Norderstedt. Maike Rotermund hat den Behindertensport in Norderstedt aufgebaut. Im Juni geht’s zu den Special Olympics. Kommt danach die Rente?
In ihrem Büro bei den Norderstedter Werkstätten, an einem dieser großen, grauen Aktenschränke, hängt das Foto von Maike Rotermund und Angela Merkel. Sie hat die Ecken mit Tesa festgeklebt, die Streifen sind schon leicht vergilbt, von dem Licht, das durch das gegenüberliegende Fenster fällt. „Empfang bei der Bundeskanzlerin am 15. Juli 2015 im Bundeskanzleramt“, steht unter dem Bild.
Maike Rotermund ist ganz links zu sehen, nur zwei Leute stehen zwischen ihr und Angela Merkel. „Das war ein besonderer Moment in meinem Leben“, sagt Maike Rotermund. Fast acht Jahre ist es her, dass sie das Bild aufgehängt hat, mitten an die Schranktür, dorthin, wo sie es immer sehen kann. „Besondere Momente verdienen eine besondere Aufmerksamkeit“, findet Rotermund.
Ein Foto mit Altkanzlerin Angela Merkel hängt an der Schranktür im Büro
Auf dem Foto trägt Merkel einen für sie typischen Blazer in lindgrün, Maike Rotermund ein rotes Polohemd und eine Jeans. Ganz untypisch für sie, die morgens im Trainingsanzug zur Arbeit geht.
Maike Rotermund ist die Sportlehrerin der Norderstedter Werkstätten. So ihre offizielle Bezeichnung. Doch für die Menschen mit Behinderung in den Werkstätten ist sie mehr als das. Sie ist ihre Trainerin und Mentorin, ihre Ansprechpartnerin in jeder Situation. Sie ist Psychologin und Ernährungsberaterin, Reisebegleiterin und Krankenschwester. Eine Vertraute. Freundin. Deswegen nenne sie alle auch nur Maike.
Ihr Büro liegt den Gang runter, dann rechts. Direkt gegenüber von der kleinen Sporthalle der Norderstedter Werkstätten. Jeder hier weiß, wo ihr Zimmer ist. Die Tür steht immer offen. Vor ihrem Büro hängt ein Bilderrahmen mit Zeitungsausschnitten über die Sportler der Norderstedter Werkstätten. Ein Geschenk ihres Chefs zum 25. Jubiläum der Norderstedter Werkstätten. 15 Jahre ist das jetzt schon her.
Zeitungsartikel dokumentieren die vielen großen Erfolge
Die Artikel dokumentieren die sportlichen Erfolge von Athleten der Norderstedter Werkstätten. Sie erzählen Geschichte, die viele der Sportler selbst oft nicht in Worte fassen können. Sie haben alle „geistige Behinderungen“, wie es heißt. Auch wenn Maike Rotermund den Begriff nicht mag. Sie hält nichts davon, die Menschen in Schubladen zu stecken, als „geistig behindert“ und „gesund“ oder gar „normal“ zu beschreiben. Für sie sind die Werkstatt-Mitarbeiter einfach nur Sportler. Ihre Sportler.
Ihre Sportler. Bei anderen könnten Worte wie diese besitzergreifend klingen, nicht aber bei Maike Rotermund. Der Frau, die den Behindertensport der Norderstedter Werkstätten aufgebaut hat. Die aus Hobbysportlern Olympioniken gemacht hat.
Früher wollte sie Erzieherin im Kindergarten werden. Dann kam alles anders
Wenn man der 60 Jährigen im September 1983 gesagt hätte, dass sie mit ihren Athleten elfmal an Nationalen Spielen und fünfmal an Weltspielen für Menschen mit geistiger Behinderung teilnimmt, hätte sie vermutlich nur gelacht. Oder, auf ihre direkte Art womöglich gesagt: „Du spinnst wohl.“ Sie ist so. Offen, ehrlich, authentisch. Und dafür lieben ihre Sportler sie. Sie ist eine von ihnen. Ein Teil ihres Teams, ihrer Familie. Teil ihres Lebens.
Maike und ihre Sportler sind wie zwei Seiten einer Medaille. Unterschiedlich, aber untrennbar. Ohne die eine Seite gäbe es die andere nicht. Sie ergänzen, vervollständigen sich. Manchmal fragt sich Maike Rotermund, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wenn sie nach der Hauptschule und der Ausbildung als sozialpädagogische Assistentin sowie als Erzieherin einen Job im Kindergarten bekommen hätte – so wie sie es sich damals mit Anfang 20 sehnlichst gewünscht hatte.
Wenn sie damals nicht arbeitslos geworden und in einer so genannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) gelandet wäre, weil es einfach keine Jobs im Kindergarten gab.
Ihr Plan ist nicht aufgegangen. Heute ist sie froh darüber
Wenn. Viele Menschen verbinden mit dem Wort geplatzte Träume, verpasste Chancen. Maike Rotermund nicht. Sie ist froh, unendlich dankbar, dass es in ihrem Leben nie zu dem „Wenn“ gekommen ist, von dem sie einst geträumt hat. Dass ihr Plan A nicht aufgegangen ist – und ihr das Leben einen Weg aufgezeigt hat, den sie selbst nicht eingeschlagen hätte, der sie aber rückblickend glücklicher gemacht hat, „als sonst so ziemlich alles andere.“
Vor fast 40 Jahren führte eine ABM-Maßnahme die damals arbeitslose Maike Rotermund in die Norderstedter Werkstätten. Eigentlich sollte der Job als Gruppenleiterin nur vorübergehend sein, doch es wurde der Job ihres Lebens. „Da ich selbst als Jugendliche viel Sport gemacht hatte, fragte mich mein damaliger Chef, ob ich nicht eine Sportgruppe aufbauen könnte“, erinnert sich Maike Rotermund und erzählt, dass in den Werkstätten gerade der Trend aufkam, mit den Beschäftigten zum Ausgleich Sport zu treiben.
Irgendwann merkte Maike Rotermund, was ihre Sportler alles drauf haben
Also probierte sie es einfach aus, so wie sie alles probiert im Leben. „Einfach machen“, ist ihr Motto. Sie baute verschiedene Bewegungsgruppen auf, führte leichte Tick- und Fangspiele ein. „Zu der damaligen Zeit waren Menschen mit Behinderung oft körperlich total unfit, auf Sport hat man damals in den Sonderschulen kaum Wert gelegt“, erinnert sich Maike Rotermund und sagt, dass sie keine großen Erwartungen hatte. „Zum Glück! Denn am Anfang ging alles drunter und drüber.“
Heute kann sie darüber lachen, damals war sie oft verzweifelt, wenn alle wild durch die Halle rannten. „In den ersten Monaten mussten wir erst einmal Strukturen und Disziplin schaffen“, sagt Rotermund und erzählt, wie sie nach und nach Regeln einführte und immer mehr mit den Sportlern machen konnte. Sie führte Ballsportarten ein, ging mit den Beschäftigten Joggen und entwickelte spezielle Übungen. „Irgendwann habe ich gemerkt: Da geht noch mehr.“
China, Athen, Abu Dhabi – die Aktiven der Werkstätten waren überall dabei
Noch mehr. Noch mehr als nur Breitensport, noch mehr als Freizeitspaß. Denn einige Sportler waren so gut, dass Maike Rotermund mit ihnen zu Landessportfesten und Meisterschaften fuhr – und irgendwann gefragt wurde, ob sie nicht ein Leistungszentrum aufbauen will.
Natürlich wollte sie. Denn für ihre Sportler wollte und will sie schon immer alles machen, alles auf die Beine stellen, erreichen. Sie sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie alle anderen Sportler. Genauso, wie sie ihre Sportler zu immer neuen Leistungen motiviert, motiviert sie sich selbst täglich neu. Sie will sich nicht ausruhen, strebt weiter, immer weiter.
Landesmeisterschaften, Europameisterschaften, Nationale Spiele, Weltspiele, Weltwinterspiele. Urkunden, Medaillen. Die Athleten der Norderstedter Werkstätten waren schon überall. Und Maike war dabei. Bei den Nationalen Spielen 2004 in Hamburg, als die Prinzen live auftraten. Bei den ersten Weltspielen in China 2007, für die sich nur ein einziger ihrer Sportler qualifiziert hatte – und in einem Kaufhaus in Peking plötzlich verloren ging, weil er eine CD für seine Eltern kaufen wollte.
Die Sportlerinnen und Sportler sind ihre Familie, ihre Kinder
Ihre Erzählung steckt voller Superlative, Plaketten aus Edelmetall, Reisen durch die ganze Welt. China, Athen, Los Angeles, Abu Dhabi. Sie weiß die Namen jedes Sportlers und jeder Platzierung der vergangenen Jahrzehnte. Ihre Sportler sind ihre Familie, ihre Kinder.
Doch auch wenn sie auf jeden Sieg ihrer Athleten stolz ist, ihr geht es nicht um Medaillen. Sie möchte den Menschen die Freude am Sport vermitteln, sie motivieren, sich zu bewegen und dadurch gesünder zu leben. Aus diesem Grund hat sie irgendwann auch den Inklusiven Sportverein Norderstedt gegründet. Damit noch mehr Menschen – auch außerhalb der Werkstätten – Sport treiben können.
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Norderstedt: Maike Rotermund hat Behindertensport aufgebaut. Wann sie in Rente will
Vor ein paar Wochen ist sie 60 geworden, ihre Sportler haben sie mit einer großen Party überrascht. Noch so ein unvergesslicher Moment, so wie der mit Angela Merkel. Das wird sie nie vergessen, glaubt sie. An die Rente denkt Maike Rotermund noch nicht, „noch lange nicht“, sagt sie nachdrücklich. Sie will weitermachen, immer weiter, so lange sie kann. Es gibt noch viel zu tun, findet sie.
„100% Maike Rotermund“ steht auf dem Bild mit den Zeitungsausschnitten, das neben ihrem Büro hängt. Der Satz passt nicht ganz. Es müsste eigentlich heißen: 120 Prozent Maike Rotermund.