Norderstedt/Kaltenkirchen. Diagnose NCL: Junge aus Kaltenkirchen ist todkrank und lebt schon länger, als Ärzte es erwartet hatten. Seiner Mutter hilft der Glaube.
- Saeed bekam die Diagnose im Alter von eineinhalb Jahren
- Laufen konnte er noch nie. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen
- Der 10-Jährige besucht dreimal die Woche die Schule am Hasenstieg in Norderstedt
Diesen Tag im August 2015 wird Kada Saeed niemals vergessen. Den Tag der Diagnose. Die damals 22-Jährige aus Norderstedt wartete zusammen mit ihrer Mutter, die sie ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) begleitete, in einem Besprechungsraum im Erdgeschoss. Auf ihrem Schoß saß ihr eineinhalb Jahre alter Sohn Saeed. Er schrie. Hörte einfach nicht auf, zu weinen. So als wüsste er, dass die Ärztin seiner Mutter gleich eine Diagnose mitteilen würde, die das Leben der Familie, vor allem aber seines, für immer veränderte.
„Ihr Sohn hat NCL“, sagte die Ärztin schließlich. Auf ihrem Gesicht lag ein mitfühlender Blick. „Warum guckt sie mich so traurig an?“, fragte sich Kada Saeed in diesem Moment. NCL – davon hatte sie noch nie zuvor gehört. Sie wusste nicht, was sich hinter dem medizinischen Fachbegriff „Neuronale Ceroid-Lipofuszinose 1“ verbarg. Sie hatte keine Ahnung, was Kinderdemenz, wie die Erkrankung umgangssprachlich genannt wird, war. Und was mit ihrem Kind in den nächsten Monaten und Jahren passieren würde.
NCL: Etwa 700 Kinder in Deutschland sind unheilbar erkrankt
Die Großmutter verließ das Zimmer mit dem brüllenden Enkelkind. Saeed ließ sich nicht beruhigen. Sein Weinen hallte durch den Flur, drang durch die geschlossene Tür. Dahinter saß Kada Saeed. Sie blieb im Raum zurück. Ratlos. „Und was bedeutet das jetzt? Muss er Tabletten nehmen?“, fragte sie. Dann sagte die Ärztin den Satz, der der jungen Mutter das Herz zerriss. Es nicht nur in zwei teilte, sondern in Tausend kleine Stücke zerspringen ließ: „Für diese Erkrankung gibt es keine Heilung.“
Keine. Heilung. Die beiden Worte kreisten endlos durch ihren Kopf. Keine. Heilung. Dann realisierte sie: „Oh mein Gott, mein Kind stirbt!“ Der Raum fing an, sich zu drehen. Die Erklärungen der Ärztin, alles, was sie über diese tödliche Krankheit erzählte, nahm Kada Saeed nicht mehr richtig wahr. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wie sie damals nach Hause gekommen ist. Nur, dass sie sich ins Bett legte und anfing zu googeln. Alles las über NCL. Diese kaum bekannte, seltene Stoffwechselerkrankung, die durch eine Genmutation verursacht wird. Laut der NCL-Stiftung sind in Deutschland rund 700 Kinder erkrankt.
Die Krankheit NCL
Die Neuronale Ceroid-Lipofuszinose (kurz: NCL) ist eine seltene Stoffwechselerkrankung, die durch eine Genmutation hervorgerufen wird. Der Fehler im Erbmaterial führt dazu, dass sich ein wachsartiger Stoff in den Nervenzellen ansammelt und nicht abgebaut werden kann. Als Folge sterben die Nervenzellen ab. Besonders betroffen sind jene im Gehirn und von der Netzhaut im Auge. Deswegen entwickeln Kinder, die an NCL erkrankt sind, häufig zuerst eine Sehschwäche.
Umgangssprachlich wird die Erkrankung auch Kinderdemenz genannt. Sie wird von Eltern vererbt, die in der Regel nicht selbst erkrankt sind. Sie tragen neben der gesunden Erbanlage auch eine fehlerhafte in sich. Wird von beiden Elternteilen die fehlerhafte Anlage weitervererbt, erkrankt das Kind. Die Wahrscheinlichkeit liegt laut Bundesärztekammer bei 1 zu 4.
Es sind mehr als zehn verschiedene NCL-Formen bekannt. Einige Formen treten schon bei Säuglingen auf, andere erst bei Schulkindern oder gar jungen Erwachsenen. Die Krankheitszeichen sind bei allen ähnlich: Die Sehkraft verschlechtert sich bis zur Blindheit. Bereits erlernte Fähigkeiten wie Sprechen, Lesen oder Rechnen gehen wieder verloren. Die Muskeln werden schwächer und die Kinder können nicht mehr laufen. Auch Kauen und Schlucken fallen zunehmend schwerer. Ein typisches Symptom sind außerdem epileptische Anfälle.
NCL ist bisher nicht heilbar. Die Lebensdauer ist je nach Form stark verkürzt. Laut NCL-Stiftung versterben die Patienten im Alter zwischen 20 und 30 Jahren.
Zunächst entwickelte sich Saeed als Baby ganz normal
Das ist nun neun Jahre her. Solange weiß Kada Saeed schon, dass das Leben ihres Kindes anders verlaufen wird, als sie es sich gewünscht hätte. Dass es viel früher enden wird, als sie es je für möglich gehalten hätte. „Das war so schmerzhaft“, sagt sie heute. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, wenn sie von dem Tag der Diagnose erzählt und gedanklich an den Ort zurückkehrt. „Die Liebe zu seinem Kind ist mit nichts auf der Welt vergleichbar. Ich würde für mein Kind sterben, wenn ich könnte“, sagt sie. Tränen kullern über ihre Wangen. Die junge Frau, inzwischen 31 Jahre alt, wischt sie schnell weg. „Entschuldigung“, sagt sie dann und lächelt.
In den ersten Monaten nach seiner Geburt entwickelte sich Saeed ganz normal. Seine Mutter zeigt Videos auf dem Handy, auf denen er beim Spielen zu sehen ist. Und wie er in seinem Babystuhl sitzt und strahlt. Er wirkt aufgeweckt. Sein fröhliches Lachen ist ansteckend. „Er war ein sehr glückliches Kind“, sagt sie.
Erste Symptome traten im Alter von sechs Monaten auf
Die ersten Symptome der Krankheit traten im Alter von sechs Monaten auf. Saeed blieb einfach an dem Platz sitzen, an dem ihn seine Mutter abgesetzt hatte. Er krabbelte nicht. Erkundete nicht wie andere Kinder seine Umgebung. Kada Saeed ging mit ihrem Sohn zum Kinderarzt: „Irgendwas stimmt mit meinem Kind nicht.“ Doch sie wurde nicht ernst genommen, berichtet sie. Der Mediziner schickte sie weg. Wieder und wieder. Erst auf Drängen verordnete er Saeed Physiotherapie. Und tatsächlich fing er an zu krabbeln. Endlich. Seine Mutter war erleichtert. Doch das Gefühl hielt nur für kurze Zeit. Denn wenig später verlernte er, eigenständig zu essen.
Es folgten Monate der Diagnostik und des Wartens. Eine schwere Zeit, in der Kada Saeed alleinerziehend war. Der Vater des Kindes stammt ebenso wie sie selbst aus dem Irak und arbeitet seit Jahren in seinem Heimatland. Für wichtige Termine flog er nach Deutschland. Allein war sie aber nie. Die junge Irakerin lebt derzeit bei ihren Eltern im Haus in Kaltenkirchen, auch ihre Schwester und ihr Bruder sind an ihrer Seite und unterstützen sie bei der Pflegearbeit. Kada Saeed ist rund um die Uhr für ihren kranken Sohn da. Das ist ihr Vollzeit-Job. Einen anderen hat sie nicht.
NCL-Kinder verlieren wichtige Lebensfunktionen
Nach der Diagnose hat Saeed fast vier Jahre lang nicht mehr gelacht, erzählt sie. Als er zum ersten Mal wieder grinste, ist ihre Schwester in Tränen ausgebrochen. Ein kurzer Moment des Glücks. Ist es doch ansonsten sehr schwer für die Familie, Saeed leiden zu sehen. Alles, was er an Eigenständigkeit als Baby erlernt hat, verliert er wieder. Inzwischen kann er nicht mehr alleine essen und wird durch eine Magensonde ernährt. Zwei Flaschen Sondennahrung der Babymarke Hipp werden ihm jeden Tag durch einen Schlauch zugeführt. Immer wieder leidet er an Krampfanfällen, zittert und versteift sich.
Saeed liegt im Bett und ist gerade wach geworden. Es ist Mittag. Er hat fast die ganze Nacht nicht geschlafen. Als seine Mutter über seinen Arm streichelt und ihn liebevoll anspricht, blicken seine Augen in ihre Richtung. Sehen kann er sie aber nicht mehr. Genauso wenig wie seine Tante, seine Großeltern oder die Sonne, die an diesem Tag vom blauen Himmel knallt. Schon vor einigen Jahren ist er erblindet. Laufen konnte er noch nie. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen, den andere Menschen für ihn schieben müssen. Nach und nach verlieren NCL-Kinder all ihre wichtigen Lebensfunktionen. Irgendwann verlernen sie auch das Atmen. „Es ist schwierig, seinem Kind dabei zuzusehen, wie es abbaut“, sagt Kada Saeed.
„Wir versuchen, jeden Tag zu genießen“
Die Krankheit schreitet unaufhaltsam voran. Je nach NCL-Form prognostizieren Ärzte eine unterschiedliche Lebenserwartung. Saeed haben sie bis zu Beginn des Schulalters gegeben. Das hat er mit seinen inzwischen zehn Jahren schon längst überschritten. „Wir versuchen, jeden Tag zu genießen und ganz viel zu kuscheln“, sagt Kada Saeed. An alles andere möchte sie nicht denken.
Vor einigen Jahren, das war 2018, musste sie sich gedanklich schon einmal mit dem Abschied befassen. Saeed lag auf der Intensivstation, angeschlossen an ein Beatmungsgerät. „Er konnte nicht mehr eigenständig atmen“, erzählt die gebürtige Irakerin. Die Ärzte stellten sie damals vor eine Entscheidung, die niemand auf der Welt und schon gar keine Mutter treffen möchte: Soll Saeed weiter künstlich am Leben gehalten werden? Oder sollen die Geräte abgeschaltet werden?
Saeed entschied sich, einfach weiterzuleben
„Ich wollte, dass er weiterlebt, ihn bei mir haben. Aber ich wusste, dass es egoistisch von mir war. Ich habe gesehen, wie er sich quält.“ Also entschied sie sich, ihren geliebten Sohn gehen zu lassen. Und unterschrieb eine Patientenverfügung. „Das war die schwerste Unterschrift, die ich je in meinem Leben gesetzt habe.“
Sie legte sich zu Saeed ins Bett. Kuschelte sich an ihn. Dann schalteten die Ärzte die Maschinen ab. Doch der kleine Junge atmete weiter. Und weiter. „Jetzt ist er immer noch hier. Er hat sich entschieden, zu bleiben“, sagt Kada Saeed. Wieder wischt sie mit den Fingern Tränen aus den Augen. Das Datum, an dem ihr Sohn einfach weiterlebte, den 5. Juni, hat sie sich tätowieren lassen.
Der 10-Jährige besucht die Schule am Hasenstieg in Norderstedt
Der 10-Jährige besucht dreimal die Woche die Schule am Hasenstieg. Das Förderzentrum in Norderstedt legt seinen Schwerpunkt auf die geistige Entwicklung der Kinder. Gerade hat Saeed Sommerferien. Im Gegensatz zu anderen Kindern findet er das gar nicht so gut. „Er liebt es in der Schule, wenn es laut ist und andere Kinder um ihn herumtoben“, sagt seine Mutter. Besonders die Mädchen würden ihn mögen, erzählt sie und grinst. Schon bald könnte ihm diese Freude allerdings genommen werden. Es ist ungewiss, ob Saeed nach den Ferien an die Schule zurückkehren kann. Bislang wurde er von einer Schulbegleitung betreut, doch das reicht nicht mehr aus, er braucht eine medizinische Fachkraft an seiner Seite. Und diese wurde bis jetzt nicht gefunden. Sollte sich daran nichts ändern, muss er zu Hause bleiben.
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Und das ist nicht die einzige Baustelle: Um mit Saeed mehr am Leben teilnehmen zu können, einfach mal ein Eis essen zu fahren und wie andere Familien ganz normale Dinge zu unternehmen, bräuchte Kada Saeed ein behindertengerechtes Auto, in das sein Rollstuhl und notwendige Geräte passen. Immer wieder muss sie mit einer Maschine seinen Speichel absaugen. Ihr alter Caddy ist vor einigen Jahren kaputtgegangen. Motorschaden. Seitdem ist sie meistens mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Deswegen hat ihre Schwester kürzlich einen Spendenaufruf bei GoFundMe gestartet, um einen Teil des Autos zu finanzieren.
Saeed bekommt eine kleine Schwester
Als Kada Saeed die Diagnose ihres Sohnes erhielt, fragte sie sich immer wieder: Warum? Warum passiert mir das? Warum ich? Damals verlor sie ihren Glauben an Gott. „Wenn es Gott geben würde, gäbe es diese Krankheit nicht“, sagt sie. Doch inzwischen hat sie ihren Glauben wiedergefunden. Dank einer besonderen Begegnung im Hamburger Kinder-Hospiz Sternenbrücke.
Dort traf sie eine Mutter, die ebenfalls ein todkrankes Kind hatte. Diese sagte zu ihr: „Wir haben besondere Kinder. Gott glaubt, dass wir so stark sind, dass er uns diese Kinder geschenkt hat.“ Dieses Gespräch hat Kada Saeed niemals vergessen. Richtig. Sie ist stark, erinnerte sie sich. Und wie. Danach fing sie an, wieder an Gott zu glauben.
Heute ist Kada Saeed wieder schwanger. Sie befindet sich in der 28. Woche. Da Kinderdemenz vererbt werden kann, hat sie ihr ungeborenes Baby noch während der Schwangerschaft testen lassen. Die Ärzte sagen, dass ihr Kind kerngesund ist. Es wird ein Mädchen. Saeed bekommt eine kleine Schwester.