Kreis Segeberg. Jeder dritte Arzt im Kreis Segeberg ist 60 und älter. Wohnortnahe Versorgung ist in Gefahr. Wie Kommunen und Mediziner gegensteuern.

Ärzte fehlen, bundesweit. Das Problem gibt es eher auf dem Land, aber auch in städtischen Bereichen: „In Norderstedt können sich vier Hausärzte niederlassen, bisher hat sich aber noch kein Bewerber gefunden“, sagt Nikolaus Schmidt von der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH), die die „bewährte wohnortnahe und flächendeckende Patientenversorgung“ gefährdet sieht.

Der Raum Segeberg ist laut KVSH-Sprecher Schmidt über alle Arztgruppen hinweg gut versorgt, die Quote liege bei 110 Prozent. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat in einer Analyse aus dem Jahr 2022 allerdings festgestellt, dass Kaltenkirchen und Umgebung unterversorgt sind, der Bedarf sei nur zu 91 Prozent erfüllt. Noch vor wenigen Monaten waren neun Kassensitze frei.

Praxen stehen leer, Zahl der Ärzte wird deutlich sinken

Und für die Zukunft sieht es nicht gut aus: Nicht nur Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) prophezeit, dass Hausärzte fehlen werden. „Rund ein Drittel der niedergelassenen Ärzte im Kreis Segeberg ist 60 Jahre und älter. Da es keine Altersgrenze gibt, lässt sich nicht sagen, wie viele in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen“, sagt Schmidt.

Die KVSH geht davon aus, dass nur noch maximal 75 Prozent der Praxen neu besetzt werden. Das sei ein Grund dafür, dass sich Mediziner in Teampraxen zusammenschließen und ihre Kapazitäten bündeln. Die Zentralisierung bedeute teilweise längere Wege für die Patienten. „Kontinuierlich wird sich Deutschland in der Zahl der Ärzte pro 100.000 Einwohner wahrscheinlich dem deutlich niedrigeren europäischen Standard angleichen“, sagt Schmidt.

Medizinischer Nachwuchs will allein keine Praxis übernehmen

Dr. Svante Gehring, Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord.
Dr. Svante Gehring, Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord. © Privat | Privat

„Wir rechnen damit, dass die Zahl der Hausärzte in den nächsten fünf Jahren um 20 bis 30 Prozent sinken wird“, sagt auch Svante Gehring, Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord, der eine Hausarztpraxis am Herold-Center in Norderstedt betreibt.  Gedeckelte Honorare, überbordende Bürokratie und der Wunsch, in Teilzeit zu arbeiten bzw. der Wunsch nach mehr Gleichklang zwischen Beruf und Privatleben – das sind Ursachen, warum der medizinische Nachwuchs davor zurückscheut, allein eine Praxis zu übernehmen.

Der Mangel führt dazu, dass sich Einheiten bilden, die durchaus umstritten sind: Medizinische Versorgungszentren (MVZ), deren Zahl kontinuierlich wächst. Hier finden Patienten mehrere angestellte Ärzte unter einem Dach. Das Ziel: Kosten sparen, indem Medizintechnik, Räume und Personal gemeinsam genutzt werden. Aber: „Wir warnen seit Jahren davor“, sagt der Sprecher der Ärztegenossenschaft Nord. Investoren hätten dieses Modell als Einnahmequelle entdeckt, für sie stehe die Rendite im Vordergrund und nicht die Gesundheit der Patienten.

Ärzte und Kliniken kämpfen gemeinsam gegen Ärztemangel

MVZ-Strukturen sollten so gestaltet sein, dass sie angestellten Ärzten den Weg in die Selbstständigkeit eröffnen. Wichtig ist darüber hinaus Transparenz gegenüber Patienten und anderen Ärzten über die Trägerschaft der Einrichtung“, sagt Nicole Brandstetter von der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Die KVSH hält MVZ nicht grundsätzlich für kritisch: „Der finanzielle Hintergrund einer Praxis oder eines MVZ sagt primär nichts über die Qualität der ärztlichen Leistungsfähigkeit aus. Erst wenn der Eindruck entstünde, dass die Ökonomisierung die Patientenversorgung beeinträchtigen könnte, wäre mit Steuerungselementen einzugreifen“, sagt Sprecher Nikolaus Schmidt.

Ärzte und Kommunen gehen im Kreis Segeberg andere Wege, um dem Hausarztmangel zu begegnen und die Menschen auch künftig ausreichend medizinisch versorgen zu können, gerade mit Blick auf eine alternde Gesellschaft. Zwei Dutzend Arztpraxen mit rund 50 niedergelassenen Ärzten und alle fünf Kliniken im Kreis Segeberg haben sich vor zwei Jahren zum „Weiterbildungsverbund Allgemeinmedizin“ zusammengeschlossen.

Junge Mediziner sollen in den Kreis Segeberg gelockt werden

Ziel dieser beispielhaften Kooperation, die die erste dieser Art in Schleswig-Holstein ist, soll die gesundheitliche Versorgung vor allem im ländlichen Raum für die Zukunft sein, sagte Landrat Jan Peter Schröder. Die Initiative will Medizinstudierende direkt von der Uni in den Kreis Segeberg locken.

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Jeder angehende Arzt muss nach dem Studium eine fünfjährige praktische Weiterbildung absolvieren, davon mindestens ein Jahr in einer Klinik. Die Krankenhäuser dürften aber nur Fachärzte ausbilden. Um ein niedergelassener Hausarzt oder eine Allgemeinmedizinerin zu werden, müsse dieser oder jene drei Fachgebiete wie Chirurgie, Kardiologie, Innere Medizin, Orthopädie oder Geriatrie in der Weiterbildungspraxis lernen.

Wenn ein Arzt erstmal in der Region verankert ist, bleibt er auch

Dafür will der Weiterbildungsverbund alles aus einer Hand bieten. Die Kliniken sicherten die klinische Ausbildung ab, die angeschlossenen Hausarzt- und Facharztpraxen gewährten den praktischen Einblick in Chirurgie oder Gynäkologie. „Für die jungen Mediziner ist das ein absoluter Gewinn“, sagt Svante Gehring von der Ärztegenossenschaft Nord, die sich ebenfalls bei dem Projekt engagiert. „Wir erleichtern dem medizinischen Nachwuchs den Einstieg in das Berufsleben.“

Und wenn ein Arzt oder Ärztin in der Ausbildung erst einmal in der Region verankert sei und womöglich eine Familie gegründet habe, bleibe er oder sie dann auch als niedergelassene MedizinerIn in der Region. „Das ist meine langjährige Erfahrung“, sagt Gehring. Für die Patienten im Kreis Segeberg sei dieses Modell „ein großer Gewinn“.

Bürgergenossenschaft baut in Kaltenkirchen ein Ärztehaus

In Kaltenkirchen will die Bürgergenossenschaft ein Ärztehaus bauen und so die Zahl der Mediziner und Medizinerinnen erhöhen. Das Haus sollte 2024 eröffnen, doch steigende Baukosten und Zinsen stoppten das Projekt. Nun soll der Bau in etwa einem Jahr beginnen, allerdings auf dem Gelände des Ohland-Parks, nur wenige Meter entfernt vom ursprünglich geplanten Standort auf dem ehemaligen Gelände der Feuerwache am Kisdorfer Weg.

„Auf dem Feuerwehr-Gelände hätten wir ein Parkdeck bauen müssen, was zusätzliche Kosten verursacht hätte“, sagt Torsten Thormählen, Vorsitzender der Bürgergenossenschaft. Auf der Ohland-Fläche hingegen stünden ausreichend Parkplätze zur Verfügung. Wenn das Ärztehaus fertig ist, werde die Bürgergenossenschaft Eigentümer des Ärztehauses bleiben und durch die Mieten den Bau refinanzieren.

Praxen stehen leer, Zahl der Ärzte wird deutlich sinken

Videosprechstunden können ein probates Mittel gegen überlastete Praxen und Ärztemangel sein, setzen allerdings Erfahrung voraus.
Videosprechstunden können ein probates Mittel gegen überlastete Praxen und Ärztemangel sein, setzen allerdings Erfahrung voraus. © dpa | Monika Skolimowska

Auch digital wirken Ärzte und Ärztinnen der Versorgungslücke und überlasteten Praxen entgegen. „Viele und gerade Hausärzte haben Videosprechstunden eingerichtet“, sagt Svante Gehring, der das „Fernbehandlungsverbot“ zusammen mit einem Kollegen aus Schleswig-Holstein auf dem Deutschen Ärztetag 2017 in Freiburg gekippt habe.

„Ich finde es gut, dass der Arzt, der mich auch sonst behandelt und mich gut kennt, mich sowohl in einer Videosprechstunde als auch, wenn ich doch untersucht werden muss, in seiner Praxis behandeln kann.“ Die Online-Diagnose setze allerdings entsprechende Erfahrung voraus, und der Arzt oder die Ärztin müsse gefährliche Verläufe und Symptome ausschließen können. Die Videosprechstunde entlaste das ohnehin knappe Personal, erkältete Patienten steckten andere nicht an, der Weg zur Praxis entfalle, was die Umwelt schone.