Lütau. Wie eine Großfamilie aus Lütau ihren Alltag in der Corona-Krise meistert. Mehr Mut zur Gelassenheit – auch wenn es schwer fällt.
Zähne putzen, anziehen, frühstücken und dann startklar sein für die erste Schulkonferenz. Das hört sich einfach an, aber so reibungslos dürfte das derzeit in den wenigsten Familien klappen. Lockdown und Homeschoolingfordern Eltern und ihren Sprösslingen einiges ab.
Jeany Schwerdtfeger und ihr Mann haben nicht ein Kind oder zwei, sondern acht. In ihrem Haus in Lütau leben sie mit vier eigenen und vier Pflegekindern – drei Vorschulkinder, vier Schulkinder und ein 19-jähriges Mädchen, das in einer geschützten Werkstatt arbeitet.
Mit acht Kindern wird der Lockdown zur täglichen Kraftprobe
Es ist Montagmorgen. Jeany Schwerdtfeger ist um kurz nach 7 Uhr spät dran. Natürlich hatte sie am Abend zuvor die Sachen für die Kinder rausgelegt, aber aus irgendeinem Grund haben sich diese über Nacht wieder selbstständig gemacht. Und warum verheddern sich Kinderarme immer dann in Pulloverärmeln, wenn die Zeit besonders knapp ist? Vor der Tür hupt das Sammeltaxi, um die Große zur Werkstatt abzuholen. Sie hat noch nicht mal ihre Jacke an.
„Das Druckerpapier ist alle!“, brüllt es aus einem der Zimmer. In ein paar Minuten starten vier Schulkonferenzen gleichzeitig. So gut wie nie klappt die Einwahl im ersten Anlauf. Und dass, obwohl die Familie während des ersten Lockdowns die Internetverbindung im Haus noch einmal ordentlich aufgerüstet hat.
Für Perfektion ist derzeit wenig Spielraum in den Familien
„Unsere Lehrerin hat das aber ganz anders erklärt. Du hast keine Ahnung“, mault die Erstklässlerin und hat keinen Bock mehr, wie sie sagt. Jeany Schwerdtfeger kennt das schon und vermutlich hat die Kleine sogar recht. „Wir Eltern sind keine Lehrer. Die Kinder brauchen ihre Strukturen in der Schule, ihre Klassenkameraden und die Familien dringend eine Pause“, sagt sie.
Normalerweise wissen die Kinder, dass sie nicht verhandeln brauchen, wenn es um gesunde Ernährung oder Fernsehzeiten geht. Jetzt erwischt sich die 35-Jährige immer öfter, dass sie nachgibt. „Darf ich einen Lolli haben?“, fragt der Fünfjährige, um nach dem Nein ein deutliches „Ich will aber!“ nachzuschieben. „Man hört euch in der Konferenz!“, schreit es von oben.
Die WhatsApp-Gruppe der Schule quillt zwischendurch über
„Das sind Situationen, in denen ich dann doch ins Lolli-Glas greife oder die Kleinen vor dem Fernseher parke. Ob die Sendung pädagogisch wertvoll ist oder nicht“, räumt die Mutter ein. Die Zwölfjährige versucht inzwischen vergeblich ihre Matheaufgaben herunterzuladen. Der Link funktioniert nicht. Das haben auch die anderen Eltern gemerkt. 98 Nachrichten sind in der WhatsApp-Gruppe eingegangen.
Was Jeany Schwerdtfeger jetzt braucht? Einen Kaffee! In der Küche steht noch die abgestandene Brühe von heute Morgen.
Viele Eltern fühlen sich in der Corona-Krise allein gelassen
Im ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 hat die Pädagogin ein Netzwerk für Eltern gegründet. Daher weiß sie, dass derzeit viele Familien an ihre Grenzen stoßen. Über Facebook startete sie im vergangenen Frühjahr einen Aufruf.
„Mir liegen all die Familien am Herzen, die in dieser Situation nun ihren Alltag meistern müssen. Ich bin selber Mutter und weiß, dass es eine sportliche Herausforderung ist. Liebe Mamas und Papas, ihr leistet gerade einen großartigen Job! Trotz allem darf und kann es vorkommen, dass wir an unsere Grenze stoßen“, schrieb sie damals.
Das im Frühjahr 2020 gegründete Elternnetzwerk besteht bis heute
Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern hatte sie dann Spenden für Mutmach-Päckchen gesammelt und in ganz Deutschland verschickt. Darin waren kleine Aufmerksamkeiten enthalten: Buntstifte, Malbücher, Duschgel, Essensgutscheine oder auch einfach ein gemaltes Bild der Kinder.
Das Netzwerk der Eltern gibt es noch und die Probleme seien in den Familien nicht kleiner geworden, sagt Jeany Schwerdtfeger. Noch immer sind viele Schulen auf digitalen Unterricht nicht vorbereitet. Und in manchen Haushalten gibt es nicht mal WLAN. „Ganz abgesehen davon, dass die Nerven in vielen Familien einfach blank liegen“, hat sie die Erfahrung gemacht.
Jeany Schwerdtfeger studiert sogar noch nebenbei
Manche Eltern bräuchten nur mal kurz ein offenes Ohr, wollen Tipps für die Erziehung der Kinder oder Spielideen. Wieder andere haben finanzielle Sorgen. „Viele haben das Problem, dass sie auf Kurzarbeit gehen müssen und weniger Geld verdienen“, weiß sie.
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Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen lagen der 35-Jährigen schon immer am Herzen. In ihrer Heimatstadt Berlin hat sie sich schon als Jugendliche in der Arche engagiert, einem bundesweiten Kinder- und Jugendwerk, dass sich um Heranwachsende aus schwierigen sozialen Verhältnissen kümmert. Später hat sie Pädagogik studiert. Vor Kurzem hat sie ein Fernstudium zum Fachgebiet Soziale Arbeit begonnen.
Ihr Tipp: Auch mal alle fünfe gerade sein lassen
Jeany Schwerdtfeger und ihr Mann machen zwischen ihren eigenen und den Pflegekindern keinen Unterschied. „Wir sind eine ganz normale Großfamilie“, sagt die 35-Jährige. Dazu gehöre auch, dass es Tage gibt, die alles andere als rund laufen, gerade in der derzeitigen Krise. „Besonders den größeren Kindern und Jugendlichen wird derzeit viel abverlangt. Sie brauchen Kontakte zu ihren Freunden, sie brauchen den Sport im Verein oder ihre Klassenkameraden“, sagt die Achtfach-Mutter.
Bei allen politischen Corona-Entscheidungen dürfe dies nicht unberücksichtigt bleiben. Jeany Schwerdtfeger ist überzeugt, dass Familien die Situation nur meistern können, wenn sie auch mal alle fünfe gerade sein lassen. Ihr Tipp: „Es ist okay, wenn mal nicht alle Schulaufgaben geschafft oder der Haushalt gemacht ist. Und auch, wenn die Kinder mal länger vor dem Fernseher sitzen, als gut für sie wäre.“