Strand liegen und mit den Kleinen Sandburgen bauen, klettert er mit dem Rad bei Schneestürmen durch asiatische Hochgebirge. „Das Ganze, nicht nur die Fahrradtour, auch die Trainingszeit im Vorlauf, ist natürlich eine große Belastung vor allem für meine Frau, die dann mit den beiden Knalltüten allein ist. Aber sie war da eine ganz wunderbare Unterstützung, wofür ich ihr auch unendlich dankbar bin“, sagt er.
Schon 53 Länder mit dem Rad bereist
Seine Leidenschaft fürs Radfahren kommt nicht von ungefähr. Schon in seiner Jugend betreibt er professionellen Radsport, in der damaligen DDR noch im Kader. Seit der Wendezeit reist er kreuz und quer durch die Welt, befährt mit seinem Fahrrad 53 Länder – rollt unter anderem durch Patagonien, die Sahara und den Himalaya. Seine Faszination fürs Biketracking gewinnt er auf einem Fahrradrennen durch die Toskana, das ihn zu weiteren ähnlichen Touren inspiriert. Auch am Atlas Mountain Race hat er teilgenommen. Und eben jetzt am Silk Road Mountain Race, kurz SRMR. An seiner Seite: Teampartner Tobias Köpplinger aus Würzburg.
1800 Kilometer führt der Trail des SRMR durch Kirgistan. Das kleine Land an der Seidenstraße ist bekannt für seine malerischen, aber kargen, felsigen Landschaften. Es liegt in Zentralasien, umgeben von China, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan. Das Land liegt im Hochgebirge des Tian Shans – mehr als 90 Prozent der Landoberfläche befinden sich oberhalb von 1500 Metern über dem Meeresspiegel. Das Relief ist gebirgig, unwegsam, der Trail führt über steile, steinige Pisten, felsige Abhänge und 16 Pässe, die teilweise auf einer Höhe von mehr als 4000 Metern über dem Meeresspiegel liegen. Das Gelände ist eine Herausforderung, doch zugleich auch Grund für die Wahl der Route.
Hinzu kommt das wechselhafte Wetter in der Region, das von einer Sekunde auf die andere umschlagen kann. Mit plötzlichen Schneestürmen ist im August mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Es kann im Laufe der Strecke zu Temperaturschwankungen von bis zu 59 Grad kommen – die Temperaturen können sich zwischen minus 15 und plus 44 Grad Celsius bewegen. Für die Strecke bleibt den Teilnehmern eine Zeitspanne von knapp 15 Tagen. Wer länger braucht, hat offiziell nicht bestanden, was allerdings keine Katastrophe ist, denn die ganze Veranstaltung ist laut Martin Moschek unkommerziell. Es geht um kein Preisgeld oder ein Abschlusszertifikat, auch wenn die Gewinner des Rennens oftmals in der Biker-Szene bekannt sind und Sponsoren haben.
Andere kaufen sich eine Harley, Moschek ein Rad
Die Fahrer fahren im Durchschnitt circa 120 Kilometer täglich, eine Strecke, die aufgrund des Geländes teilweise schier unmöglich zu schaffen ist. Sie sind entweder im Team oder allein im Selbstversorgermodus unterwegs. Das bedeutet dann: Jegliche Hilfe von außen ist untersagt. Das Extremradrennen ist nicht ohne Grund das aktuell härteste der Welt.
Ein weiterer Grund für Martin Moscheks Antritt zum Radrennen: „Irgendwann kommt man als Mann an einen Punkt in seinem Leben, an dem man wissen möchte, was noch geht“, erklärt der 46-Jährige. „Manche Leute kaufen sich da vielleicht eine Harley Davidson, bei mir ist das nun mal das Fahrrad.“
Um herauszufinden, was bei ihm geht, trainiert Moschek ein Jahr lang. Er verausgabt sich auf seinem Smart-Trainer im Keller, fährt in Schlamm, Regen und Schnee Strecken mit dem Rad – insgesamt etwa 300 Stunden.
Rad und Ausrüstung kosten 12.000 Euro
Am 13. August geht es dann los, in Talas, einer mittelgroßen Stadt im Nordwesten Kirgistans, die 1249 Meter hoch liegt. 98 Teilnehmer stehen am Start. Das sind verhältnismäßig wenige im Vergleich zu den vorherigen Rennen mit 160 Teilnehmern, das Rennen 2020 ist wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. Die SRMR 2021 ist die dritte ihrer Art. Martin Moschek und Tobias Köpplinger sind, da sie als Paar teilnehmen, mit denselben Nummern 212 A und 212 B versehen.
Der Spaß ist nicht günstig. Zu den Flugtickets kommen circa 6000 Euro für das Rad und noch einmal soviel für die Ausrüstung. Die 6000 Euro für die Ausrüstung sind allerdings seiner Hobbyleidenschaft zu verschulden, gibt er zu. Da komme man auch deutlich günstiger weg. Die Teilnahme am Rennen selbst kostet nur circa 300 Euro.
Schon gleich zu Beginn, am ersten Tag des Rennens, steht eine der größten Herausforderungen an: der Terek Pass muss bewältigt werden, das bedeutet eine Stecke von 50 Kilometern, auf der die Radfahrer einen Höhenaufstieg auf 2100 Meter schaffen müssen. Vor ihnen liegen zwei Wochen voller Entbehrungen. Und die Gewissheit an einem jeden Morgen, wieder einen 3000er mit dem Fahrrad erklimmen zu müssen.
Die Teilnehmer sind eine eingeschworene Gemeinschaft
Zu Beginn sehen die Teilnehmer einander noch häufig, im Laufe des Rennens wird das immer weniger. Die Abbruchrate auf der SRMR beträgt 60 Prozent – mehr als die Hälfte der Teilnehmer werden aufgrund von technischen, körperlichen oder psychischen Schwierigkeiten vorzeitig abbrechen müssen. Zwischen den Teilnehmern herrscht vielleicht gerade deshalb und natürlich wegen des fehlenden Preises kein Konkurrenzkampf. „Wir freuen uns über jeden, der es schafft, und trauern mit jedem, der frühzeitig aufgeben muss“, sagt Martin Moschek.
Er beschreibt die Extremradfahrer der SRMR als einen eingeschworenen Kreis. Die Gruppe der Teilnehmer scheint von außen betrachtet wie eine exklusive, weltweite Radfahrer-Community, die sich den Spaß, wenn man das so bezeichnen will, eben leisten kann. Viele der Teilnehmer kennen einander schon von vergangenen Rennen, mehr als 35 Nationen sind vertreten.
Mit den Einheimischen gibt es kaum Begegnungen. Nur von der Ferne ist ab und an ein Hirte mit einer Schafs- oder Pferdeherde zu sehen. Oder natürlich beim Einkaufen, wenn die Radfahrer vor den Nasen der verwunderten Verkäufer Unmengen an kalorienhaltigen Lebensmitteln aus den Geschäften hinausschleppen.
Selbstmotivation ist wichtig – und schwierig
Die Selbstmotivation ist unglaublich wichtig und der schwierigste Teil des Rennens. Zum Glück ergänzt sich das Duo Moschek/Köpplinger da ganz gut. Wenn einer kurz vor dem Aufgeben ist, macht der andere Mut, die gegenseitige Unterstützung macht das Rennen immens viel leichter.
„Die mentale Erschöpfung war eindeutig die größte Herausforderung, teilweise dachte ich einfach nur: Universum, bitte gib mir einen Grund aufzugeben, im Sinne von: Bitte lass irgendetwas passieren, damit ich nicht weitermachen muss. Ein technischer Schaden beispielsweise. Aber alle Schäden, die mir einfielen hätte ich selbst reparieren können“, sagt Moschek. Folglich bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiterzumachen.
An der chinesischen Grenze stehen Puppen auf Wachtürmen
Einer der härtesten Tage ist für Martin Moschek die Bewältigung eines Abschnittes der „Old Sowjet Road“, einer alten sowjetischen Militärpiste. „Wir fuhren eine schier endlose Sandpiste entlang, die Bergkulisse im Hintergrund, die Monotonie der Umgebung und die Unwetter, die man am Horizont buchstäblich heraufziehen sah. Dann regnete es kurz, und innerhalb von Minuten war das Ganze vorbei. Und dann immer in regelmäßigen Abständen diese Wachtürme. Wir waren in direkter Nähe zum chinesischen Grenzgebiet, auf den Wachtürmen standen Puppen, die wohl Leute davon abschrecken sollten, die Grenze zu überqueren. Die ganze Situation war mental einfach unglaublich fordernd und in Kombination mit der physischen Belastung schwer zu ertragen.“
Knapp wird es auch vor einem der Kontrollpunkte, die entlang der Route aufgestellt sind. Kurz vor dem Checkpoint bricht Tobias Köpplingers Sattelstütze, ein irreversibler technischer Defekt… „Wir dachten, jetzt wäre es vorbei“, schildert Martin Moschek. Und dann das: Ein Teilnehmer scheidet genau an diesem Checkpoint aus und überlässt ihnen die Sattelstütze seines Rades. Es ist einer von denen mit der Lebensmittelvergiftung…