Hamburg. Von Waschzwängen bis zu Suizidabsichten: Es gibt mehr psychiatrische Notfälle in Hamburg. Psychologe kritisiert Mangel bei Beschulung.

Die nun schon fast ein Jahr währende Corona-Pandemie mit immer neuen Einschränkungen macht Kindern und Jugendlichen auch in Hamburg immer stärker zu schaffen. „Seit Beginn der Pandemie verzeichnen wir ein erhöhtes Aufkommen an psychiatrischen Notfällen“, sagten die Chefärztinnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Asklepios Klinikum Harburg Sabine Ott-Jacobs und Meike Gresch dem Abendblatt.

„Es kommen vermehrt Kinder und Jugendliche mit Angstzuständen, schweren Zwangsstörungen und Psychosen in die Notaufnahme. Wir sehen leider auch mehr Kinder und Jugendliche mit suizidalen Absichten.“

Corona-Krise löse bei Kindern Ängste und Zwänge aus

Es sei „nicht überraschend, dass die ständigen Medienberichte über das Virus und die schweren Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen Ängste und Zwänge auslösen“, so die Medizinerinnen. „Sie fürchten sich zum Beispiel davor, ihre Eltern oder Großeltern anzustecken. Oder sie entwickeln Waschzwänge, weil sie es mit der Hygiene zu ernst nehmen.“ Allerdings habe sich der klinische Alltag kaum verändert. Alle Therapien in den stationären und teilstationären (also tagesklinischen) Bereichen fänden „unter den gebotenen Abstands- und Hygieneregeln auch weiterhin statt, auch unsere Klinik-Schule läuft weiter“.

Die Situation ist also angespannt – aber offenbar was die Auslastung der medizinischen Einrichtungen nicht so dramatisch, wie es der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer kürzlich bei „Maischberger“ darstellte, als er von „Triage in der der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ sprach. Der Begriff „Triage“ wird für eine Situation verwendet, in der Mediziner in Notsituationen entscheiden müssen, wer vorrangig behandelt wird, weil nicht genug Kapazitäten für alle zur Verfügung stehen.

Diese Situation gebe es hier bisher nicht, hieß es von Asklepios. Derzeit können Kinder und Jugendlichen, die durch die Pandemie psychisch erkranken, also in Hamburg in der Regel auch behandelt werden.

Mehr Kinder und Jugendliche suchen Psychiater auf

Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE sehe man derzeit keinen besonders großen Andrang, wie die die Forschungsdirektorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ulrike Ravens-Sieberer, dem Abendblatt sagte. „Aber die Uniklinik hat natürlich eine hohe Schwelle. Wer hierher kommt, der war bereits Patient oder dem geht es bereits sehr schlecht.“

Ein Indiz dafür, dass Kinder- und Jugendliche besonders unter dem Lockdown leiden und Hilfe bei Psychiatern suchen, könnten auch Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVHH) aus dem vergangenen Jahr sein. Während im zweiten Quartal 2020 (April bis Juni) die Fallzahlen bei den Ärzten in Hamburg insgesamt deutlich um zwölf Prozent zurückging, stiegen sie bei den Kinder- und Jugendpsychiatern trotz (oder gerade wegen) des Lockdowns im selben Zeitraum um fast fünf Prozent an.

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Auch Psychologen machen zunehmend deutlich, wie schwierig diese Zeit gerade für Kinder und Jugendliche ist. „Es gibt auch in Hamburg deutlich mehr junge Patientinnen und in der Psychotherapie als vor Corona“, sagt Timo Hennig, Diplompsychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Hamburg. „Viele Kinder und Jugendliche kommen mit Angststörungen oder anderen psychischen Problemen. Oft gibt es Konflikte zu Hause, gerade in Familien, in denen es wenig Platz gibt. Das alles trifft die sozial Schwächeren oft noch härter.“

Mehr Probleme mit häuslicher Gewalt in Hamburg

Es gebe auch mehr Probleme mit häuslicher Gewalt „und Jugendämter haben nicht immer die Kapazitäten, um sich sofort um jeden Fall zu kümmern“, so Hennig. „Für Kinder fühlt sich ein Jahr Pandemie und Lockdown viel länger an als für uns Erwachsene. Wenn man sieben Jahre alt ist, bedeutet ein Jahr ein Siebtel des eigenen Lebens.“

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Es sei schade, „dass nicht noch mehr Konzepte entwickelt wurden, wie man die Beschulung auch in der Pandemie sicherstellen kann“, sagte der Psychologe. „Reines Homeschooling ist oft problematisch. In manchen Familien gibt es nur einen Laptop aber mehrere schulpflichtige Kinder. Da müssen manche Kinder mit dem Handy am Unterricht teilnehmen.“

Es fehlten auch die sozialen Kontakte und der Blick von Pädagoginnen und Pädagogen auf die Kinder. „Die Probleme durch die Pandemie betreffen alle Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen“, so das Fazit des Hennigs. „Aber für die jüngeren Kinder scheint mir diese Zeit ganz besonders schwierig zu sein.“