Bad Segeberg. Segeberger Geheimnis: Warum bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg keine Kamele mehr auf der Bühne stehen.
„Nun reiten sie wieder. Von der Spitze des Kalkberges rauchen die Flammenzeichen. Pferde wiehern, Schüsse krachen, Staub wallt auf, und...“ Stop! Hier preschen nicht Winnetou und Old Shatterhand durch die Prärie, sondern Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Diese Zeilen sind der Beginn eines Artikels, der vor 59 Jahren im Hamburger Abendblatt erschienen ist.
Bad Segeberg feierte damals zum zwölften Mal die Karl-May-Spiele, auf dem Spielplan stand „Durch die Wüste“. Mit großem Erfolg übrigens: 104.000 Zuschauer verfolgten die Aufführungen. Bei 15 Vorstellungen, die es damals gab, ist das ein Zuschauerschnitt, von dem heute nur noch geträumt werden kann.
Karl-May-Spiele: Winnetou schlägt Kara Ben Nemsi am Kalkberg
Inzwischen sind die Jahrzehnte ins Land gegangen und Winnetou hat ganz klar die Oberhand gewonnen. Am Kalkberg zieht schon längst kein Kamel mehr durch die Wüste, obwohl diese Karl-May-Abenteuer im Orient durchaus ihren Reiz hatten und viele Zuschauer in die Freilichtarena lockten.
Warum aber versank Kara Ben Nemsi mit einer Gefolgschaft im Wüstensand? Einige Karl-May-Experten lüften jetzt dieses Geheimnis.
Heute zählen nur noch Winnetou und Co.
Wer heute an die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg, in Elspe oder sonstwo, denkt, der hat automatisch Winnetou und Old Shatterhand mit ihren wechselnden Freunden und Feinden vor Augen.
Seit 1979 ist es auch so: Die Helden der Prärie locken die Zuschauer an – zuletzt mehr als 400.000. Ob das mit den Helden des Nahen Ostens ebenso gut gegangen wäre, ist eine Frage, deren Antwort natürlich im Raum schweben bleibt.
Bad Segeberg: Zuschauer strömten auch zu den Orient-Stücken
Zwischen 1955 und 1978 wurden im Segeberger Freilichttheater am Kalkberg acht Orient-Stücke des Schriftstellers aus Ernstthal aufgeführt. Die Zuschauer strömten genau so wie in den Winnetou-Jahren.
„Hadschi Halef Omar“ (1955 und 1959), „In den Schluchten des Balkan“ (1956, 1960, 1968 und 1972), Durch die Wüste“ (1963) und „Durchs wilde Kurdistan“ (1968) hießen die Karl-May-Stücke, die im Orient angesiedelt waren.
Einer, der die Segeberger Karl-May-Geschichte kennt, wie kaum ein zweiter, lebt in Bayern. Nicolas Finke (45) war von September 2003 bis Mai 2014 verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Karl May & Co – Das Karl-May-Magazin“. Als Autor publiziert er in Zeitschriften und Büchern überwiegend zu Aspekten von Karl May auf der Bühne, in Film und Fernsehen. Mit dem Buch „Karl May auf der Bühne“, das er zusammen mit Reinhard Marheinecke 2021 im Karl-May-Verlag Bamberg-Radebeul veröffentlichte, beschäftigte er sich mit den Segeberger Orient-Aufführungen.
Winnetou hat bei Karl-May-Spiele besondere Zugkraft
„Die Besucherzahlen waren damals durchaus ordentlich“, sagt Nicolas Finke. „Die Orient-Geschichten sind ebenso spannend geschrieben und schlagen einen in den Bann.“ Dennoch kann er sich nicht vorstellen, dass Kara Ben Nemsi eines Tages wieder Winnetou von der Segeberger Bühne verdrängen könnte. Ein Stück ohne den von Karl May erdachten Apachenhäuptling – heute undenkbar. „Diese Figur hat eine besondere Zugkraft.“
Michael Stamp, Mediensprecher und seit 22 Jahren Bühnenautor der Karl-May-Spiele, glaubt durchaus, dass die Wüstenabenteuer auch einen künstlerischen Reiz haben könnten. Aber: „Das Publikum identifiziert die Karl-May-Spiele heute mit dem Wilden Westen.“
Klaus-Hagen Latwesen ging mit einem Orient-Stück auf Tournee
„Durch die Wüste“ oder „Durchs wilde Kurdistan“ ist also Schnee von gestern. In Bad Segeberg, nicht unbedingt an anderen Aufführungsstätten in Deutschland. So hatte ausgerechnet der in Bad Segeberg einst ausgebootete Intendant und Winnetou-Darsteller Klaus-Hagen Latwesen Erfolg mit dem von ihm nach Karl May geschriebenen Stück „Der Schut – In den Schluchten des Balkan“.
2002 und 2003 wurde es im Naturtheater Greifensteine bei Annaberg-Buchholz (Sachsen) aufgeführt. Latwesen hatte es schon 1980 im Rahmen einer Tournee seines Theaterunternehmens „Tournee Mondon“ in Theaterhäusern und Stadthallen gespielt. Über diese Einzelheiten weiß Autor Nicolas Finke ganz genau Bescheid.
Karl May wollte in Hamburg nicht mit Kara Ben Nemsi sprechen
In dem Buch „Karl May auf der Bühne“ beschreiben er und sein Co-Autor auch von einem Besuch Karl Mays in Hamburg. Der nämlich war Ende des 19. Jahrhunderts auf Einladung von Freunden in die Hansestadt gereist, um sich Hagenbecks Völkerschauen anzusehen. Unter anderem gastierte dort auch eine Arabertruppe. Den Gastgebern erschien es als reizvoll, wenn Karl May mit denen sprechen würde, um – wer weiß – dort auch alte Bekannte zu treffen. Kara Ben Nemsi zum Beispiel.
May verzichtete klugerweise auf ein Gespräch mit den Arabern, denn er war ja in Wirklichkeit nie in den von ihm so ausführlich beschriebenen Ländern gewesen. Vieles hatte er sich angelesen, das meiste schlicht und einfach ausgedacht. Erst in den Jahren 1899 und 1900 bereiste Karl May erstmals tatsächlich den Orient.
Karl-May-Spiele auch in Hagenbecks Tierpark
Im 1907 eröffneten Tierpark Hagenbeck wurde später – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – übrigens wirklich Karl-May-Stücke gespielt. Da standen aber Winnetou und Old Shatterhand im Mittelpunkt. „Kinder spielen Karl May in Hagenbecks Tierpark“ hieß das Projekt. Ausschnitte sind heute noch auf der Website www.filmothek.bundesarchiv.de zu sehen.
Aber zurück an den Kalkberg. Zwischen 1955 und 1978 spielten sich vor und hinter den Kulissen interessante Szenen ab. Bevor Kara Ben Nemsi, der genau wie Old Shatterhand Karl Mays Alter Ego war, seinen Abenteuern nachgehen konnte, mussten die Pferde präpariert werden.
Für die Wüstenabenteuer wurden Pferde angemalt
Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Die weißen und braunen Pferde wurden mit Farbe in Schecken verwandelt. Weil das mit der Farbe aber bei Regen nicht funktionierte, wurden die Pferdehaare stellenweise gebleicht.
Heute undenkbar, doch damals war das eine übliche Praxis. „Es wurden ja keine Pferde für die Karl-May-Spiele gekauft, sondern bei den umliegenden Bauern geliehen“, sagt der Segeberger Historiker Hans-Werner Bauryzca, der unter anderem auch ein großes Karl-May-Archiv zusammengestellt hat.
Die Kostüme stammten aus dem Museum für Völkerkunde
Bei den Kostümen übrigens wurde mehr Wert auf Authentizität gelegt: Sie stammten aus de Museum für Völkerkunde in Hamburg.
Der Tierpark Hagenbeck half auch aus und stellte ein Kamel zur Verfügung. 1955 war es ein tierischer Star bei der Uraufführung von „Hadschi Halef Omar“, außerdem ging es mit dem Kamel auf Werbetour nach Hamburg und an die Ostsee.
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Karl-May-Spiele: 1978 gab es das letzte Orient-Stück
Als die Verantwortlichen der Segeberger Spiele 1978 Bilanz zogen, stellten sie fest, dass „Durchs wilde Kurdistan“ nicht die Resonanz gefunden hatte, die den Winnetou-Stücken in den Jahre zuvor zuteil geworden war. Rund 100.000 Zuschauer waren zwar angesichts der, im Vergleich zu heute, geringeren Anzahl von Aufführungen (47), gar nicht so schlecht, aber man wollte mehr.
Die 1980 gegründete Kalkberg GmbH setzte voll auf Winnetou – und griff zunächst in den Staub. Die Zuschauerzahlen sanken drastisch und erreichen 1982 mit 45.000 Besuchern ihren Tiefpunkt. Aber seitdem ging es aufwärts. Und heute denkt niemand mehr im Traum daran, Hadschi Halef Omar durch die Segeberger Kalkbergwüste latschen zu lassen.
Autor Michael Stamp müsste wohl erst mit Winnetous Silberbüchse bedroht werden, bevor er auch nur eine Zeile für ein Wüstenabenteuer schreiben würde. „Wir sind gut beraten, wenn wir den jetzt eingeschlagenen Weg beibehalten.“