Schackendorf. Parisa Hamdard soll von der Segeberger Ausländerbehörde nach Griechenland abgeschoben werden. Warum die Situation eskalierte.

In Deutschland leben mehr als 200.000 ausreisepflichtige Personen, also Männer, Frauen und Kinder, die keinen Aufenthaltstitel (mehr) haben. Abgeschoben wurden bundesweit im vergangenen Jahr etwa 16.500 Menschen, in diesem Jahr waren es im ersten Halbjahr knapp 10.000. In Schleswig-Holstein sind laut Flüchtlingsrat aktuell 9200 Personen geduldet und 1244 Personen „vollziehbar ausreisepflichtig“.

Das sind nüchterne Zahlen, hinter denen viele – oft sehr traurige – Einzelschicksale stehen, wie ein Beispiel aus dem Kreis Segeberg deutlich macht. Und das Beispiel, bei dem es um eine junge Afghanin geht, macht auch deutlich, dass die Ausländerbehörden der Landkreise, die für die Umsetzung der Abschiebungen zuständig sind, oft überfordert sind und deshalb vom Land die Übernahme der Abschiebungen verlangen.

Die Kreise, so die Argumentation der Landräte, könnten die Abschiebepraxis nicht mehr leisten, die Aufgaben von rechtlicher Beratung über Hilfestellung bis zur Abschiebung seinen zu komplex, qualifiziertes Personal wenig vorhanden.

33 Jahre alte Afghanin floh vor den Taliban

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht Parisa Hamdard: Sie sollte nach Griechenland abgeschoben werden, denn dort hat die 33-jährige Afghanin zum ersten Mal auf ihrer Flucht vor der Terror-Regierung der Taliban europäischen Boden betreten und einen Asylantrag gestellt. Folglich könnte sie nach geltender Rechtslage von den deutschen Behörden nach Griechenland zurückgeschickt werden, da ihr Erst-Asylantrag ihr dort das Bleiberecht sichert.

Doch Parisa Hamdard reiste 2016 weiter zu ihrer Mutter Nafise Asefi, zu ihrer Familie nach Schackendorf im Kreis Segeberg. Mutter und Schwester haben eine Aufenthaltsgenehmigung, ihre Nichte hat die deutsche Staatsbürgerschaft.

Abschiebung: In Schackendorf kam es zur Tragödie

Für Donnerstag, 5. September, bestellte die Behörde für Ausländer- und Asylangelegenheiten des Kreis Segeberg die am 3. September 1991 geborene Frau ins Segeberger Amt. Und wollte sie direkt von dort weiterschicken nach Griechenland. Mit der Polizei geleiteten Behördenmitarbeitende sie zur Wohnung in Schackendorf, um Dokumente und notwendige Utensilien einzupacken.

In Schackendorf kam es zur Tragödie: Die 70-jährige Mutter, die auf Parisa Hamdards Betreuung angewiesen ist, stellte sich den Polizisten in den Weg. Die Nachbarschaft sah erschüttert zu. „Es waren drei Polizeiautos hier, zwei Krankenwagen und zwei Fahrzeuge mit dunklen Scheiben“, sagt Nachbarin Christiane Stock dem Abendblatt. Ein Mann mit einem weinenden Kind auf dem Arm erzählte, dass Parisa abgeschoben werden solle.

Abschiebung: Afghanin kollabiert, wird vom Notarzt behandelt und trotzdem abgeführt

„Die alte Dame lag auf einem Kieselstein-Beet, schrie und weinte, man hat sie fixiert mit Handschellen“, sagt Christiane Stock unter Tränen. Derweil sei Parisa Hamdard kollabiert, vom Notarzt behandelt und trotzdem abgeführt worden. „Das ist unmenschlich, Leute mit Messern lassen sie laufen, unschuldige Menschen werden abgeführt. Und Parisa, die seit sieben Jahren hier in ordentlichen Verhältnissen lebt, engagiert sich sogar ehrenamtlich bei der Segeberger Tafel“, ergänzte Christiane Stock zutiefst schockiert.

„Wir sind entsetzt“, sagt auch Kirsten Tödt, Vorsitzende der Segeberger Tafel. Parisa Hamdard habe seit drei Jahren zweimal pro Woche ehrenamtlich bei der Tafel gearbeitet, Gemüse geputzt, Ware sortiert, bei sprachlichen Schwierigkeiten übersetzt. „Die Tafel steht hundertprozentig hinter Parisa, wir brauchen sie dringend zurück“, fordert Kirsten Tödt.

Schackendorfs Bürgermeister findet das Verhalten der Behörde „grenzwertig“

Schackendorfs Bürgermeister Alexander Scheffler fand das Verhalten der Behörde „grenzwertig“. Er hat Parisa Hamdard die Bescheinigung ausgestellt, dass sie als Schackendorfer Bürgerin im Ort akzeptiert sei. Der Brief liegt dem Abendblatt vor.

Die Behörden fuhren Parisa Hamdard offenbar zum Frankfurter Flughafen. Dort kollabierte sie erneut. Der Flugkapitän weigerte sich, sie in die Maschine nach Athen zu lassen. Motto: Wer nicht freiwillig fliegt, fliegt gar nicht. Die Bundespolizei ließ Parisa Hamdard offenbar einfach auf dem Flughafen stehen. Erst ihre Familie soll ihr ein Bahnticket zurück nach Schackendorf organisiert haben. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, laut Nachbarn ins Krankenhaus Rickling. Doch auch von dort kann sie jederzeit abgeschoben werden. Das Schreiben dazu, offenbar prophylaktisch ausgestellt, habe ihr die Segeberger Behörde bereits in Frankfurt überreicht. Wie es der jungen Frau zurzeit geht – darüber kann man momentan nur spekulieren.

Ausländerbehörden der Kreise müssen die Abschiebungen umsetzen

„Der Kreis Segeberg ist bei Entfall der Ausreisehindernisse rechtlich gehalten, einen weiteren Versuch durchzuführen“, schreibt Kreis-Pressesprecherin Sabrina Müller auf Anfrage des Abendblatts.

In einem vorigen Schreiben heißt es, Parisa Hamdard sei „keine Flüchtlingsbewerberin, sondern ein dort (in Griechenland) anerkannter Flüchtling mit Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht“. Und weiter: „Eine Abschiebung ohne eine Zustimmung der griechischen Behörden ist ausgeschlossen.“

Außerdem teilt die Behörde mit: „Inhaltliche Entscheidungen über innereuropäische Ausreiseentscheidungen trifft ausnahmslos das Bundesamt. Ausländerbehörden haben hier kein Mitspracherecht und erhalten vom Bund den Auftrag, diese Entscheidungen umzusetzen. Die Ausländerbehörde des Kreises Segeberg bleibt nach einem Scheitern daher weiterhin für die Umsetzung der Abschiebemaßnahme zuständig. Parisa Hamdard bleibt vollziehbar ausreisepflichtig.“

Wenn Parisa Hamdard wieder reisefähig ist, droht weiterhin die Abschiebung

Angebote auf eine freiwillige Ausreise habe sie nicht angenommen. „Sobald die gesundheitliche Verfassung einer Ausreise nicht mehr entgegensteht, ist es die gesetzliche Verpflichtung der Ausländerbehörde, die Ausreisebemühungen zur Umsetzung der Weisungsaufgabe fortzusetzen bzw. wieder aufzunehmen.“ Im Klartext: Ist Parisa Hamdard reisefähig, wird sie abgeschoben.

Vom Sozialministerium Schleswig-Holstein heißt es: „Die Ausländerbehörde wollte mit der Maßnahme geltendes Recht vollziehen. Vollziehbar ausreisepflichtige Personen sind – wie im vorliegenden Fall – nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise abzuschieben“, schreibt Patrick Tiede, Sprecher des Ministeriums.

Rechtsberater Axel Meixner vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein schreibt dazu: „In Schleswig-Holstein gibt es seit August 2023 einen ministeriellen Erlass, wonach ein stationärer Aufenthalt im Regelfall ein Abschiebungshindernis darstellt.“ Außerdem müssten die Ärzte konsultiert werden.

Flüchtlingsrat spricht von übermäßig restriktivem Vorgehen der Segeberger Behörde

Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein, attestiert der Segeberger Ausländerbehörde ein seit mindestens 20 Jahren übermäßig restriktives Vorgehen: „Wenn die Ausländerbehörde des Kreises Segeberg einen erneuten Abschiebungsversuch unternehmen wird, ist das skandalös, ein Armutszeugnis für eine Fachaufsicht beim zuständigen Sozialministerium, der es offenbar nicht gelingt, ein rechtskonformes und dem eigenen Beratungserlass entsprechendes Verwaltungshandeln im Kreis Segeberg durchzusetzen.“

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Im Kreis Segeberg wurden in diesem Jahr bereits etwa 15 Personen abgeschoben

„Sollte die Behörde diese Rechtslagen weiter ignorieren, sollte die Härtefallkommission diesen Fall an sich ziehen, um zunächst zu verhindern, dass die Segeberger Bürokratie irreversible Fakten schafft“, rät Martin Link.

Zahlen über Asylbewerbende für den Kreis Segeberg gebe es nicht. Allerdings seien in diesem Jahr bis jetzt etwa 15 Personen in der Zuständigkeit des Kreises Segeberg abgeschoben worden, 2023 seien es etwa 25 Menschen gewesen.