Norderstedt. Amtsgericht Norderstedt beschäftigte sich mit dem Fall, aber statt den Brüdern standen mutmaßliche Helfer vor Gericht. Wie es urteilte.

Ein Mann soll mit zwei Freunden seinen eigenen Bruder zusammengeschlagen und ihm dann mit einem Messer in den Hals gestochen haben. Kurz vor Weihnachten 2020 soll das passiert sein. In einer Zeit, in der sich viele Menschen wünschten, wieder Zeit mit der Familie zu verbringen, was während der Corona-Beschränkungen lange Zeit nicht möglich war. Doch dieser Familienstreit in Kaltenkirchen hat mit besinnlichen Weihnachten nichts zu tun. Er beschäftigt nun, viereinhalb Jahre später, das Amtsgericht Norderstedt.

Aber die Sache ist kompliziert. Das beginnt damit, dass nur die beiden Bekannten des mutmaßlichen Haupttäters als Angeklagte vor Gericht stehen. Zwei Männer, 44 und 46 Jahre alt. Der Haupttäter indes kann nicht vor Gericht erscheinen, denn er ist mittlerweile verstorben. Und sein Bruder, also der Geschädigte im Verfahren, wohnt mittlerweile in Dubai.

Amtsgericht Norderstedt: Familienstreit eskaliert – Mann sticht Bruder in den Hals

Er lässt dem Norderstedter Amtsgericht ausrichten, dass er durchaus ein Interesse am Ausgang des Verfahrens habe. Zur Gerichtsverhandlung kommen möchte er aber nicht. Der Versuch, über das Konsulat in Dubai Rechtshilfe zu erlangen, scheitert ebenfalls. Und auch der Anwalt des Geschädigten erscheint an diesem Tag nicht selbst im Amtsgericht Norderstedt, sondern teilt diese Dinge nur schriftlich mit.

Die beiden Angeklagten, die dem Haupttäter bei seiner brutalen Tat geholfen haben sollen, bestreiten über ihre Anwälte die Vorwürfe. Sagen wollen sie vor Gericht nichts, sie berufen sich auf ihr Schweigerecht. Überdies bemängeln die Anwälte der beiden die recht bizarre Tatsache, dass bei dem Prozess weder Haupttäter noch Geschädigter anwesend sind. Es geht offensichtlich um einen dramatischen Familienstreit – aber kein Mitglied der Familie ist beim Gerichtsverfahren dabei.

Zur Rekonstruktion des Tathergangs steht nur eine Videoaufzeichnung einer Befragung des Geschädigten zur Verfügung, die vier Tage nach der Tat durchgeführt wurde, am 22. Dezember 2020. Die Verteidigung kritisiert, dass so keine Möglichkeit bestehe, die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Geschädigten zu überprüfen.

In einem Video schildert der aufgelöste Mann die Ereignisse vom 18.12.2020

In der Befragung schildert der aufgelöste Mann die Ereignisse des 18. Dezember 2020 aus seiner Sicht. Des Tages, als er mit einem Messer in den Hals gestochen wurde. Während seiner Ausführungen fängt er immer wieder an, zu weinen. Wie er erzählt, beginnt die Geschichte im Jahr 2015 oder 2016. Damals soll der Geschädigte seinem Bruder – dem mutmaßlichen Haupttäter – Geld geliehen und dafür ein Pfand in Form einer Goldkette und einer Rolex-Uhr bekommen haben.

Nachdem sich die Brüder lange nicht gesehen haben, sucht der mutmaßliche Haupttäter seinen Bruder, den Geschädigten, wieder auf. Als Grund gibt der Haupttäter an, dass er wolle, dass sein Bruder seinen Neffen wiedersehe. Der Geschädigte erzählt, dass er sich erst gefreut habe, aber schnell gemerkt habe, dass dies nicht der wahre Grund für das Wiedersehen gewesen sei. Während sich die beiden zwei Jahre lang nicht sahen, hatte sich der Haupttäter von seiner Frau getrennt und eine neue Freundin gefunden.

Goldkette und Rolex sollen von einem Mitglied der Hells Angels gestammt haben

Die Rolex-Uhr und die Goldkette, die als Pfand hinterlegt wurden, stammten wohl von einem Mitglied der Hells Angels, das im Gefängnis saß. Kette und Uhr waren von diesem offenbar nur „geliehen“. Der Angehörige der Rockergruppe stand offenbar kurz davor, aus dem Gefängnis entlassen zu werden, und so brauchte der mutmaßliche Haupttäter die Pfandgegenstände wieder. Der Bruder und auch der 44-jährige Angeklagte, damals laut Schilderung der beste Freund des Haupttäters, melden sich immer wieder beim Geschädigten, um die Goldkette und die Rolex-Uhr zu bekommen.

Der Geschädigte stellt eine Bedingung für die Herausgabe der Gegenstände, nämlich den Auszug des Bruders aus der Wohnung der Mutter. In die kleine Wohnung der Frau war der mutmaßliche Haupttäter nach Angabe des Geschädigten mit seiner neuen Freundin und ihren fünf Kindern gezogen.

Täter soll 40.000 Euro Schulden bei seinem Bruder gehabt haben

Die Kommunikation läuft dabei über den 44-jährigen Angeklagten. Dies hatte der Geschädigte selbst so gewollt, wie er sagte. Der Geschädigte gab an, dass sein Bruder inklusive des Pfands noch 40.000 Euro Schulden bei ihm gehabt habe. Mutmaßlich auch aus Kryptowährungen, die der Geschädigte für seinen Bruder verwaltet habe. Auch in den Tagen vor der Tat gab es immer wieder Kontakte zwischen dem Geschädigten und seinem Bruder, bei denen die Herausgabe von Goldkette und Uhr gefordert wurde.

Das Verhältnis der beiden Brüder war offenbar schon immer schwierig. Der Geschädigte berichtet in der Vernehmung, in der Kindheit von seinem Bruder geschlagen worden zu sein. „Er hasst mich“, gibt der Geschädigte im Verlauf des Gesprächs zu Protokoll. Seinen Bruder bezeichnet der Geschädigte immer nur als „dieser Täter“.

Es gibt Videos von Überwachungskameras, aber sie zeigen wenig

Was sich am Abend des 18. Dezembers 2020 zwischen den beiden Brüdern und den Angeklagten genau abgespielte, ist sehr schwer zu rekonstruieren. Zwar gibt es drei Videobände von Überwachungskameras, die sich vor dem Kaltenkirchener Wohnhaus des Geschädigten befanden.

Aber: Auf den Aufnahmen ist von der Tat selbst oder den Tätern nichts zu sehen. Man hört nur verzweifelte Schreie des Opfers nach seiner Frau und sieht dann, wie diese die Rettungskräfte verständigt. Später treffen dann Polizei, Notarzt und Krankenwagen ein. Die Verteidigung eines der Angeklagten bemängelt: „Es gibt nichts Objektives, was meinen Mandaten belastet.“ Das Verfahren sei deshalb einzustellen.

Da sich keiner der Beteiligten äußern möchte, bleiben dem Gericht lediglich das Video von der Befragung des Geschädigten sowie das Protokoll einer Befragung seiner Frau ein paar Stunden nach der Tat zur Rekonstruktion der Tat.

44-jähriger Angeklagter soll versucht haben, den Mann in ein Auto zu drücken

Um 19:40 Uhr kam demnach der Geschädigte mit dem Auto, in dem auch seine Frau und seine beiden Kinder saßen, vom Einkauf nach Hause. Sie bogen in ihre Einfahrt. Hinter ihnen fuhr ein grauer Mercedes, der kurz danach in einer Parkbucht schräg gegenüber anhält. Als der Geschädigte das Auto verließ, soll der 44-jährige Angeklagte vor dem Tor der Auffahrt gewartet haben und den Geschädigten gefragt haben, ob sie kurz reden könnten. Daraufhin sollen sie zum grauen Mercedes gegangen sein.

Der Angeklagte soll den Geschädigten aufgefordert haben, sich ins Auto zu setzen. Nachdem sich der Geschädigte weigerte, soll der Angeklagte ihn an der Kleidung auf Brusthöhe gepackt habe und probiert haben, ihn ins Auto zu drücken. Zwei Personen, die auf der Rückbank des Autos saßen, sollen probiert haben, ihn ins Auto zu ziehen. Nachdem dies nicht gelang, sollen die beiden auf der Rückbank sitzenden Personen ausgestiegen sein. Diese beiden Personen waren nach Angaben des Geschädigten sein Bruder und der zweite Angeklagte, ein 46-jähriger Mann. Laut Angaben des 44-jährigen Angeklagten soll der zweite Angeklagte das Auto aber nicht verlassen haben.

Schilderung: Drei Männer treten auf Geschädigten ein, dann schlägt der Bruder zu

Die drei Männer schlugen dann laut Schilderungen auf den Geschädigten ein. Nachdem er zu Boden fiel, traten sie auch auf ihn ein. Danach habe der 44-Jährige den Geschädigten wieder hochgezogen. Anschließend habe der Haupttäter seinem Bruder die Stichverletzung zugefügt. Und zwar, indem er mit der Faust zuschlug und dabei ein Messer zwischen seinen Fingern hatte. Belegt ist eine 2,5 Zentimeter lange Stichverletzung.

Den Schlag, bei dem sich der Geschädigte die Stichverletzung zugezogen hat, kann er seinem Bruder zuordnen. „Ich sehe das jetzt noch“, schildert er der Polizeibeamtin. Wer genau zugeschlagen oder ihn getreten habe, kann der Geschädigte allerdings nicht genau sagen, da er sein Gesicht geschützt habe. Für den Staatsanwalt passt die Beschreibung zu einem sogenannten Faustmesser, bei dem eine Klinge zwischen zwei Fingern heraussteht. Das Ganze soll keine Minute gedauert haben.

„Ich habe gedacht, ich sterbe“, sagt der Geschädigte in der Videoaufnahme

Danach seien die drei Männer erst zu Fuß abgehauen, der Geschädigte sei zum Haus gelaufen. Dann seien die drei Männer zum Auto zurück und mit dem Auto in Richtung Hamburg weggefahren. Das Opfer schreit immer wieder nach seiner Frau. Diese rennt ins Haus holt ein Telefon und ruft die Rettungskräfte. Dann sei sie zur Nachbarin, die Ärztin ist, gerannt, gibt die Frau des Geschädigten zu Protokoll. Diese half bei der Erstversorgung. Der Geschädigte wird dann per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen.

Der Geschädigte berichtet: „Ich habe gedacht, ich sterbe.“ Der Mann ist aufgelöst, weint immer wieder und springt immer wieder in der Geschichte hin und her, kann sich an manche Details nicht mehr erinnern. Er berichtet, dass er schlecht schlafe, und dass es auch für seine Kinder „extrem schwer“ sei. Ein unbeschriebenes Blatt ist der Geschädigte allerdings selbst nicht. So hat er mehrere polizeiliche Voreinträge wegen Betrugs.

Der Mercedes wird noch am selben Abend von der Polizei angehalten

Nach dem grauen Mercedes wird noch am 18. Dezember 2020 gefahndet, er wird schließlich abends bei der Fahrt in Richtung Hamburg gestellt. Die beiden Angeklagten werden vorläufig festgenommen und es werden Spuren gesichert. Nach dreitägiger Behandlung im Krankenhaus findet am 22. Dezember 2020 eine gerichtsmedizinische Untersuchung statt. Dabei werden Stich- und Schnittverletzungen im Gesicht, am Hals und an den Fingern festgestellt.

Die meisten der Verletzungen sind laut Untersuchung vier Tage alt. Die Verletzungen müssen aber nicht zwingend von der Auseinandersetzung kommen, schreibt die Rechtsmedizinerin. Akute Lebensgefahr habe nicht bestanden, da die großen Halsarterien nicht getroffen wurden. Ein Stich in eben diese hätte allerdings zu Lebensgefahr führen können.

Beide Angeklagten werden aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen

Am zweiten und finalen Verhandlungstag forderte die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer für den 44-jährige Angeklagten eine achtmonatige Freiheitsstrafe aufgrund gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung mit versuchter Freiheitsberaubung. Diese solle für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt werden. Zusätzlich solle der Angeklagte noch 3000 Euro zahlen. Der 46-jährige Angeklagte solle zu 120 Tagessätzen á 40 Euro verurteilt werden. Hier aufgrund einer gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung in einem minder schweren Fall. Die Staatsanwaltschaft sah die Schilderungen des Geschädigten als glaubwürdig an.

Die Verteidigung des 44-Jährigen, ebenso wie die Verteidigung des 46-Jährigen plädierten jeweils für einen Freispruch. Sie gaben als Gründe an, dass sie ihr Konfrontationsrecht gegenüber dem Geschädigten nicht ausüben konnten. Neben der Aussage des Geschädigten gebe es keine objektiven Beweise gegen die beiden Angeklagten. Auf den Videoaufnahmen vor dem Wohnhaus könne man zwar eine Auseinandersetzung hören. Was die beiden Zeugen gemacht hätten und ob sie überhaupt vor Ort waren, könne man ihnen aber nicht nachweisen.

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Des Weiteren, so die Verteidiger, passten die leichten Verletzungen an Händen und im Gesicht nicht zu dem vom Geschädigten beschriebenen Tathergang. Darüber hinaus wies der Verteidiger des 44-Jährigen auf die Vermittlerrolle seines Mandanten zwischen den beiden Brüdern hin. Der Anwalt des 46-Jährigen gab darüber hinaus zu bedenken, dass sein Mandant nur im Auto gesessen habe und es nicht verlassen habe.

Der Argumentation der Verteidigung folgen im Wesentlichen auch die Richterin und die beiden Schöffen in ihrem Urteil. Und so wurden die beiden Angeklagten freigesprochen. Durch das mangelnde Konfrontationsrecht der Verteidigung sei das Gericht bei der Beweiswürdigung vorsichtig gewesen. Auch die Videoaufnahmen und das rechtsmedizinische Gutachten seien nicht aussagekräftig genug gewesen. Auf der Videoaufzeichnung höre man zwar eine Auseinandersetzung, mehr aber auch nicht. Darüber hinaus sei nicht Konkretes zu hören. Außerdem sei nicht nachzuvollziehen, von wem die Schläge und Tritte kamen.

Staatsanwaltschaft und Nebenklage haben die Möglichkeit, innerhalb einer Woche Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.