Schwarzenbek/Möhnsen/Ratzeburg. App sammelt Daten, alarmiert Autofahrer und bietet eine Handlungsanleitung im Falle einer Kollision. Jäger helfen den Entwicklern.

Stefan Rogalla ist verärgert. Der Inhaber der Biker-Tenne in Möhnsen ist auf der B 404 Richtung Schwarzenbek mit seinem Auto beinah ungebremst in ein Wildschwein gefahren.

Die Schuld an dem Unfall gibt er dem weißgrundigen Verkehrsschild, das großflächig auf Wildwechsel aufmerksam macht und gleichzeitig die 70er-Zone kennzeichnet, die dort wegen der vielen Wildunfälle eingerichtet worden ist. „Ich bin so geblendet worden, dass ich nicht sehen konnte, dass das Tier aus dem Dickicht auf die Straße lief“, moniert der 54-Jährige.

App „Wuidi“ warnt vor Wildwechsel und hilft, Unfälle zu vermeiden

Dieser Straßenabschnitt auf der B 404 ist für viele Wildunfälle, von denen einige tödlich endeten, bekannt. Wer das weiß, fährt dort besonders vorsichtig. Aber nicht alle Autofahrer kennen die gefährlichen Streckenabschnitte. Für diejenigen, die sich im Straßenverkehr schützen wollen, gibt es die neue Wildwarn-App „Wuidi“.

Auch Bernd Karsten hat sie auf seinem Handy. Der Vorsitzende der Kreisjägerschaft im Herzogtum Lauenburg nutzt die App nicht nur, um auf Fahrten vor möglichem Wildwechsel gewarnt zu werden: Mit seinen Meldungen über Wildunfälle sorgen er und weitere Jäger dafür, dass die App immer genauer wird.

Basisdaten kommen vom Wildtier-Kataster Schleswig-Holstein

„Aufgrund der Daten, die in der App gesammelt werden, werden Statistiken erstellt, die bei Straßenzügen mit viel Wildwechsel zu einer Geschwindigkeitsreduzierung führen können“, sagt Karsten. Die Basisdaten für die App kamen vom Wildtier-Kataster Schleswig-Holstein (WTK-SH), ein gemeinsames Projekt von Landesjagdverband und Universität Kiel.

„Über mehrere Jahre wurden Wildunfalldaten gesammelt, ausgewertet und so über 500 Wildunfallschwerpunkte im Land ermittelt“, erläutert Marcus Börner, Geschäftsführer des Landesjagdverbandes Schleswig-Holstein.

App warnt Autofahrer orts- und zeitabhängig. Sie ist genauer

Bernd Karsten, Vorsitzender der Kreisjägerschaft im Herzogtum Lauenburg, hilft bei der Datenpflege und sorgt somit dafür, dass die App immer genauer wird. 
Bernd Karsten, Vorsitzender der Kreisjägerschaft im Herzogtum Lauenburg, hilft bei der Datenpflege und sorgt somit dafür, dass die App immer genauer wird.  © BGZ | Inga Kronfeld

Bisher weisen nur die „Wildwechsel“-Schilder am Straßenrand oder die blauen Reflektoren an den Leitpfosten Autofahrer darauf hin, wenn auf einer Strecke mit Wildwechsel zu rechnen ist. Der digitale Wildwarner warnt Autofahrer bei der Fahrt durch Gefahrengebiete mit erhöhtem Wildwechsel jedoch erstmals orts- und zeitabhängig.

Die Warnung erfolgt über die App auf dem Smartphone oder dank Bluetooth-Kopplung über das Display des Armaturenbretts. Kommt es trotz Warnung dennoch zu einem Wildunfall, erhält der App-Nutzer eine Schritt-für-Schritt-Anleitung und auf Basis der GPS-Signals auch die Kontaktdaten des zuständigen Ansprechpartners, der Polizeidienststelle oder des Jägers.

250.000 Wildunfälle registrierten die Versicherer in Spitzenjahren

Am Anfang der App stand die persönliche Betroffenheit eines jungen Niederbayern: Dieser befand sich eines Nachts ohne genauere Ortskenntnisse neben einer Landstraße, nachdem er zuvor ein Reh angefahren hatte. Das Tier lebte noch, und für Alfons Weinzierl begannen die Probleme mit der Beschreibung des Unfallortes.

Damit ist der Ex-Student nicht allein: Rund 250.000 Wildunfälle registrierten die Versicherer in Spitzenjahren. Neben Straßen, die Landschaften zerteilen, hat auch die Verkehrsdichte stetig zugenommen. Mit Duftbarrieren, Reflektoren und Plakataktionen versuchen die Jäger bundesweit, das Wild abzuschrecken und Autofahrer zu sensibilisieren.

Schilder allein reichen nicht, um vor Wildwechsel zu warnen

Doch „Wuidi“-Gründer Weinzierl winkt ab: „Das können Sie vergessen, die Wirkung ist inflationär!“ Die optische Warnung am Straßenrand werde von Autofahrern irgendwann nicht mehr wahrgenommen.

Die Idee von Weinzierl und seinen Mitstreitern: Wie wäre es, wenn man alle verfügbaren Daten, die bei Wildunfällen relevant sind – Ort, Tages- und Jahreszeit, zu der sich der Unfall ereignete – in einer Datenbank sammeln würde, um daraus die jeweils aktuelle Wildunfallwahrscheinlichkeit für einen Streckenabschnitt zu berechnen und gegebenenfalls eine Warnung auszusenden?

Wildschweinplage in Schwarzenbek wird zunehmend zum Problem

Für zwei Teammitglieder war die App-Entwicklung die Abschlussarbeit für ihr Studium, ­diverse Preise, unter anderem beim Deutschen Mobilitätspreis oder dem Innovationspreis, räumte das bayerische Start-up-Unternehmen ab. Die App „Wuidi“ ist kostenlos sowohl im Apple AppStore als auch bei Google Play für Android-Handys verfügbar.

Vor herumstreunenden Wildschweinen warnt die App zwar noch nicht, dennoch werden die Tiere seit Längerem zum Ärgernis in Schwarzenbek. Seit der behördlich angeordneten Öffnung der beiden Wildgatter im Sachsenwald sei die Plage noch schlimmer geworden, berichten Einwohner.

Rotten von bis zu 20 Tieren sind auch tagsüber unterwegs

Vor allem entlang der ehemaligen Bahnstrecke und am Zubringer-Nord tauchen auch tagsüber teilweise Rotten von 20 Tieren auf, graben Grünflächen und private Gärten um. Vor allem jetzt in der kalten Jahreszeit ist das Schwarzwild auf der Suche nach Nahrung.

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Die Felder sind abgeerntet, die gefrorenen Böden erschweren die Nahrungssuche, sodass das Wild auch in befriedete Bezirke läuft, erläutert Bernd Karsten. Die einzige Möglichkeit für die Anwohner ihr Grundstück zu sichern, sei eine stabile Einzäunung, sagt er.

Bachen bekommen mittlerweile zweimal im Jahr Frischlinge

Den Jägern seien die Hände gebunden, da in Wohngebieten aus nachvollziehbaren Gründen nicht geschossen werden darf. „Selbst wenn wir dafür eine Sondergenehmigung bekommen würden und das Gebiet dafür kurzzeitig absperren könnten, ist nicht sicherzustellen, dass nicht doch eine Kugel durch ein Hindernis abprallt und in einem Wohnzimmer landet“, sagt Karsten.

Mit Abschüssen im Wald kämen die Jäger nicht gegen die schnell wachsende Population an. Da es durch die vielen Maisfelder generell mehr Nahrung gebe, bekämen die Bachen statt einmal mittlerweile zweimal im Jahr Frischlinge.

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